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Zwei Generationen streiten um den Ausgang

Im Gespräch suchen zwei unterschiedliche Menschen nach Rezepten, um glücklich zu werden. Oder zufriedener. Ihre Analysen sind verschieden. Dass sie dabei streiten, versteht sich. Wir lernen daraus.

Was tun, dass es besser geht?

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GESPRÄCHSLEITUNG BRUNO AFFENTRANGER UND ANGEL GONZALO BILDER ANGEL GONZALO

Wie kommt man mental aus diesem Lockdown heraus?

Michelle Meyer: Es existiert viel Negativität. Auf Social Media, wo man als junger Mensch gerne unterwegs ist, wimmelt es von Hasskommentaren. Viele erzählen, dass es schlecht läuft. Das zieht uns alle noch weiter runter. Die täglich vermittelten Fallzahlen tragen das ihrige dazu bei. In den Diskussionen an den Hochschulen und Universitäten, an Kantonsschulen und Oberstufenschulen dominiert das Thema der Überforderung. Auf der einen Seite soll man leistungsfähig sein, auf der anderen Seite Sorge tragen. Wie soll das gehen? Die Anforderungen werden ohne Rücksichtnahme auf die besondere Situation permanent hochgehalten.

Das ist das negative, schwierige Bild. Wie findet man da heraus?

Michelle: Indem wir die Zeit, die wir im nächsten Umfeld miteinander verbringen können, wieder vermehrt schätzen. Die erlaubte Nähe zur eigenen Familie oder zu der kleinen Zahl an Freunden, die man noch sehen darf, müssen wir nutzen. Nur damit schaffen wir es, das Denken zum Positiven hin zu verändern und das Zusammengehörigkeitsgefühl wieder zu fördern.

Müssen wir Gegensteuer geben?

Michelle: Sicher müssen wir das. Gerade in der Schweiz wird sehr viel Kritik geübt. An allem und jeder. Wir mäkeln an Regierungen herum, an Mitmenschen, die allesamt toxisch sind. Normale Begegnungen sind fast nicht mehr möglich, ein Lächeln ist verdächtig.

Das ist die Beschreibung eines toxischen Zeitalters. Geht es uns tatsächlich so schlecht?

Ueli Breitschmid: Ich würde nicht so weit gehen. Wir leben sicherlich in einer Zeit, in der es den Menschen so gut geht, wie noch nie zuvor.

Woran machst du das fest?

Ueli: Uns geht es so gut, dass wir uns schon schlecht fühlen, wenn wir uns einmal nicht alles leisten können. Unsere Anspruchshaltung ist so hoch und gewachsen, dass wir gar nicht mehr wissen, wie reich wir eigentlich sind. Ich stelle fest, dass diese Anspruchshaltung gefördert wird. Ebenso wachsen Kritiken und Neid, hingegen schwindet das Solidaritätsdenken. Dieser Logik folgend, steigt nun der IchAnspruch, der ungesunde, pure Egoismus. Polarisierungen, SchwarzweissDenken, simple GutschlechtUnterscheidungen sind Mode. Obwohl wir genau wissen oder zumindest ahnen, dass das Leben aus Zwischenwegen besteht, werden diese vernünftigen Pfade zwischen den Polen plötzlich weniger. Weil dieser Befund inzwischen Normalität geworden ist, bewirtschaften politische Exponenten dieses Feld ganz ungeheuerlich und mit viel Kraft. Wir stecken mitten im Zeitalter des Neids. Michelle: Aber ist das nicht das Wesen der Schweizer Politik: das Extreme zu fordern und sich zum Schluss den Kompromiss zu erarbeiten? Ueli: Die Schweiz ist das eine, die Welt das andere. Ich zeichne hier einen globalen Trend. In der Schweiz sind wir zum Glück noch nicht ganz so weit. Ich spucke dich nicht an, weil du eine andere politische Gesinnung hast als ich. Michelle: Das hoffe ich doch. Ueli: Das ist aber gang und gäbe. Und unsere politische Kultur gerät unter Druck. Damit auch vieles andere mehr.

Was denn zum Beispiel?

