Einstürzende Neubauten

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EINSTÜRZENDE   NEUBAUTEN



EINSTÜRZENDE   NEUBAUTEN

Freitag

16. November 2018 20.00

Samstag 17. November 2018 20.00 Sonntag 18. November 2018 20.00

Blixa Bargeld Alexander Hacke N. U. Unruh Rudolf Moser Jochen Arbeit

Felix Gebhard Klavier, Keyboard Jan Tilman Schade Violoncello & Leitung Streicherensemble Alexandra Paladi Violine I Rujin Min Violine II Maria Dubovik Viola

Light Design: Lutz John FOH Engineer: Boris Wilsdorf Monitor Engineer: Marco Paschke


„Krieg bricht nicht aus – er wartet“ Ein Gespräch mit Blixa Bargeld

Im Jahr 2011 wurden Sie von der Region Flandern und der Stadt Diksmuide gebeten, ein Stück zu komponieren, mit dem 2014 an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs 100 Jahre zuvor erinnert werden sollte.Was hat Sie an der Idee fasziniert? Gar nichts, ich wollte das zuerst gar nicht machen, der Rest der Band hat mich aber überstimmt. Ich hatte kein Verhältnis zum Ersten Weltkrieg, zu überhaupt keinem Krieg. Die Aussicht, dass ich mich mehrere Jahre intensiv mit Krieg auseinandersetzen sollte, erschien mir sehr unangenehm. Diese Arbeit nimmt mir ja keiner in der Band ab. So kam es dann auch. Nachdem wir angefangen hatten, wollte ich deswegen sofort wieder hinschmeißen. Stattdessen haben Sie einen Historiker und eine Literaturwissenschaftlerin gebeten, ­Material zu finden… Ich habe den beiden klar ausgebreitet, wonach gesucht werden soll, nach Aspekten, die noch nicht so bekannt und ausgetreten sind – ich wollte nicht einfach nur die Wiederholung von bekannten Dingen wie Grabenkrieg, Matsch und Modder. Schnell wurde mir bei der Arbeit mit den vielen Quellen und den Wissenschaftlern klar, dass es gar nicht mehr nur um den Ersten Weltkrieg, sondern um Krieg ganz allgemein gehen muss. Zu Ihren erstaunlichsten Funden gehörten Tonaufnahmen von Gefangenen aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager. Was hat es damit auf sich? Darauf stießen wir im Lautarchiv der Humboldt-Universität hier in Berlin: Deutsche Linguisten hatten Kriegsgefangene, die aus der ganzen Welt stammten, Texte vorlesen lassen, bestimmte Stellen aus der Bibel, meist das Gleichnis vom verlorenen Sohn, um die Aufnahmen zu analysieren. Diesen Bibel-Text gab es anscheinend in sehr vielen Übersetzungen. Die Stimmen wurden auf W   achszylindern und Platten aufgenommen und liegen heute in digitalisierter Form vor, das ist ein richtiger Schatz. Einen Tag vor mir war übrigens die BBC im Lautarchiv, das konnte ich im Gästebuch sehen. Wir waren also in bester Gesellschaft. Auf der Bühne halten Sie sehr kleine Lautsprecher in der Hand, aus denen die Stimmen dringen. Man müsse diese Aufnahmen wie rohe Eier behandeln, haben Sie gesagt.Was meinen Sie damit? Die Aufnahmen stammen von Kriegsgefangenen, das war also eine Machtund Zwangssituation. Die konnten wir nicht einfach wie ein Sample benutzen, das wäre mir zu respektlos vorgekommen. Durch die Laut­ ssprecherwürfel in unseren Händen lassen wir die Stimmen frei in den Raum, das erscheint mir ein angemessener Umgang. Sie lassen die Stimmen zu einem Musikstück erklingen, in dem es ebenfalls um das Gleichnis vom verlorenen Sohn geht. 4 Interview


