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Der Biograf mit dem Zeichenstift
Historisches Erzählen aus ungewöhnlicher Perspektive Von Christine Vogt
Abb. 7: unvollendete Seite einer frühen Version von drüben!, Zeichentusche und Gouache auf Papier, 210x297 mm, 2007
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Schaut man sich in der deutschen, oder auch in der internationalen Comic- und Graphic Novel-Szene um, findet sich wohl kein zweiter Autor und Zeichner, der sich den historischen Begebenheiten auf so ungewöhnlichen Wegen nähert wie Simon Schwartz. Immer sind es beteiligte Personen, die die Ereignisse schildern. Doch nicht die großen und bekannten Namen aus der „ersten Reihe“ der Geschichtsschreibung berichten was vorgefallen ist, sondern die Unbekannten, die oft – zunächst – passiv Beteiligten, die in den Strudel der geschichtlichen Entwicklungen geraten. Anders als die in den 1960er Jahren ausgerufene „Geschichte von unten“1, in der die Alltagsgeschichte aus Sicht
der Unterdrückten und Diskriminierten erzählt und berücksichtigt werden soll, nimmt sich Simon Schwartz „normale“ Menschen vor, die ungewöhnliche Dinge erlebten oder daran beteiligt waren. Letzteres ist wohl in erster Linie der Fall, da es ein Mitwirken der Dargestellten und ein Lenken innerhalb der historischen Ereignisse selbstverständlich gibt. Nicht der hilflos Ausgelieferte wird geschildert, sondern der in den Sog der Geschehnisse Geratene, der aber sehr wohl eigenes Handeln an den Tag legt. Sein, wie sich herausstellen soll, sehr erfolgreiches Debüt2 gibt Simon Schwartz 2009 als Abschlussarbeit des Studiums in Hamburg mit der autobiografischen Erzählung drüben!. Schon vorher hat er als Comiczeichner gearbeitet, so beim ostdeutschen Magazin Mosaik, wo es durchaus – fiktiv angelegte – Geschichten mit historischen Themen gab und gibt.3 Der Einfluss der Figurensprache von Hannes Hegen und seinen Nachfolgern lässt sich außerdem in seinen Bildern finden.4 Die eigentliche Beschäftigung mit biografischen Historien beginnt bereits in jungen Jahren,5 führt aber erst am Ende seines Studiums zu einer gezeichneten Reflektion. Schon früh entwickelt Simon Schwartz ein Faible für die eigene Familiengeschichte.6 Und so war die Ursprungsidee auch, gleich ein ganzes Epos zu schreiben, beginnend um 1850 und endend in der Gegenwart. Schnell stellt sich heraus, dass dieser Ansatz für eine Diplomarbeit zu ambitioniert ist. Aus der Beschäftigung mit den Großeltern väterlicherseits, die den Kontakt zur Familie nach dem Weggang nach Westdeutschland abbrechen, kristallisiert sich ein prägendes Kapitel der Familiengeschichte als umsetzbar heraus. Schwartz erzählt „von der schwierigen Entscheidung seiner Eltern, Anfang der 1980er Jahre die DDR für immer zu verlassen. Damit opponieren beide nicht nur gegen die allgegenwärtige Diktatur des Arbeiter- und Bauernstaates, sondern zwangsläufig auch gegen Mitglieder der eigenen Familie und ihrer Herkunft.“7 Erste Quelle dieser Erzählung sind Gespräche. „Dazu hat sich Simon Schwartz etliche Stunden mit seinen Eltern und Großeltern hingesetzt und sie über das Gestern ausgequetscht. Denn im Zentrum ging es ihm um die Frage, was Mama und Papa dazu be-
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Abb. 8: verworfenes Cover zu drĂźben!, Zeichentusche und Gouache auf Papier, 297x420 mm, 2008
Abb. 17: Mosaik #333, Seite 52 (Rückseite), Zeichentusche und Gouache auf Papier, 330x460 mm, 2003 Japanische Polizisten: Simon Schwartz; Mann mit Melone: Andreas Pasda, Hintergrund: Andreas Schulze
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Mosaik 2002-2004
Das traditionsreiche Comicmagazin Mosaik übte auf Simon Schwartz schon von klein auf eine große Faszination aus. Das Heft wurde 1955 in der DDR von Johannes Hegenbarth unter dem Pseudonym Hannes Hegen gegründet. Seit seinem Erscheinen ist es nicht mehr aus dem kollektiven DDR-Gedächtnis, aber auch aus der gesamtdeutschen Comicgeschichte wegzudenken. Durch einen Freund seiner Eltern, der wie Schwartz’ Familie Anfang der 1980er aus der DDR ausgereist war und nichts außer seiner kompletten Mosaik-Sammlung mit nach West-Berlin genommen hatte, kam Simon Schwartz als Kind erstmals mit dem Heft in Kontakt.
Nach dem Abitur begann Simon Schwartz 2002 zunächst ein Praktikum in der Redaktion von Mosaik in Berlin und wurde nach einem halben Jahr angestellt. So zeichnete er fortan diverse Neben- und Hintergrundfiguren und entwarf auch ein paar Cover. Obwohl Schwartz in dieser Zeit viele handwerkliche Aspekte des traditionellen Comiczeichnens lernte, fühlte er sich durch die Arbeitsweise bei Mosaik, die keine individuelle Handschrift zuließ, künstlerisch bald immer mehr eingeengt. Nach fast zwei Jahren verließ er Mosaik und begann 2004 das Studium der Illustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg.
Abb. 18: Mosaik-Redaktion: (v.l.n.r.) Niels Bülow, Jens Fischer und Simon Schwartz, Fotografie, 2002
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Abb. 19–20: Mosaik #333, Seite 50–51, Zeichentusche und Gouache auf Papier, 330x460 mm, 2003 Japanische Polizisten: Simon Schwartz; andere Figuren: Jens Fischer, Andreas Pasda & Thomas Schiewer; Hintergrund: Andreas Schulze
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Abb. 24: Ausschnitt „Die Unschuld“ Seite 4, digitale Datei, 2005 Abb. 25–28: „Die Unschuld“ Seite 1–4, Zeichentusche und Gouache auf Papier, 297x420 mm, 2005
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Abb. 39: drĂźben! Seite 34, Zeichentusche und Gouache auf Papier, 210x297 mm, 2008/09
Abb. 40–42: Erste Passfotos von Simon Schwartz und seinen Eltern in West-Berlin, Fotografien, 1984
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Abb. 43–44: Storyboard für drüben! Seite 10–11, Kugelschreiber, Marker und Bleistift auf Papier, 210x297 mm, 2008
Abb. 45: drüben! Seite 10, Zeichentusche und Gouache auf Papier, 210x297 mm, 2008
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Abb. 115: Cover der Buchausgabe Vita Obscura, Zeichentusche und Gouache auf Papier, 420x297 mm, 2014
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Abb. 119: Vita Obscura: James Barry, Mischtechnik, 310x220 mm, 2016 Abb. 120: Vita Obscura: Le Pétomane, Zeichentusche und Gouache auf Papier, 420x297 mm, 2013
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Abb. 127–128: Blutige Kohle Teil 4 & Teil 5, Zeichentusche, Aquarell , Gouache und Rasierklinge auf Papier, 400x300 mm, 2014
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Abb. 149: Tor der Morgenrรถte, Acrylfarbe, Zeichentusche, Buntstift und Bleistift auf Holz, 210x297 mm, 2017 Abb. 150: IKON Seite 108, Buntstift, Zeichentusche und Gouache auf Papier, 210x297 mm, 2016