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Ich kann mich im Restaurant aucherst dann entscheiden, wenn der Kellner hinter mir steht

Eigentlich ist er es ja, der Menschen interviewt: Werner D’Inka, Journalist und lange Jahre einer der Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.WirwolltendieSituationumdrehenundkonntenihnzumGespräch gewinnen – über seine Erlebnisse mit Zeit und Tempo. Uns interessierte, wie Werner D’Inka diese Beschleunigung erlebt, wie er mit permanentem Termindruck umgeht: dem Redaktionsschluss, der Tagesaktualität, aber auch mit den Veränderungen durch die Digitalisierung in den Online-Redaktionen, die Nachrichten im Minutentakt produzieren. Was hat sich seiner Beobachtung nach verändert? Und was macht dies mit den Journalistinnen und Journalisten, der Gesellschaft? Wir treffen einen Menschen, der lieber aus der Kulisse heraus beobachtet, als selbst im Lampenlicht zu agieren.

WERNER D’INKA IM GESPRÄCH MIT ELMAR FULDA DOKUMENTATION: BJÖRN HADEM

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Fulda: Der rasende Reporter ist, nach einem Buchtitel von Egon Erwin Kisch, das Klischee des Journalisten. Wie ist Ihr Tempo? D’Inka: Tagesjournalisten sind per se gewohnt, mit Zeitknappheit zurechtzukommen und ein hohes Tempo anzuschlagen. Die modernen technischen Hilfsmittel kommen uns dabei enorm entgegen. Die Tempo-Erwartungen in der Online-Welt sind hoch. Aber da die Menschheit nichts vergisst, was sie einmal erfunden hat, können und sollten wir uns nicht in den Zustand der Vorinternet-Zeit zurückträumen. Wir wollen trotz Zeitdruck täglich etwas abliefern, von dem wir glauben, man könne damit vor die Augen des Publikums beziehungsweise der Leserschaft treten. Künstler kennen dieses Gefühl, nie genügend Zeit zu haben, um einen perfekten Auftritt hinzulegen. Hatten Sie am Anfang Ihres Berufslebens gefühlt mehr Zeit als heute? Ich glaube nicht. Im Journalismus neigt man zum einen eh dazu, alles auf den letzten Drücker zu erledigen. Zum anderen passt sich die Zeitplanung auch den technischen und medialen Möglichkeiten der Zeit an. Sind Sie eher von der Sorte Früh- oder Spätentscheider? Tendenziell treffe ich Entscheidungen erst dann, wenn sie unausweichlich sind (lacht) – auch aus der Erfahrung heraus, dass sich manches noch einmal anders darstellt, wenn Gedanken ein wenig reifen können. Da bewegen Sie sich auf wissenschaftlich gesichertem Grund. Ein israelisches Forscherteam hat Versuchskandidaten schwierige Aufgaben lösen lassen. Das bemerkenswerte Ergebnis war: Diejenigen, denen es eine zeitliche Deadline gesetzt hatte, schnitten in den Resultaten besser ab als jene, die kein Zeitlimit kannten. Die Getriebenen erwiesen sich als konzentrierter denn die, die ihre Ressourcen nicht zeitlich einteilen mussten. Das kenne ich von mir selbst: Ich kann mich im Restaurant auch erst dann entscheiden, was ich bestellen möchte, wenn der Kellner hinter mir steht. Rasend im Job. Und privat? Wie ist da Ihr Tempo? Deutlich verlangsamt und mit reduzierter Schlagzahl. Ich halte es für unwesentlich, ob man um halb vier oder halb acht beginnt, den Keller aufzuräumen. Im Berufsleben liegen derweil Welten zwischen diesen Uhrzeiten. Haben Sie für sich Mechanismen entwickelt, um aus der Mühle permanenter Betriebsamkeit auszusteigen? Durchaus, ja – zum Beispiel, indem ich schlicht und einfach „offline“ gehe und das Smartphone beiseitelege. Radio höre ich privat kaum – außer beim Autofahren. Zu Hause kann ich es gut ohne Medien aushalten, auch ohne Fernsehen. Von der Politik wird erwartet, zu jedem Moment sprechfähig zu sein, obwohl es eigentlich nichts zu sagen gibt. Was macht das mit den Politikern, wie hat sich Politik verändert? Es verändert zunächst die Kommunikation und dadurch wahrscheinlich auch Politik. Diese Tatsache wird von vielen beklagt, ohne dass jemand etwas daran ändert. Ich gebe zu bedenken: Ist es nicht sogar besser, wenn sich Politikerinnen und Politiker vor einem Statement Zeit dafür nehmen, sich in Ruhe ein Bild zu machen? Sigmar Gabriel sagte mir neulich, dass Politiker nicht nur überlegen müssten, was sie sagen, sondern wie das Gesagte in der Öffentlichkeit ankomme und was andere daraus machen. Diese Vorsicht führe dazu, dass Politikerinnen und Politiker in eine KommuniquéSprache verfallen, die möglichst unangreifbar ist. Wie würden Sie es empfinden, wenn jemand die Bundeskanzlerin befragt und sie entgegnet, dass sie die Antwort noch nicht kennt? Die Reaktionen darauf zu analysieren, wäre interessant. Vielleicht steigt sie mit einer solchen Haltung im Ansehen. Die Leute nehmen durchaus wahr, dass Politikerinnen und Politiker oft in Sprachschablonen sprechen. Wann kam bei Ihnen der Wunsch auf, in den Journalismus zu gehen?

