Am Anfang ist da ein Wald ...
Der Wald Schneewittchens ...
Oder der Caspar David Friedrichs.
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Mitten in diesem Wald sitzt ein Junge und zeichnet.
Wenn er zeichnet, steht die Zeit still und die Welt um ihn herum hรถrt auf zu existieren.
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Vierzig Jahre sind vergangen. Der Junge zeichnet noch immer, aber die Welt um ihn herum hat sich verändert.
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Laut Berichten des Weltklimarats dürfte die Erdtemperatur bis 2100 um 4,8 oC steigen ... Die 300 reichsten Menschen der Schweiz konnten ihr Vermögen um 24 Milliarden steigern - und das trotz der Krise ...
Warum diese Melancholie, oder vielmehr dieser Ekel?
Mein Leben ist ziemlich komfortabel, also warum diese Ernüchterung ...
Ha! Ha! Ha! Goldorak, du kannst uns nichts anhaben, wir sind die Herrscher der Welt!
... und dieses Gefühl der Dringlichkeit? Wasser ist kostbar ...
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Blablabla, das wissen wir, Papa!
Es mangelt nicht an Konflikten und Ungerechtigkeiten ...
Selbst in einer der ältesten Demokratien der Welt. Wie wär's, wenn wir eine weitere Abstimmung gegen die Ausländer vorschlagen? Tolle Idee, Heidi!
Die größte Partei meines Landes ist rassistisch, reaktionär und isolationistisch.
Sie gewinnt fast alle Initiativen, die sie als Referendum ausruft, mit demagogischen und altbackenen Reden.
Warum dieser Überdruss, dieses Bedürfnis abzurechnen? Seit einigen Jahren habe ich eine entsetzliche Lust, gegen meine Epoche zu rebellieren.
Das ist normal, mit der Zeit verstehen wir, wie die Dinge so laufen und das beschäftigt uns, weil wir uns mit unserem Schicksal nicht abfinden wollen. Zumindest noch nicht.
Jeder hat die Wahl: entweder die Augen schließen und sein kleines bequemes Leben fortführen oder aktiv werden. Widerstand leisten, jeder mit seinen bescheidenen Mitteln. 11
Wie wird man aktiv? Um mich herum haben sich einige zusammengetan, um gemeinsam f체r Ver채nderungen zu k채mpfen. Ich schaffe es gerade mal, mir ein paar Fragen zu stellen ...
Wie zum Beispiel: Warum mochte ich immer lieber Soul statt Rock?
Warum war ich nie ein Freund von Zahlen?
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Warum mag ich die tragischen Momente im Kino?
Warum arbeitet meine rechte Gehirnh채lfte mehr als die linke?
Warum habe ich auf dem Flohmarkt diesen lächerlichen Porzellanfisch gekauft?
Woher kommt meine Faszination für diese winzigen Zeichen des Göttlichen?
Feder eines Eichelhähers
Warum diese Landschaft, diese Felder und Wiesen?
Und warum kann mich ein vor 150 Jahren gemaltes Bild so tief berühren? Das sind ziemlich viele Fragen für eine Einleitung.
Das blinde " Mädchen" von John Everett Millais
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Wie sollte ich darüber sprechen, wer ich heute bin, ohne die kleinen Dinge, die meinem Leben als Zeichner vorangegangen sind, zu erwähnen?
Ich weiß, dass jeder Strich ein bisschen von diesen Erinnerungen in sich trägt.
Wenn ich in den kahlen Bergen Alaskas aufgewachsen wäre, hätte ich dann genauso viel Spaß daran, Bäume, Stämme und Äste zu zeichnen?
Diese Geschichte beginnt eigentlich in den 60er Jahren, in einem Land, das den Belcanto, die Kastraten und die Perspektivzeichnung erfunden hat.
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1965 ist mein Vater 25 Jahre alt und Fellini hat bereits La Dolce Vita" gedreht. "
Mein Vater spricht laut, singt viel und arbeitet als Statist in der Cinecitta ` für Ben Hur". "
Er heißt Antonio, aber man nennt ihn Tonino.
Er isst Brot zu Nudeln und macht Eiswürfel in seinen Wein.
Kaum hat er sie gesehen, verliebt er sich in diese Schweizerin, die in Rom Urlaub macht.
Er lernt meine Mutter in dem Hotel kennen, wo er als Rezeptionist arbeitet.
Sie heißt Jacqueline und ihr neuer Haarschnitt lässt sie ein wenig wie Audrey Hepburn aussehen ...
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Willkommen in der ewigen Stadt! Der Stadt der Leidenschaft!
Zimmer Nr. 8. Die Zahl der perfekten Union.
Grazie.
Specially for you, signorina ...
Göttlich, wie sie die schönste Sprache der Welt sprechen!
Ich fühle, dass Sie Rom lieben werden. Una cigaretta?
Sie haben einen charmanten Akzent.
Und Dante, Die Göttliche " Komödie", haben Sie es gelesen?