Ueli: Heute wird man scheel angeschaut, wenn man in einen Beruf einsteigt, bei dem das Helfen die Hauptaufgabe ist. Hebamme zum Beispiel. Wer nicht studiert und nicht den ökonomischen Wert des Tuns in den Vordergrund stellt, wird bemitleidet. Das ist der falsche Weg. Früher arbeiteten die St.AnnaSchwestern in Luzern um Gotteslohn. Michelle: Das hat sich nicht gross geändert. Ueli: Willst du mir sagen, dass die Menschen in der Hirslandenklinik oder im Kantonsspital heute für Gotteslohn arbeiten?

Michelle: Nein. Aber in den Pflegeberufen sind die Löhne viel zu tief, gemessen an der Arbeit, die geleistet wird. Ueli: Diese Meinung teile ich nicht. Was verdient eine Pflegefachfrau im Kantonsspital? Michelle: Ich kenne viele Menschen, die in Pflegeberufen arbeiten und in diesem Jahr oft 12 ½StundenSchichten eingelegt haben. Sie sind nicht angemessen bezahlt. Ueli: Ich streite doch gar nicht ab, dass das Pflegepersonal in diesem Jahr stark gefordert gewesen und es immer noch ist. Aber man übt diesen Beruf doch gerade aus, weil man helfen und Überdurchschnittliches leisten will. Ausserdem steht es jeder und jedem frei, einen anderen Beruf zu ergreifen. Michelle: Du meinst also, man soll den Beruf so wählen, dass man möglichst viel verdient. Wer es nicht tut, soll ruhig bleiben und keine Forderungen stellen. Wir dürfen doch den Glauben an Veränderungen haben. Ueli: Fordern ist legitim und immer gut. Aber zurück zu deinem Punkt: Wer viel verdienen will, sollte nicht einen Pflegeberuf ergreifen. Michelle: Darum geht es doch gar nicht und das ist doch auch nicht das Ziel. Es geht um die angemessene Bezahlung von Leistung.

Was ist angemessen?

Ueli: Das ist Verhandlungssache und letztlich immer das Resultat eines wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Konsenses. Die Arbeit, die dir am meisten Freude bereitet, am höchsten bezahlt ist und noch die richtige Anzahl an Freizeitstunden bietet, die ist nicht erfunden.

Wirklich nicht? Was tust du denn?

Ueli: Ich besitze alle drei genannten Komponenten in hohem Mass. Aber ich bin 75 Jahre alt und habe mir diese Position erarbeitet. Mit 22 Jahren habe ich vieles akzeptieren und mich arrangieren müssen. Aber zurück zu meinem Befund: In der politischen Diskussion verzichten immer mehr Menschen darauf, die Gesamtinteressen über den Eigennutz zu stellen.

Du zeichnest das Bild einer Gesellschaft die früher solidarischer war als heute. Falls das stimmt: Worauf fusste diese Solidarität?

Ueli: Um auf die Pflegeberufe zurückzukommen – die Menschen, die in diesem Bereich tätig waren, waren das, weil sie ihren Beruf gerne ausübten und nicht, weil sie angemessen bezahlt sein wollten. Aber das Gesundheitswesen ist inzwischen industrialisiert und von finanziellen Anreizen bestimmt. Michelle: Die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen stimmen nicht mehr. Es gibt nirgendwo so viele Burnouts pro Jahr wie in den Pflegeberufen. Man findet selten ein Team, das einen Altersdurchschnitt über vierzig Jahre aufweist. Einfach, weil viele jung einsteigen, aber auch jung bereits aufhören und weiterziehen.

Zur Eingangsfrage zurück: Was ist deine Strategie, aus einem mentalen Lockdown herauszufinden?

Ueli: Muss ich eine haben?

Vielleicht brauchst du das nie.

Ueli: Doch. In erster Linie müssen wir aus einer Negativspirale der Einflüsse herausfinden.

Wie macht man das?