„Ich möchte den Menschen diese Sorge gern nehmen. Sie sollen wissen, dass es in der Kunst kein Richtig oder Falsch gibt. Man muss nicht jeden Feuilleton-Artikel verstehen, um Kunst intensiv erleben zu können“

Relativ spät, es dämmerte mir als Oberstufenschüler. Mein „Erweckungserlebnis“ war, als ich als Schülersprecher einen Leserbrief an die „Badische Zeitung“ geschrieben hatte, worauf die Redaktion aus Lörrach anrief und mich zu einem Gespräch einlud. Als ich bei dieser Gelegenheit dann Näheres über den Beruf des Journalisten erfuhr, war mein Feuer entfacht. Und warum haben Sie sich langfristig für das Medium Zeitung entschieden? Diese Entscheidung fiel nach ausgiebiger Beschäftigung mit den damals „neuen Medien“ wie Bildschirmtext, Videotext und auch Fernsehen: Ich gehörte jener kleinen Redaktion an, die am 1. Januar 1984 die erste Fernsehnachrichten-Sendung produzierte, die nicht von ARD und ZDF, also den Öffentlich-Rechtlichen, kam – es war genau die Geburtsstunde des Privatfernsehens. Dabei sammelte ich auch vor der Kamera Erfahrung, merkte aber bald, dass mir das Schreiben mehr liegt. Ich fühle mich wohl, wenn ich mit meinem Schreibblock unauffällig in der Ecke stehen, beobachten und die Situation aus der Distanz analysieren kann. Daraus zog ich die Konsequenz, dauerhaft zur gedruckten Zeitung zu wechseln. Wie funktioniert das Blattmachen? Sitzt man morgens vor einem leeren Blatt Papier – und abends ist dann die ganze Zeitung vollgeschrieben? Im Prinzip schon. Zeitungen liefern jeden Tag ein neues Produkt – im Unterschied zum Industriebetrieb, der ein einmal entwickeltes Modell in möglichst großen Stückzahlen herstellt. Dass wir gestern eine ganz brauchbare Zeitung gemacht haben, hilft uns heute nur sehr mittelbar – abgesehen davon, dass noch nicht verarbeiteter Stoff vom Vortag übriggeblieben ist. Diese Tatsache, jeden Tag gleichsam bei null anzufangen, schafft permanenten Zeitdruck. Doch Erfahrung ist mehr als die halbe Miete und verhilft zu professioneller Gelassenheit. Es gilt zu planen, was sich planen lässt, um sich genügend Flexibilität für das Unplanbare zu erhalten. Und das reicht vom plötzlichen Rücktritt eines Ministers bis hin zu Naturkatastrophen. Die weißen Blätter der Redakteurin oder des Redakteurs sind für die performativen Künstler vielleicht die Momente vor dem Auftritt: Selbst wenn Abläufe in der Musik und auf der Bühne klar sind, ist der Erfolg von gestern eine schöne Erfahrung, aber kein Garant für die nächste Vorstellung. Die eigene Kunst muss jeden Abend neu errungen, mit Inspiration und Leben erfüllt werden. Diese Einsicht kann auch etwas Tröstliches haben, weil man eine neue Chance bekommt, Dinge, die am Vorabend schiefgingen, heute besser zu machen. Ganz früher hat es Wochen oder Monate gedauert, bis eine Nachricht übermittelt wurde. Heute sind wir über die sozialen Medien in Echtzeit dabei, wenn etwas passiert. Was sind aus Ihrer Sicht Chancen und Risiken der Digitalisierung? Chancen liegen darin, dass sich die Meinungsvielfalt im öffentlichen Diskurs verbreitert hat. Dass vor allem online nicht mehr nur Journalisten publizieren, empfinde ich nicht als Bedrohung, sondern auch als einen sportlichen Wettstreit. Verändert es die Welt, wenn jeder in der Lage ist, ungefiltert weltweit Nachrichten zu verbreiten? Das ist die 1-Million-Dollar-Frage. Wäre ernstzunehmender Journalismus nicht mehr als nur eine Do-it-yourself-Beschäftigung, der jeder nachgehen kann, bräuchten wir keine Journalistenschulen, Hochschulstudiengänge und Volontariate. Der Beruf verlangt Voraussetzungen, die man wie ein Musikinstrument zu beherrschen lernen kann. Aber auch charakterliche Eigenschaften sind wichtig: Hobby und Liebhaberei von öffentlichen Angelegenheiten zu trennen, Nachricht von Meinung zu unterscheiden, verschiedene Sichtweisen einzuholen und objektiv nebeneinander zu stellen.