Ja, das war ein unglaublicher Zufall, dass ausgerechnet in der Stadt Diksmuide ein Renaissance-Komponist namens Jacobus Clemens non Papa begraben liegt, der diese Motette über das Gleichnis komponiert hat. Das hat eine schöne Tür aufgemacht. Ich habe das Stück stark verlangsamt und von acht Gesangsstimmen für ein Streichquartett umgeschrieben. Dazu kommen dann die alten Stimmaufnahmen. Es gab noch eine erstaunliche Wiederentdeckung, die der Harlem Hellfighters.Wer war das? Das war die Musikband des 369. amerikanischen Infanterieregiments, in dem nur Schwarze dienten und das den Franzosen „geliehen“ wurde, weil wegen der Rassentrennung in den USA keine weißen amerikanischen Offiziere das Kommando übernehmen sollten.Von den Deutschen wurden sie ehrfürchtig Harlem Hellfighters genannt. In LAMENT verwenden sie zwei Stücke der Band, On Patrol in No Man’s Land und All of No Man’s Land Is Ours. Mehr lassen sich leider nicht finden. Alte Tonträger sowieso nicht, ich habe sie mir im Netz besorgt. Die ursprüngliche Platte mit den beiden Liedern war 1919, direkt nach dem Krieg, veröffentlicht worden, noch bevor Louis Armstrong seine erste Platte rausgebracht hatte. Das ist wirklich Proto-Jazz, wahrscheinlich bevor der Begriff „Jazz“ überhaupt vermarktet wurde. Im Text werden unmittelbar Kriegserlebnisse verarbeitet. An einer Stelle heißt es: „Bang, there’s a German Minenwerfer coming“… Ich vermute, diese Zeilen sind praktisch im Graben geschrieben worden. In All of No Man’s Land Is Ours kehren sie dagegen als Sieger nach Hause zurück, das ist fast zynisch, denn in ihrer Heimat herrschte immer noch Rassentrennung, sie aber bauen ein utopisches, optimistisches Bild von Heirat, Bungalow und Blumengirlanden. Und wo haben Sie diesen irren Joseph Plaut her, der den Beginn des Weltkriegs mit Tierstimmen nachstellte?
 Aus dem Rundfunkarchiv der ARD. Interessant war für mich: Es gibt keine echten Aufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg. All die Geräuschkulissen, die wir von alten Aufnahmen von den Schlachtfeldern kennen, sind später ­hinzugefügt worden, denn damals war es unmöglich, im Feld direkt auf­ zuzeichnen. Wir halten also teilweise Sachen für dokumentarisch, die es nicht sind. Nach dem Krieg gab es viele Aufnahmen, die nachträglich den Kriegs­alltag heroisierten, aber eben auch diesen Tierstimmenimitator Joseph Plaut, der seinen Vortrag von 1926 schon mit Hitler enden ließ, als der noch ein kleines Licht war. Unglaublich. Das konnte ich mir nicht ­entgehen lassen. Das persönlichste Stück in LAMENT ist How Did I Die, die einzige Nummer, die nicht auf historischen Begebenheiten beruht – und die doch nicht mit dem Tod endet.Wie kam es dazu? Es gibt ein schönes Gedicht von Tucholsky, Die rote Melodie. Darin kommen die Toten des Ersten Weltkrieges zurück und greifen die Verantwortlichen für das große Sterben an. Diese Idee gefiel mir gut, ich wollte die Stimmung Interview 5