Ueli: Man liest keine Zeitungen mehr, schaut nicht mehr fern und hört keine News. Ich entziehe mich bewusst vielen negativen Meldungen. Michelle: Entziehen ist das eine, darüber zu reden das andere. Das Ansprechen und Aussprechen, was Informationen mit einem anstellen, ist wichtig. So lernen wir einzuordnen und richtig zu deuten, immer in Absprache mit anderen Menschen. Ansonsten ist man schnell alleine. Ueli: Menschen sind Herdentiere. Die Beeinflussung der Massen findet deshalb statt. Dabei rede ich nicht von einer weltumspannenden Verschwörung oder von Einzelnen, die das tun. Es ist ein Mechanismus, ein physisches Axiom. Alle sind beeinflusst, alle schaukeln sich gegenseitig hoch. Wir leben in einem Sturm der Meldungen und Beeinflussungen. Michelle: Ich muss hier die Politik in Schutz nehmen. Es ist für staatliche Stellen heute nicht einfach: Einerseits müssen sie über Fallzahlen zu Covid19 Auskunft geben und warnen, andererseits das Vertrauen der Menschen gewinnen oder behalten. Sie können nicht Massnahmen einfordern, wenn gleichzeitig niemand glaubt, dass diese wirken. Ueli: Auch in diesem Thema muss jeder einzelne Mensch seine Mechanismen entwickeln, dass er sich nicht zu stark beeinflussen lässt.

Ueli Breitschmid

75, ist Inhaber und Verwaltungsratspräsident der Curaden AG in Kriens, die als bekannteste Marke CURAPROX führt. Das Unternehmen betreibt Fachhandel für Zahnärzte und Zahntechnik und stellt Mundgesundheitsprodukte her, die sie weltweit vermarktet. In der Schweiz arbeiten rund 150 Mitarbeitende; Der Umsatz beträgt rund hundert Millionen Franken. Weltweit werden über Tochterfirmen und Mehrheitsbeteiligungen in vierzig Ländern gut 200 Millionen Franken erwirtschaftet. Ueli Breitschmid investiert in innovative Start-ups, in Immobilien und besitzt Weingüter in der Schweiz, in Italien und Spanien. Ausserdem ist der verheiratete Vater von vier Töchtern in der Gastronomie engagiert und besitzt Hotels und Restaurants.

Michelle Meyer

22, studiert an der Universität in Zürich Politikwissenschaften. Die aus Beromünster stammende Politikerin engagiert sich als Co-Präsidentin der Jungen Grünen des Kantons Luzern. Ausserdem arbeitet sie im Vorstand der Jungen Grünen Schweiz und ist die Leiterin der Arbeitsgruppe Campaigning der Grünen in Luzern.

Nochmals: Wie tut man das konkret?

Ueli: Nach dem Kappen der Verbindung zu beeinflussenden Medien muss ich in meinem privaten Umfeld die Sicherheit suchen und eine Oase schaffen.

Das klingt nach der Bildung einer klassischen Meinungsblase, in der man nur noch mit Gleichdenkenden und Gleichsprechenden zusammen ist.

Ueli: Keinesfalls. In der Oase muss Widerspruch existieren, sonst kann ich sie gar nicht als Oase wahrnehmen. Aber gehen wir noch einen Schritt weiter: Ich behaupte immer, dass in solchen Zeiten, wie wir sie heute erleben, Chancen entstehen. Nichts ist so schlecht, dass es nicht für etwas gut ist. Mit diesem Denkansatz gelingt mir stets der Ausbruch. Michelle: Diesen Ansatz teile ich.

Welche Chancen seht ihr denn aktuell?

Michelle: Dass sich die Menschen wieder mehr Zeit für sich selber nehmen, für ihre Gesundheit, sie gehen regelmässig spazieren, an die frische Luft, ernähren sich gesünder, fühlen sich besser. Es gibt nichts Schlimmeres, als sich selber zu Hause einzusperren und nichts mehr zu tun. Noch vor Kurzem lebten wir alle den Trend, immer mehr zu leisten. Wir leben jetzt in einer Phase der Rückbesinnung.

Ist das Corona-Jahr mehr als eine Pandemie, nämlich ein Vollstopp, der uns den Gang der Welt ändern lässt?