Die Unmittelbarkeit von Erfahrungen, wie sie im Netz durch Amateure verbreitet werden, kann zum Problem werden, wenn die Nachrichtenüberbringer selbst Aktivisten und Beteiligte sind. Wir müssen uns dieser Entwicklung stellen und klarmachen, warum wir Profis ein überzeugenderes Angebot haben, indem wir keine Propagandisten sind. Noch immer gibt es den wohl abgewogenen Leserbrief. Aber durch die Digitalisierung ist die Rückmeldung der Leserinnen und Leser viel schneller und direkter geworden, auch lebendiger. In jedem Fall, aber auch anstrengender. Und beglückend ist der Dialog nicht immer – oft sogar erschreckend, wenn ich an viele Kommentare denke: Sie legen mitunter den ganzen Sumpf an Ressentiments in der Bevölkerung offen. Ich glaube, dass es schon immer Pöbler gegeben hat, doch die blieben in der Öffentlichkeit ungehört und machten ihrer Empörung vielleicht am Stammtisch in der Kneipe unter Freunden oder im Speakers’ Corner des Londoner Hyde Parks Luft. Heute erreichen genau diese Menschen im World Wide Web ein Millionenpublikum. Jeder kann zum Sender werden. Gänzlich unangenehm wird es, wenn dieser „Pool“ an Meinungsäußerungen biologisch umkippt. Viele Redaktionen beschäftigen eigens Mitarbeiter, die die justiziablen Teile der geposteten Kommentare herausfiltern wie in einem Klärwerk. Relativiert sich der Wert einer Schlagzeile angesichts dieser Informationsflut? Ja und nein: Ich meine zu beobachten, dass es eine Renaissance der Relevanz gibt, eben weil die Welt immer vielstimmiger wird. In Anbetracht dessen finden es Leser, Hörer und Zuschauer gut, wenn es Fährmänner oder Lotsen gibt – also professionelle Journalistinnen und Journalisten, die sie durch diese Polyphonie der Darstellungen hindurchleiten. Wie erarbeitet und erhält sich ein Journalist das Vertrauen seines Publikums? Durch solides und seriöses Arbeiten, was auch bedeutet, sich nicht jeder Mode anzuschließen – und wissend, dass man nicht fehlerfrei ist. Aber wenn in der Summe der Eindruck entsteht, dass ein Journalismus seine Empfänger nicht tendenziös in eine Richtung lenken will, stellt sich Vertrauen ein. Ist dieses Vertrauen messbar? Schwer: Anteilig sicher an Auflage und Einschaltquote, aber auch an persönlichen Reaktionen. Ich freue mich, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach einem von uns veranstalteten Bürgergespräch sagen: „Sie haben mich zwar nicht argumentativ überzeugt, aber ich finde es prima, dass Sie einer großen Breite an Stimmen Raum gegeben haben.“ Es ist ja schon eine Qualität an sich, dass sich Menschen in einer Welt, in der so viele Informationen über Algorithmen entstehen, bewusst einer gegenteiligen Meinung aussetzen.