meines Liedes genau so umdrehen, es eben nicht mit dem Tod enden lassen. Es werden Lieder in verschiedenen Sprachen gesungen, auch auf Flämisch, etwa das Stück In De Loopgraaf („Im Schützengraben“), begleitet von einer Stacheldraht­ harfe. Geschrieben wurde es von einem Paul van den Broeck, wie es heißt einem Kriegsfreiwilligen. Gab es den wirklich? Es hätte so einen Dichter geben können... Und wie ist es mit diesen absurden Telegrammen zwischen dem deutschen Kaiser ­Wilhelm und dem russischen Zar Nikolaus, den Cousins, die sich angeblich „Willy“ und „Nicky“ nannten und die Sie auf der Bühne mit ihrem Band­ kollegen Alexander Hacke rezitieren? Das sind die echten Telegramm-Texte. Beide waren direkt miteinander ­verwandt, sie hatten dieselbe Großmutter, Queen Victoria. Und bis zum Ausbruch des Krieges haben die beiden sich diese geschwollenen, wohlmeinenden Telegramme geschrieben, obwohl auf der russischen und auf der deutschen Seite schon alles auf Krieg hinauslief. Und ja, sie nannten sich wirklich „Willy“ und „Nicky“! Im zweiten Teil der Performance ist das Lied Sag mir, wo die Blumen sind zu hören, das auf Deutsch durch Marlene Dietrich berühmt gemacht wurde. ­Geschrieben hat es ein Amerikaner, Pete Seeger, im Jahr 1955… Der an dem Tag gestorben ist, als wir das Stück erstmals aufgenommen haben. Die deutsche Fassung hat eine Strophe mehr und wurde von Seeger, der auch Deutsch konnte, als die bessere empfunden. Die zusätzliche Strophe hatte übrigens ein Österreicher, ein Drehbuchautor von Billy Wilder, als Auftragsarbeit für Marlene Dietrich geschrieben. Aber das hat nichts mehr mit dem Ersten Weltkrieg zu tun. Wie gesagt, es ging mir bald um den Krieg insgesamt, nicht mehr um den Ersten Weltkrieg allein. Einer der Eindrücke, die ich bei den Recherchen gewonnen habe, ist, dass der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammen gehören, der eine ist ohne den anderen nicht denkbar, sie sind für mich gewissermaßen ein und derselbe Krieg. Es heißt an einer Stelle, sehr früh im Stück: „Der Krieg bricht nicht aus. Er wartet.“ Was meinen Sie damit? Ich finde es immer sehr eigenartig, wenn man in den Nachrichten hört, hier oder dort bricht ein Krieg aus. Was bedeutet das? War der vorher eingesperrt? Bricht der aus wie die Pest? Das ist eine seltsame Wortwahl. Ich glaube, der Krieg ist immer da, immer vorhanden, er ruht nur manchmal. Was haben Sie bei der Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg gelernt? Mir kann jetzt keiner mehr etwas darüber erzählen. Ich habe mir Wissen ­an­gehäuft, alles Andere könnte ich nicht genau bezeichnen. Aber als alles fertig war, fiel ein ungeheurer Druck von mir ab. Ich spiele das Stück ­leidenschaftlich gerne, es ist ganz wunderbar, es auf die Bühne zu bringen, nur die Beschäftigung damit, die Recherche, das war einfach sehr schmerzhaft. 6 Interview


Wie soll das Werk idealerweise wirken? Ich gehöre zu der eigenartigen Spezies der Avantgarde-Entertainer: Ich möchte niemals langweilen. Didaktisch sehe ich das nicht. Außer dass man nach der Percussion-Performance vielleicht eine Ahnung davon hat, wie lang dieser Krieg war. Bei dieser „Percussion-Version“ des Ersten Weltkrieges wird die Dauer der Kriegs­ beteiligung der Nationen durch Schläge auf Röhren angezeigt, die Länder darstellen. Genau. Das sind 120 beats per minute im Viervierteltakt. Jeder einzelne Schlag bedeutet einen Tag Kriegsteilnahme des jeweiligen Landes oder der ­jeweiligen Allianz, die durch verschieden lange Plastikrohre symbolisiert werden. Diese 120 beats per minute sind sozusagen eine Techno-Frequenz, die wie eine ­Auf­forderung zum Tanz wirken könnte, was angesichts des Anlasses etwas seltsam wirkt.War das Ihre Absicht? Ich habe das am Schreibtisch entworfen – wie es tonal wird, liegt an der ­Ausführung meiner drei Kollegen und ist eher zufällig. Aber bei den ersten Aufführungen fand ich es schon komisch, dass einige Leute an einer anderen Stelle im Stück, bei unserer Collage aus diversen alten Hymnen, plötzlich anfingen mitzuklatschen. Da dachte ich: Meint ihr das jetzt ernst? Aber das ist auch Resultat einer gewissen Doppelbödigkeit, die sich durch das ganze Stück zieht. Und die Ihnen offensichtlich Spaß macht? Ja, die macht uns auch Spaß. Hatten Sie Befürchtungen, LAMENT könnte zu „schön“, zu „ästhetisch“ sein? Darf eine Performance über den Krieg derart unterhaltend sein? Ich wollte auf keinen Fall Kriegsgetöne, Schlachtenlärm, das große Bumbum. Als ich nicht mehr weiter wusste in der Vorbereitungsphase, habe ich von Tom Waits geträumt, den ich zwei Mal im Leben getroffen habe. Im Traum habe ich ihn gefragt, ob er mir hilft. Am nächsten Morgen kam ein befreundeter amerikanischer Künstler zu mir, dem habe ich von meinen Schwierigkeiten mit dieser Auftragsarbeit erzählt. Da zitierte er, ausgerechnet, Tom Waits: „You have to make the horrible look beautiful.“ Das gibt es doch gar nicht, dachte ich, so funktionieren Träume. Und an diesen Rat habe ich mich gehalten – make the horrible look beautiful. Sind das hier im Pierre Boulez Saal wirklich die letzten drei Aufführungen von LAMENT? Das Stück wurde für diesen Erinnerungszyklus geschrieben, der 2014 begann und jetzt 2018, genau 100 Jahre nach Ende des Krieges, an sein natürliches Ende kommt. Aber es ist ein Bühnenstück, es kann theoretisch immer wieder aufgeführt werden.

