„An barbarische Rückfälle, wie Kriege zwischen den Völkern Europas, glaubte man so wenig wie an Hexen und Gespenster; beharrlich waren unsere Väter durchdrungen von dem Vertrauen auf die unfehlbar bindende Kraft von Toleranz und Konzilianz. Redlich meinten sie, die Grenzen von Divergenzen zwischen den Nationen und Konfessionen würden allmählich zerfließen ins gemeinsame Humane und damit Friede und Sicherheit, diese höchsten Güter, der ganzen Menschheit zugeteilt sein.“ Stefan Zweig - Die Welt von Gestern (1941)
„Wie viele Opfer, wie viel Blut und wie viel Schmerz sind mit den Grenzen verbunden!“ Ryszard Kapuściński - Imperium (1993)
Nach zwei schrecklichen Kriegen, mehr als 60 Millionen Toten und ebenso vielen Millionen Geflüchteten marschierten die Alliierten triumphal durch die europäischen Städte. Und erstmals in seiner Geschichte war sich Europa einig: Der Frieden würde nur von Dauer sein, wenn sich die Länder vereinten, die jahrhundertelang Blut vergossen hatten.
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Die großen Männer hielten ihre Reden. Winston Churchill, der politische und moralische Urheber des Sieges über die Nazis, verblüffte die Welt 1946 von der Universität Zürich aus mit einer revolutionären Idee.
„Wäre jemals ein vereintes Europa imstande, sich das gemeinsame Erbe zu teilen, dann genössen seine drei- oder vierhundert Millionen Einwohner Glück, Wohlstand und Ehre in unbegrenztem Ausmaße. Wir müssen die europäische Völkerfamilie in einer regionalen Organisation neu zusammenfassen, die man vielleicht die Vereinigten Staaten von Europa nennen könnte. Der erste praktische Schritt wird die Bildung eines Europarates sein. Bei all diesen dringenden Aufgaben müssen Frankreich und Deutschland zusammen die Führung übernehmen. Großbritannien, das britische Commonwealth, das mächtige Amerika, so hoffe ich wenigstens, Sowjetrussland – denn dann wäre tatsächlich alles gut – sollen die Freunde und Förderer des neuen Europa sein und dessen Recht, zu leben und zu leuchten, beschützen. Darum sage ich Ihnen: Lassen Sie Europa entstehen!“
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Und der Traum von einem vereinten Europa wurde wahr. So entstand die Europäische Union, die größte Freiheitsstätte der Erde.
Ein sicherer Raum. Geordnet. Solidarisch. Geschützt von einem Wohlfahrtsstaat, auf den man stolz sein konnte.
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Der große Wirtschaftsmotor der Welt.
Ein üppiger Garten, in dem die Geschäfte gedeihen konnten.
Er beherbergte 500 Millionen Menschen, die frei von einem Land ins andere reisen konnten. Man gab sich sogar eine einheitliche Währung: den Euro.
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Aber mit der Einheitswährung lief es nicht so gut wie erwartet.
Eine große Wirtschaftskrise erschütterte Europa 2008 und brachte die Nähte des Kontinents zum Vorschein.
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Die Völker empörten sich und gingen gegen ihre Regierungen auf die Straße. In Spanien hatte es schon lange keine so großen Demonstrationen mehr gegeben wie im Mai 2011.
Die Welle der Empörung war jedoch größer, als viele meinten. Die Proteste nahmen auch außerhalb von Europas Grenzen zu.
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Sie breiteten sich im Maghreb und im Nahen Osten aus. Diese Demokratie-Explosion wurde im Westen begrüßt. Wir bezeichneten die Proteste als den „Arabischen Frühling“.
Es fielen die totalitären Regime von Ben Ali in Tunesien, Mubarak in Ägypten und Gaddafi in Libyen.
Millionen von Menschen flohen vor der Waffengewalt und fanden Zuflucht in Tunesien, das alles Erdenkliche zur Bewältigung der Krise tat.
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Im Oktober 2013 ertranken 366 BootsflĂźchtlinge vor der KĂźste von Lampedusa.
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