Genau das sorgt mich: Die Zahl derer, die dazu bereit sind, nimmt meiner Beobachtung nach ab. Ich fürchte, dass sich immer mehr Menschen wohlfühlen, wenn sie nur von ihresgleichen umgeben sind. Diese Isolationstendenz aufzubrechen, halte ich für eine große Herausforderung. Genau deshalb veranstalten Zeitungen Schulprojekte: um den jungen Menschen vor Augen zu führen, dass die Welt dort draußen größer ist als sie annehmen. Werden die digitalen Angebote die gedruckte Zeitung irgendwann komplett ablösen? Das glaube ich nicht, wenngleich offensichtlich ist, dass die Printabonnenten-Zahlen fast überall rückläufig sind. Meine These ist: Die Nutzungsformen werden sich noch stärker ausdifferenzieren. Aber es ist überhaupt noch kein Medium verschwunden, denn die Mediengeschichte ist bisher immer rein additiv verlaufen, das Bestehende hat sich lediglich angepasst. Das Kino ist ja auch nicht ausgestorben, weil es irgendwann das Fernsehen gab. Was haben Sie sich für Ihren gerade beginnenden Ruhestand vorgenommen? Jedenfalls nicht, dass ich das Berufsleben mit anderen Mitteln fortsetze. Ich versuche zunächst, alle Anfragen von außen freundlich zurückzustellen, um die neue Lebensphase auf mich wirken zu lassen. Ansonsten: Entschleunigen und die neue Perspektive auf das Leben genießen. Was heißt das für den, der ein Leben lang geschrieben hat? Zum Beispiel viel zu lesen, auch nicht-journalistische Texte: gern Belletristik, auch Krimis zur Entspannung, auch mal Lyrik. Es kann aber auch ein historisches Sachbuch sein oder eine Expertise über Weinbau. Ich bin gar nicht auf Autoren oder Genres festgelegt, im Gegenteil: Ich lasse mich von Buchrezensionen inspirieren. Und die morgendliche Lektüre der Zeitung, die nun Sie nicht mehr verantworten? Die bleibt unverzichtbar, für mich übrigens analog, also in gedruckter Form. Ich gehöre zu der Generation, die Gedrucktes konzentrierter und intensiver erfassen kann als über einen Bildschirm. Aber das ist Trainingssache und stellt sich bei der jüngeren Generation wahrscheinlich schon anders dar. Eine Zeitungslektüre mit Wehmut über zu Ende Gehendes? Nein: Hoffentlich mit der optimistischen Gelassenheit, mit der ich im Beruf gelernt habe, gut ausgesuchten Journalistinnen und Journalisten der jüngeren Generation die Zukunft anzuvertrauen. Und gesellschaftlicher Wandel hin oder her: Die Grundqualitäten des Journalismus sind zeitlos. Und da bleibe ich auch als Ruheständler begeisterungsfähig, sei es für hintergründige Reportagen oder kluge Kommentare - oder eine schlichte Nachricht, wenn sie gut geschrieben ist. Was heißt für Sie gut? Im Journalismus ganz einfach: präzise, prägnant und glaubhaft.

Werner D’Inka (65) ist Journalist. Er studierte Publizistik, Politik und Geschichte an den Universitäten Mainz und Berlin, kam 1980 zur „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ – und blieb. Bis 1986 war er zunächst im Ressort „TeleF.A.Z.“ tätig, arbeitete als Redakteur auch an der ersten Nachrichtensendung im deutschen Privatfernsehen mit (1984). Nach seinem Wechsel zur gedruckten Zeitung wurde er 1991 deren Chef vom Dienst, 2005 folgte die Berufung ins Herausgebergremium der Zeitung. Seit Ende März 2020 ist er im Ruhestand.

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