Ähm ... Si, grazie. Michelangelo, Caravaggio, Bernini ... Diese Stadt hat die Größten inspiriert.
Wer ist der eine " der ohne Tod das denn, Reich des toten Volkes so durchwandert? Vorsorglich gab mein Führer zu erkennen, dass er geheim mit Ihnen reden wollte."
Gut ... Ich lasse Ihnen Ihr Gepäck und einen Kaffee hochbringen.
Molto gentile.
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Unter die Kaffeetasse legt mein Vater einen Zettel, auf den er folgendes geschrieben hat:
Hallo, Mama?
Ja, ich bin gut angekommen ... Stell dir vor, ich hab schon einen Verrückten getroffen ... Ja, ein Italiener ...
Wenn Liebe " Sünde ist, eine lass mich dein Sünder sein" ...
Kennen Sie die Via Appia?
Nicht? Darf ich das Fräulein bitten, Platz zu nehmen?
Er muss ihr die ganz große Show `a la Vittorio Gassman (sein damaliges Idol) in Verliebt in scharfe Kurven" von Dino Risi geboten haben. " 17
Ich seh die beiden vor mir, wie sie an den Stränden von Ostia flirten. Er, der große stürmische Bursche, und sie spielt die Schüchterne, um ihm zu gefallen.
Ich seh sie auf der Via Appia Antica im Schatten der Ruinen Maxentius' knutschen.
Es ist immer komisch, sich seine Eltern leidenschaftlich und unzüchtig vorzustellen. Ob sie sich in einer versteckten Ecke der Villa Borghese geliebt haben?
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Sie heiraten 6 Monate später. Meine Mutter trägt kein Weiß in der Kirche, denn ich bin in ihrem Bauch.
Er ist 25 Jahre alt. Sie 29.
Meine Großmutter ist zur Trauung gekommen. Ein Kollege meines Vaters macht ihr den Hof.
Großvater Max ist in Lausanne geblieben. Er ist verärgert, dass seine Tochter einen "Spaghettifresser" ehelicht.
Ich werde am 23. April 1966 geboren.
Meine Eltern ziehen außerhalb Roms in einen von Feldern und Brachen umgebenen Wohnkomplex.
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Von ihrem Balkon aus sieht man Kühe, Schafe und die Kuppel des Petersdoms.
In manchen besonders heißen Nächten schläft mein Vater auf dem Balkon.
Aber meistens arbeitet er nachts im Hotel, weshalb er tagsüber viel Freizeit hat.
Mein Vater hat eine kräftige Baritonstimme und singt den ganzen Tag.
Er singt lauthals und muss sich ducken, um in seinen neuen Fiat 500 zu passen.
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Ich muss dazusagen, dass mein Vater ein Koloss von beinahe 2 Metern mit Schuhgröße 46 ist!
Mit 20 Jahren spielt er für Rom in der ersten Basketball-Liga.
Mein Vater hat nicht studiert und beginnt früh zu arbeiten - wie viele Jugendliche aus einfachen Verhältnissen in der Nachkriegszeit. In seiner Freizeit nimmt er Operngesangsunterricht bei einer 120 Kilo schweren Lehrerin. Er träumt von den größten Bühnen und spart Geld, um eine Single aufzunehmen.
Er erinnert sich an seine Kindheit, als sein Vater Arturo die ganze Familie auf die Mauern der antiken Caracalla-Thermen hievte.
Hier, Lucia, nimm das Picknick!
Im Sommer führte man hier die Klassiker des italienischen Belcanto wie Aida auf. Schau mal, Tonino, da sind Elefanten auf der Bühne ...
Wow!
Das war die Loge der Armen. 21
Trotz des milden Klimas in Rom vermisst meine Mutter ab und zu ihr bergiges Heimatland.
Und sie lernt den jähzornigen Charakter meines Vaters kennen.
Lausanne, die Weinberge und die Ufer des Genfer Sees fehlen ihr an manchen Tagen.
Sie streiten sich immer häufiger. Er lässt ihr nie die 10 000 Lire auf dem Tisch, die ein Bahnticket in die Schweiz kostet.
Die Geburt meines Bruders wird ihr Leben auf den Kopf stellen und den Umzug auf die andere Seite der Alpen beschleunigen.
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Michel wird am 22. Juni 1968 um 21 Uhr geboren. Ja! Noch einmal pressen! Geschafft, es ist ein ...
Wäähhh
Es ist ein Junge ... nicht wahr? Ähm ... Also, es ... Ja, ein Junge ...
Aber wohin bringen Sie ihn? Beruhigen Sie sich, wir müssen ihn in einen Brutkasten legen.
Aber ... Ist er gesund? Alles ist gut, machen Sie sich keine Sorgen. Sie können ihn bald sehen.
Ich will mein Kind sehen! Ruhen Sie sich aus und regen Sie sich nicht auf. Das behindert noch den Milcheinschuss!
So lässt man meine Mutter die ganze Nacht warten, ohne eine einzige Erklärung.
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