Die Fragen stellte Rainer Schmidt.

Interview 7


“War Does Not Break Out—It Waits” A Conversation with Blixa Bargeld

In 2011, the Region of Flanders and the City of Diksmuide asked you to write a piece to be performed in 2014, commemorating the outbreak of World War I one hundred years before.What interested you about this idea? Nothing, I didn’t want to do it at all, but the rest of the band outvoted me. I had no relationship with World War I, nor any other war. The prospect of immersing myself in the subject of war for several years seemed very ­unpleasant to me. After all, nobody within the band does that work for me. And so it was. After we started, my first impulse was to drop the project ­immediately. Instead, you asked a historian and a literary scholar to find material… I gave them clear instructions what they were to search for, aspects that were not so well-known and overdone—I didn’t just want to repeat familiar things, such as the trenches, mud and mire. Working with all those many sources and the academics made it clear to me that the issue was no longer World War I, it is war in general. Among your most extraordinary finds are audio recordings of prisoners from a German prisoner-of-war camp.Tell us about those. We found them in the sound archive of Humboldt University here in Berlin: German linguists had made prisoners of war from all over the world read texts, certain passages from the Bible, usually the parable of the prodigal son, in order to analyze those recordings. Apparently this Bible text existed in many different translations. Their voices were preserved on wax cylinders and records and are available today as digital files—an absolute treasure trove. Incidentally, the sound archive’s guest book showed that only a day before me, the BBC had been visiting. So we were in good company. On stage, you hold very small loudspeakers from which these voices emanate.You have said that these recordings must be treated with kid gloves.What do you mean by that? The recordings were made by prisoners of war, persons in a position of ­in­voluntary confinement and coercion. We could not just have used them like any sample, that would have felt like a lack of respect. Holding the loudspeaker cubes in our hands, we set the voices free within the space, and that seems an appropriate way to treat them. You let the voices resound to a piece of music that is also about the parable of the ­prodigal son. Yes, that was an incredible coincidence: Diksmuide, of all places, is the burial place of a Renaissance composer named Jacobus Clemens non Papa, and he wrote this motet about the prodigal son. That opened a door in a nice way. I slowed the piece down considerably and transformed it from a vocal octet to a string quartet. This is accompanied by the old recordings of the voices. 8 Interview


