
2 minute read
Gezielte Reizarmut
Szeneabend Gesang 2020
Auf Tempo zu kommen, schnelle und vor allem präzise Bewegungen zu produzieren, die sogar noch ästhetischen Ansprüchen gerecht werden wollen, dafür muss das menschliche Gehirn ein gigantisches Ensemble von 639 Muskeln koordinieren. Unsere Bewegungen können in nicht-bewusstseinsfähige als auch in bewusstseinsfähige unterteilt werden. Letztere wiederum in bewusstseinspflichtige als auch in nicht-bewusstseinspflichtige Anteile. Für die Professur Bewegung an der HfMDK sind nun besonders die nicht-bewusstseinspflichtigen Anteile wichtig. Sie bilden ein zentrales Feld der Körper- und Bewe gungsarbeit und spielen auch im Hinblick auf die Kategorie „Tempo“ eine entscheidende Rolle: Jede Steigerung des Bewegungstempos vermindert den Anteil der bewusstseinsfähigen Anteile. Je intensiver und schneller Reize auf uns einwirken oder wir uns bewegen, umso weniger sind wir in der Lage, Details zu spüren.
Advertisement
Denken Sie daran, wie in Pianissimo-Stellen beim Orchesterkonzert plötzlich jedes Rascheln zu hören ist, während beim Fortissimo komischerweise anscheinend nie jemand hustet. Im stillen Wald, das wäre der erste Fall, an der vielbefahrenen Straße der zweite. Dieser Zusammenhang wurde im Weber-FechnerGesetz beschrieben. Dies besagt, dass der Zusammenhang zwischen einem Stimulus und seiner Wahrnehmung logarithmisch ist: Je größer das Grundrauschen, desto stärker muss sich ein Reiz davon abheben, damit wir ihn wahrnehmen können.
Was für „langsames Üben“ jeder Kunstform selbstverständlich ist, um feinste Nuancen zu erfassen, wird in der Bewegungsarbeit konsequent weitergedacht, um so mit unserer Wahrnehmung in die Tiefen unseres Körpers vordringen zu können. Kleinste Bewegungsaufgaben, gezielte Reizarmut und Wahrnehmungsübungen in Entspannung sind die Wege, um an mehr bewusstseinsfähige Bewegungsmuster zu kommen und dann überhaupt erst damit ästhetisch arbeiten zu können. Bemerkenswert dabei ist, dass die Profis der Bewegung immer ökonomischer werden und unnötige Spannungen (= unnötige Reize) nach und nach abbauen.
Dieser Prozess der zunehmenden Geschmeidigkeit ist nicht zu unterschätzen, denn er ermöglicht wiederum verbesserte Wahrnehmungsfähigkeiten nach dem Weber-FechnerGesetz. Leider sind unnötige Muskelaktivierungen nicht nur Folge ungeübter Bewegungsabläufe, sondern nicht selten ein Resultat von Übermüdung: Ist das Nervensystem überlastet, „fährt“ insbesondere die tiefliegende Haltungsmuskulatur in der Spannung dauerhaft hoch.
Was zunächst wie ein reines Gesundheitsproblem wirkt, ist aber bei näherer Betrachtung auch ein ästhetisches Mal heur. Denn die Zunahme an tiefliegender Muskelspannung geht einher mit einer Abnahme an differenzierter Wahrnehmungsfähigkeit. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit wird aus dieser Perspektive zu einem leidenschaftlichen Plädoyer für die Feinarbeit an den künstlerischen Wahrnehmungen. → Prof. Dr. Ulf Henrik Göhle hat seit dem Sommersemester 2020 die Professur für Bewegung in der Abteilung Gesang/Musiktheater inne. Zuvor war er Professor für Gesundheitspädagogik an der IB-Hochschule in Stuttgart. Göhle ist Diplom-Musiklehrer und Motologe (M.A./Dr. phil.). Die Motologie beschäftigt sich als Wissenschaft mit der Verbindung zwischen Psyche und Bewegung. Seit Januar ist er auch Vorstand der Wissenschaftlichen Vereinigung Psychomotorik und Motologie.