Michelle: Es ist ein Vollstopp. Wir können uns jetzt überlegen, wie es weitergehen soll. Wir können daran arbeiten, dass die Unterschiede kleiner werden. Es kann doch nicht sein, dass die einen so viel verdienen und andere ihre Geschäfte schliessen müssen. Es kann auch ökologisch anders funktionieren: Wir sind im Frühling in der LockdownPeriode nicht mehr geflogen, und die Umwelt hat profitiert. Die Lehre daraus: So könnte es gehen. Ueli: Mit einem permanenten Lockdown ohne Fliegen? Michelle: Nein. Einen Lockdown wünscht sich niemand herbei. Aber wir müssen einen neuen Mittelweg finden und nicht mehr so extrem weiterfahren wie bisher. Wir müssen eine gerechtere Welt schaffen. Es kann zum Beispiel nicht sein, dass die Kultur wenig Unterstützung erhält, auf der anderen Seite das Unternehmen Swiss Mil

«Man liest keine Zeitungen mehr, schaut nicht mehr fern und hört keine News. Ich entziehe mich bewusst vielen negativen Meldungen.»

Ueli Breitschmid

lionen zugeschossen kriegt und gleichzeitig Boni ausbezahlen will. Ueli: Das musst du auseinanderhalten. Privatwirtschaft ist Privatwirtschaft, Staat ist Staat. Es ist der Swiss unbenommen, Boni zu bezahlen. Jedes Privatunternehmen ist frei in seinen Entscheidungen. Michelle: Auch wenn es Menschen entlässt? Ueli: Das ist Wirtschaft. Einmal stellt man Menschen ein, einmal entlässt man. Das ist leider Realität. Michelle: Es darf nicht Realität bleiben, dass die Produktivitätsschraube nochmals angezogen wird und sich das Hamsterrad der Leistung noch schneller dreht. Ueli: Finde dich damit ab, dass du als junger Mensch, der ins Erwerbsleben einsteigt, mehr gefordert wirst als später. Michelle: Grundherausforderung ist ein wichtiger Antrieb. Aber die Überforderungen bei jungen Menschen nehmen zu. Sie haben in grosser Zahl psychische Probleme. Der Grund liegt bei den Schulanforderungen und beim Druck der Eltern. Viele fürchten sich, dem nicht gerecht zu werden. Die Suizidrate bei Jugendlichen steigt. Die sozialen Medien verlangen Standards, die wir nicht erfüllen können. Ueli: Das ist gewissermassen ein Grundgesetz. Es war früher schon ein Problem. Das ist das Los der Jugend: Sie schultert vieles.

Wir müssen eine gerechtere Welt schaffen – was heisst das?

Ueli: Grundsätzlich sollen alle dieselben Ausgangschancen haben. Die Frage ist: Was ist gerecht und was macht die Menschen glücklich? Ich habe Armut in der eigenen Familie konkret erlebt. Aber waren das unglückliche Momente? Es ist eine schwierige Diskussion. Ich glaube, Glück hängt von der inneren Einstellung ab. Ich messe meine menschliche Würde daran, wie glücklich oder unglücklich ich bin. Dummerweise ist es so, dass ich mit mehr Geld zum Beispiel nicht glücklicher werde. Michelle: Aber das ist doch ein Widerspruch. Auf der einen Seite sprichst du für Bonuszahlungen und gleichzeitig weisst du, dass diese die Menschen nicht glücklicher machen werden. Ueli: Das tue ich nicht. Deine Kernfrage ist doch, was eine gerechte Entlöhnung in einem Unternehmen ist. Es kann sein, das ich in meiner Firma jemandem mehr und einem anderen weniger bezahle. Das ist meine Entscheidung. Es ist meine Firma. Das ist ein privater Entscheid auf der komplexen Gerechtigkeitsbasis meiner Unternehmung. Gerechtigkeit ist kein absoluter Wert, es ist ein Privatgut. Hingegen kann man sich empören und aufregen über jemanden, der ein Unternehmen in den Abgrund geritten hat und danach noch Millionenabfindungen kriegt. Ich finde diese Geschichten auch komplett daneben. Aber ob es gerecht oder ungerecht ist, ist eine andere Frage. Das Gerechtigkeitsterrain ist ein Minenfeld und gefährlich. Michelle: Sollten wir nicht darüber reden, gerade weil es ein schwieriges Terrain ist? Gerechtigkeit ist kein Empfinden, es ist mehr. Es ist doch ungerecht, dass zum Beispiel Frau MartulloBlocher in ihrer EmsChemie Leute entlässt und selber über ein Milliardenvermögen verfügt. Ueli: Darf ein Milliardär nicht mehr Leute entlassen? Soll er trotz aufkommender Krise mit offenen Augen ins Verderben gehen und niemanden entlassen? Würdest du das tun? Michelle: Es ist ein Fakt, dass Manager so viel mehr als normale Angestellte mit einem Mindestlohn verdienen. Ueli: Eine Diskussion über Gerechtigkeit ist nicht sinnvoll. Das bringt uns nicht weiter. Man kann Gerechtigkeit nicht auslagern. Wenn du gerecht sein willst, dann rufe ich dir zu: Mach es! Sei es! Fordere nicht von anderen Gerechtigkeit ein. Du musst mit dir selber und mit anderen gerecht sein.