There was another astonishing rediscovery, the Harlem Hellfighters.Who were they? They were the music band of the 369th U.S. Infantry Regiment, in which only African-Americans served and which was “lent” to the French ­because­­racial segregation in the U.S. meant that white American officers were not supposed to take command. The Germans reverently called them the Harlem Hellfighters. In LAMENT, you use two of the band’s pieces, On Patrol in No Man’s Land and All of No Man’s Land Is Ours. Those were all we could find. There aren’t any old records, I got these ­recordings online. The original record with both songs was released in 1919, right after the war, even before Louis Armstrong had made his first record. That is t­ruly proto-jazz, probably before the term “jazz” was ever marketed. The text deals immediately with war experiences. One line is: “Bang, there’s a German Minenwerfer coming…” I suspect these lines were written practically in the trenches. In All of No Man’s Land Is Ours, on the other hand, they return home victorious; it’s ­almost cynical, for their homeland was still segregated, but there they were, painting a utopian, optimistic image of marriage, bungalows, and flower garlands. And where did you find that crazy Joseph Plaut, who recreated the beginning of ­ World War I using animal voices? In the radio archives of the ARD. What was interesting to me was that there are no actual recordings from World War I. All the noises we know from old battlefield footage were added later, for at the time it was impossible to ­record directly in the field.This means that we believe things are d­ ocumentary which really aren’t. After the war, there were lots of recordings that in ­hindsight glorified daily life during the war, but there was also J­oseph Plaut, who imitated animal voices, and who ended his performance with Hitler as early as 1926, when Hitler was still small fry. Incredible. I could not pass this up. The most personal piece in LAMENT is How Did I Die, the only number that is not based on historical events—and that still does not end with death. How did this piece develop? There is a nice poem by Tucholsky, Die rote Melodie (“The Red Melody”). It describes how the dead of World War I return to attack those responsible for the great dying. I liked that idea, I wanted to turn around the atmosphere of my song, in exactly that manner, so that it would not end with death. There are songs in various languages, including Flemish, for example the piece In De Loopgraaf (“In the Trenches”), which is accompanied by a harp made of barbed wire. It was written by one Paul van den Broeck, a volunteer soldier, or so they say. Did he actually exist? A poet like him might have existed…

Interview 9


What about those absurd telegrams that were exchanged between the German Emperor Wilhelm and the Russian Tsar Nikolaus, the two cousins who supposedly called each other “Willy” and “Nicky”? You recite them on stage with your band colleague Alexander Hacke. Those are real telegrams. Both of them were directly related, they had the same grandmother, Queen Victoria. And until the outbreak of war, the two of them wrote each other these overblown, well-meaning telegrams, ­despite the fact that everything was pointing toward war already, both on the R ­ ussian and the German side. And yes, they actually called each other ­“Willy” and “Nicky”! The second part of the performance features the song Sag mir, wo die Blumen sind, known in English as Where Have All the Flowers Gone. The German version was made famous by Marlene Dietrich, but the song was written by an American, Pete Seeger, in 1955... Who died the same day we first recorded the piece. The German version has an additional verse, and Seeger, who also spoke German, felt that it was the better one. Incidentally, the additional verse was commissioned by Marlene Dietrich from an Austrian who was a scriptwriter for Billy Wilder. But that has nothing to do with World War I. As I said, to me this project soon turned into a project about war in general, not just World War I. One of the impressions I formed during my research is that World War I and II belong together; one is unthinkable without the other, and to me, in a way they are one and the same war. Early in the piece, there is a line: “War does not break out. It waits.”What do you mean by this? I always find it very strange when you hear on the news that a war broke out here or there. What does that mean? Was it locked up before? Does it break out like the plague breaks out? It is a strange choice of words. I think that war is always there, always present, but sometimes it is resting. What did you learn about World War I in the course of working on this piece? Nobody can tell me anything new about that war. I have accumulated know­ ledge, that is all I can say. But when everything was done, an incredible ­burden was taken from my shoulders. I love playing the piece, performing it on stage is absolutely wonderful, but researching it and dealing with the subject was simply very painful. What is the ideal effect the piece could have? I am one of that strange species called avant-garde entertainers: I never want to bore people. I don’t think about it didactically. Except that perhaps after the percussion performance, the audience has an idea how long this war was. In this “percussion version” of World War I, the length of the war for various nations is indicated by beating on tubes representing the different countries. Exactly. Meaning 120 beats per minute, in 4/4 time. Every beat represents a day of war involvement for the country in question or the alliance. They are all symbolized by plastic tubes of different lengths. 10 Interview


Those 120 beats per minute are a Techno frequency that might seem like an invitation to dance, which seems a bit odd, given the occasion.Was that your intention? I conceived this at my desk—the implementation of the sound is in the hands of my three colleagues and is somewhat coincidental. In the first performances, though, I did find it strange that some people suddenly started ­clapping along at another juncture of the piece, where we have created a collage of various old hymns. I thought to myself: are you serious? But that is also the result of a certain ambiguity that runs through the entire piece. Which you obviously enjoy? Yes, we also enjoy it. Did you worry that LAMENT might be too “beautiful”, too “aesthetic”? Is a performance about war permitted to be this entertaining? What I absolutely did not want was the sound of war, battle noises, all those big bangs. During the preparatory phase, when I didn’t know how to go on, I dreamed of T   om Waits, whom I met twice in my life. In my dream I asked him whether he would help me. The next morning, an American ­artist friend came to see me, and I told him about my difficulties with this commissioned work. Of all people, he quoted Tom Waits: “You have to make the horrible look beautiful.” I don’t believe it, I thought, that’s how dreams work. And I stuck to this piece of advice: to make the horrible look beautiful. Are these performances at the Pierre Boulez Saal truly going to be the last three ­performances of  LAMENT? The piece was written for this commemorative cycle that began in 2014 and now ends naturally in 2018, exactly 100 years after the end of the war. But it’s a stage work—theoretically it can be performed again and again.

Interview: Rainer Schmidt Translation: Alexa Nieschlag

Interview 11


SONG CREDITS Kriegsmaschinerie Bargeld / Bargeld, Chudy, Hacke, Arbeit, Moser Hymnen Bargeld (nach verschiedenen Nationalhymnen) / Arr.: Bargeld, Chudy, Hacke, Arbeit, Moser The Willy-Nicky Telegrams Bargeld (nach der telegraphischen Korrespondenz zwischen Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preußen and Nikolaj Alexandrowitsch Romanow) / Bargeld, Chudy, Hacke, Arbeit, Moser In De Loopgraaf Paul van den Broeck (1916) / Bargeld, Chudy, Hacke Der 1. Weltkrieg (Percussion-Version) Bargeld / Bargeld, Chudy, Hacke On Patrol in No Man’s Land James Reese Europe, Blixa Bargeld / Arr: Bargeld, Chudy, Hacke, Arbeit, Moser Originalaufnahme: The 369th Infantry Regiment Band „The Harlem Hellfighters“ Achterland Paul van den Broeck (1916) / Bargeld, Chudy, Hacke, Arbeit, Moser Lament Bargeld / Bargeld, Chudy, Hacke, Arbeit, Moser Wachszylinderaufnahmen des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, gesprochen von Kriegsgefangenen How Did I Die? Bargeld / Bargeld, Chudy, Hacke Sag mir, wo die Blumen sind Max Colpet / Pete Seeger All of No Man’s Land Is Ours James Reese Europe / Arr: Bargeld Originalaufnahme: The 369th Infantry Regiment Band „The Harlem Hellfighters“

Für die Live-Aufführungen von LAMENT wurden auch einige andere Stücke der Einstürzenden Neubauten in die Setlist aufgenommen, die in vielschichtiger Weise mit dem Themenkomplex Erster Weltkrieg in Verbindung gebracht werden können. Armenia 3 (Bargeld / Bargeld, Chudy, Hacke, Arbeit, Moser) wurde eigens für die LAMENT-­ Aufführungen arrangiert und ist bisher unveröffentlicht. Armenien als Motiv zieht sich durch alle Schaffensphasen der Einstürzenden Neubauten. Armenia (Bargeld / Bargeld, Unruh, Einheit, ­Hacke, Chung) wurde 1983 auf dem Album Zeichnungen des Patienten OT veröffentlicht,  Armenia 2 erschien 1991 auf Strategies Against Architecture II. Let’s Do It A DaDa! (Bargeld / Bargeld, Chudy, Hacke, Arbeit, Moser) erschien 2007 auf dem Album Alles Wieder Offen und könnte als musikalisch-fröhliches Symposion mit den Vertretern von Dada, Futurismus, Expressionismus, Surrealismus und anderen Strömungen in den 1910er/20er Jahren gehört werden. Ich Gehe Jetzt (Bargeld / Bargeld, Chudy, Moser, Arbeit) wurde 2004 auf dem Album Perpetuum Mobile veröffentlicht und ist in diesem Fall tatsächlich so gemeint: Das Konzert ist zu Ende! Es könnte aber auch mit dem Stück How Did I Die? in Verbindung gebracht werden…


I Kriegsmaschinerie Hymnen The Willy-Nicky Telegrams In De Loopgraaf Der 1. Weltkrieg (Percussion-Version) On Patrol in No Man’s Land Achterland Armenia 3 Lament How Did I Die?