Gerechtigkeit fordert nur der liebe Gott. Michelle: Ich glaube nicht, dass der liebe Gott grosse Firmen betreut und von ihnen Gerechtigkeit einfordert.

Zwei Menschen, zwei Überzeugungen: Ueli, du sagst, dass man nur selber gerecht sein kann. Du, Michelle, sagst, dass man Gerechtigkeit sehr wohl einfordern kann. Was stimmt?

Michelle: Ich gebe Ueli recht: Es gibt Menschen, die selber beeinflussen können, dass es bei ihnen und in ihrem Umfeld gerecht vorgeht. Viele aber haben keinen Einfluss. Sie sind ein kleines Rädchen in einer riesigen Maschine. Deshalb brauchen sie die Hilfe von Menschen, von Politik, von Gewerkschaften und anderen mehr. Ueli: Ich glaube, das Grundproblem in unserer Diskussion hier liegt darin, dass das Wort Gerechtigkeit falsch angewendet ist. Was gerecht ist, ist meine private Meinung. Es existiert keine öffentliche Meinung darüber, was gerecht ist. Michelle: Wenn eine Mehrheit von Menschen findet, dass etwas nicht gerecht ist, dann ist das doch relevant. Ueli: Ich glaube, du sprichst von Angemessenheit. Eine Mehrheit kann finden, dass etwas nicht angemessen ist. Aber Gerechtigkeit ist subjektiv. Über Glauben, Geschmack und Gerechtigkeit kann man nicht diskutieren. Michelle: Da bin ich anderer Meinung.

Unsere Diskussion ist an einem schwierigen Punkt angelangt, deshalb eine schwierige Frage: Was macht das Glück der Menschen?

Michelle: Diejenigen, die die Freiheit haben, das zu tun, was sie gerne und gut tun, sind nahe am Glück. Zum Glück gehört, dass keine Existenzangst drückt und eine ausgewogene Balance zwischen allem herrscht. Wichtig ist, dass man sich akzeptiert und gut aufgehoben fühlt.

Geld spielt keine Rolle?

Michelle: Doch. Mindeststandards müssen erfüllt sein, damit die Freiheiten überhaupt erst entstehen können. Viele Menschen trauen sich weniger zu, als sie eigentlich könnten. Ueli: In welchen Situationen fühlst du dich persönlich glücklich? Michelle: Wenn ich einen guten Arbeitstag erlebt habe, interessante Gespräche hatte, einen Erfolg mit einer Präsentation gefeiert habe. Wenn ich mir Zeit für mich selber nehmen, Sport machen oder meine vielbeschäftigte Familie sehen kann. Ueli: Ich bin glücklich, wenn ich mich aufgehoben sehe, wenn ich weiss, dass ich nicht alleine bin, wertgeschätzt werde und eine Rolle in der Gesellschaft oder in einer Gruppe habe. Das gibt mir Halt. Abgesehen davon müssen meine Grundbedürfnisse gedeckt sein. Das Glück hängt vollkommen von der sozialen Komponente ab. Ich kann das nicht planen, aber ich kann es steuern. Ich nenne dazu einen Trick: die eigenen Ansprüche und jene an andere immer so tief als möglich zu halten. Wer seine eigene Erwartungshaltung richtig managt, wird leichter zufriedengestellt. Michelle: Erwartungen oder Herausforderungen an sich selber sind aber immer wichtig. Ganz ohne geht es also nicht. Ueli: Das Grundkonzept heisst: underpromise and overdeliver. Versprich weniger und liefere mehr. Das führt zum Glück.