II Sag mir, wo die Blumen sind Let’s Do It A DaDa! All of No Man’s Land Is Ours

III Ich Gehe Jetzt


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Kriegsmaschinerie 0:00 – Der Krieg bricht nicht aus, war nie gefangen oder angekettet, 0:46 – regt sich, 1:12 – wenn sich in seiner Umgebung etwas ändert, 1:31 – erst ein wenig, 1:47 – hin und her in seinem zerwälzten Grund, 1:59 – dann dreht er seinen Kopf, lässt die eisernen Nackenwirbel knacken, 2:19 – baut sich langsam auf in vergessen geglaubten Bewegungen, 2:36 – richtet sich allmählich, ächzend, aber immer sicherer auf, 2:52 – von Enttäuschungen, zerfetzten Hoffnungen, falschen Schuldzuschreibungen, Fatalismen zehrend, 3:06 – von herumdümpelnden Religionslügen, 3:28 kommt zu alten Kräften, genährt von Ohnmacht, Armut. 3:40 – Er setzt sich neu zusammen aus zusammengeklaubten Resten geschichtlichen Mülls, verschlissenen, 3:57 – verrotteten Überbleibseln, die mit Blut gewaschen werden sollen, um wieder brauchbar zu erscheinen. 4 :11 – Er hebt sich langsam, als wären seine Gelenke aus der Übung gekommen, 4:23 – streckt sich, wächst, 4:38 – bis zu legendärer, heldenhafter Übergröße. 4:50 – bis er fest steht, gewaltig; baumelnde Ketten. 5:07 – Der Krieg bricht nicht aus. Er wartet. Auf ein einziges, tausendfaches: 5:17 – Hurrah!

War Machinery War does not break out, and it is never caught or chained; it moves, if something in its environment changes, only a little at first, waltzing back and forth on the ground it ­tramples, then it turns its head, letting its iron cervical column crack, building itself up slowly, in movements believed forgotten, straightening up gradually, groaning, but ever more ­certainly, it regains its old strength from debilitating disappointments, shredded hopes, false blame, and fatalism, from long-circulating lies in the name of religion, nursed by powerlessness and poverty. It reassembles itself from the collected remains of historical garbage; ­worn-out, rotten debris, which must be washed with blood so that it might seem useful again. It lifts itself up slowly, as if its joints are rusty and out of practice; it stretches and grows, to legendary, heroic, oversized proportions, until it stands firm, formidable; dangling chains. War does not break out. It waits. For a singular, but thousandfold: Hurrah!

Kriegsmaschinerie 15


Hymnen Hymns Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands! God save the King! Krieger- und Heldentat finde ihr Lorbeerblatt; Long to reign over us an deinem Thron! O Lord our God arise, Scatter his enemies And make them fall; Gerecht und fromm und mild ist er sein Ebenbild. On Thee our hopes we fix, Heil Christian Dir! Sei Kaiser Wilhelm, hier lang deines Volkes Zier, Send him victorious,

16 Hymnen

Happy and glorious, kämpfen und bluten gern Für Thron und Reich! Heilige Flamme, glüh, glüh und erlösche nie. Vive le Roi! Beißen wie Du, wer kann’s? Nüsse des Vaterlands Lässt Du gewiss nicht ganz. Heil Kaiser Dir! Heil dir im Siegerkranz! Kartoffeln mit Heringsschwanz. Heil Kaiser dir! Friss in des Thrones Glanz Die fette Weihnachtsgans, Uns bleibt der Heringsschwanz in Packpapier.