Machen wir unser Glück komplett und finden wir die Themen, für die heute Zeit wäre. Was müssen wir alle sofort angehen?

Michelle: Das Erreichen der Klimaziele. Nur weil wir mit dem Coronavirus kämpfen, wird dieses Thema nicht weniger dringend. In den Parlamenten werden Vorstösse in diese Richtung abgelehnt.

Was wäre also zu tun?

Michelle: Es hilft, wenn wir selber mehr Zeit in der Natur verbringen. Wir lernen dadurch schätzen, was wir im nächsten Umfeld erleben. Wir müssen den Menschen direkt sagen, dass sie jetzt in die Natur hinausgehen sollen und so die Notwendigkeit des Schützens und Rettens erkennen. Es ist jetzt der Moment, die grossen Zusammenhänge in der Ökologie zu erkennen und zu handeln.

Aber gesundet die Natur nicht gerade in der Corona-Krise?

Michelle: Wir fliegen weniger ... Ueli: ... aber das macht in der Bilanz nicht sehr viel aus. Michelle: Alles beginnt immer mit dem Verändern des eigenen Verhaltens. Dennoch braucht es staatliche Massnahmen, um globale Probleme zu bekämpfen. Es braucht gemeinsame Ideen und Vorgaben. Das Individuum ist alleine chancenlos. Ein zweites grosses Thema ist sicherlich die Diskussion über die richtige Arbeitsdauer. Ist es noch richtig, 42 Stunden in der Woche zu arbeiten? Können wir nicht ein wenig zurückfahren, weil wir ja effizienter werden, und dadurch den Anteil der Freizeit und die sozialen Kontakte steigern? Die Diskussion um die Teilzeitarbeit für Männer oder den Vaterschaftsurlaub beweist dass hier etwas in Bewegung geraten ist. Ueli: Die Arbeitswelt verändert sich immer, diesmal aber viel grundlegender, als du denkst. Ich habe schon vor vierzig Jahren davon gesprochen, dass die Automatisierung uns den Tag bringen wird, an dem sich die Vorzeichen umkehren. Es wird das grösste Privileg des Menschen sein, überhaupt noch arbeiten zu dürfen. In diesem Prozess stecken wir. Am Ende des Tages gibt es zwei Lager: die armen Menschen, die Berge an Geld besitzen und all das konsumieren müssen, was produziert wird, und die wenigen Privilegierten, die noch einen sinnerfüllenden Job besitzen. Geld ist in dieser Welt nicht mehr die wichtige Währung, sondern das Gefühl der Wertschätzung und der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns. Für mich stellt sich heute die Frage: Kann ich damit umgehen, dass ich nicht mehr arbeiten muss? Michelle: Das ist ein negatives Bild einer schlimmen Welt. Ueli: Nein, das ist das Bild der heutigen Welt. Sie hat bereits begonnen. Du aber argumentierst noch immer auf der Grundlage einer Welt der Fünfzigerjahre. Michelle: Du kehrst unsere Rollen gerade um. Ich stecke im Heute und ich erlebe das anders.

Zurück zum Thema. Wie findet ihr ganz persönlich aus einem mentalen Lockdown?

Michelle: Ich gebe meinem Alltag Strukturen und ich versuche in den Dingen, die ich tue, einen Sinn zu finden. Ich hoffe, sie machen mich glücklich. Daneben schaue ich stark darauf, dass ich selber für mich noch genug Zeit finde, meine persönlichen Anliegen zu erfüllen. Ich sollte mich genug bewegen, an der frischen Luft sein, genug Schlaf finden. So könnten es auch andere schaffen. Ueli: Ich muss in meinem Leben gar nichts ändern. Ich ziehe meinen eigenen Rhythmus weiter und muss niemandem mehr etwas beweisen. Das ist das Privileg meines Alters und meiner Situation.

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