Ganz direkt gesagt handelt es sich bei diesem Lied um die bissig-geistreiche Rekonstruktion einer typischen Nationalhymne durch die Neubauten. Das Stück basiert auf einer alten Hymne, die einigen Kriegsteilnehmern, ­darunter Großbritannien, Deutschland und Kanada, gemeinsam war. Dass die wichtigsten Kriegsgegner von Monarchen regiert wurden, die miteinander verwandt waren, schmälerte nicht ihren Wunsch, einander zu besiegen. Der Text wechselt alle paar Zeilen die Sprache, während die allzu vertraute, schwermütige Melodie die gleiche bleibt. Erst in der letzten Strophe ändert das Lied seine Richtung: Hier werden die vielsprachigen unterwürfigen Ehr­ erbietungen an die europäischen Monarchen ersetzt durch ein paar beißende Spott- und Knittelverse, die Heinrich Hoffmann, der Autor des Struwwelpeter, zu Papier gebracht hatte. Der königliche Hof war nicht amüsiert und ließ Hoffmann für seinen Witz verhaften. Die letzten Zeilen sind eine anonyme Persiflage, die das Festmahl eines Monarchen mit Weihnachtsgans mit der ­Ernährung seines Volkes vergleicht, das von Kartoffeln und Heringsschwänzen in Packpapier leben muss.

Pitched straight, this is Neubauten’s bitingly witty reconstruction of a common stock national hymn rooted in an old anthem variously shared by a number of participants in the war, including the UK, Germany, and Canada. That the major opposing powers were ruled by related monarchs didn’t blunt their desire to beat each other down. Here, the lyrics change language every few lines over its overfamiliar somber melody. The song changes tack in the last verse, which overwrites the multilingual doffed-cap tributes to Europe’s monarchs with a few scathing lines of beery doggerel scrawled by Heinrich Hoffmann, author of Struwwelpeter (Shockheaded Peter). The royal court was not amused, jailing Hoffmann for his wit. The last stanza is an anonymous persiflage that compares a king’s feasting on Christmas goose to his people’s diet of potato and herring pricks scraped from packing paper.

Hymnen 17


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The Willy-Nicky Telegrams Tsar to Kaiser

I appeal to you to help me An ignoble war has been declared Very soon I shall be overwhelmed Forced to take extreme measures Such a calamity European war I beg you to do what you can Stop your allies from going too far Nicky Kaiser to Tsar (This and the previous telegram crossed.)

The spirit still dominates the country That led them to murder their own king Dastardly murder Deserved punishment In this case politics plays no part at all Your very sincere and devoted friend and cousin Willy Kaiser to Tsar

I cannot consider Austria’s action An “ignoble” war It would be quite possible for Russia to remain A spectator of the conflict Without involving Europe in the most horrible war Military measures would jeopardize my position as mediator Which I readily accepted on your appeal To my friendship and my help Willy Tsar to Kaiser (This and the previous telegram crossed.)

Thanks for your telegram conciliatory and friendly The official message by your ambassador is in a very different tone Beg you to explain this divergency! It would be right to give the problem to the Hague-conference Trust in your wisdom and friendship Your loving Nicky

The Willy-Nicky Telegrams 19


Tsar to Kaiser

Military measures for reasons of defense I hope that they won’t interfere with your part as mediator We need your pressure on Austria to come to an understanding Nicky Kaiser to Tsar (This and the previous telegram crossed.)

If Russia mobilizes, my role as mediator is ruined The weight of the decision lies on your shoulders now Who have to bear the responsibility for Peace or War Willy Kaiser to Tsar

In my endeavors to maintain the peace I have gone to the utmost limit Responsibility for the disaster will not be laid at my door The peace of Europe may be maintained If Russia stops the military measures My friendship for you and your empire has always been sacred to me Willy Tsar to Kaiser (This and the previous telegram crossed.)

To stop our military preparations is technically impossible No provocative actions Negotiations take place I give you my solemn word for this We are far from wishing war Your affectionate Nicky Tsar to Kaiser

I wish to have the guarantee from you that these measures do not mean war We shall continue negotiating for the benefit of our countries Universal peace dear to our hearts Our long proved friendship must succeed in avoiding bloodshed Nicky Kaiser to Tsar

I pointed out to you the way by which war may be avoided I requested an answer for noon today, no telegram has reached me yet I therefore have to mobilize my army Willy

20 The Willy-Nicky Telegrams


Die Willy-Nicky-Telegramme Zar an Kaiser

Ich wende mich an Dich um Hilfe. Ein unwürdiger Krieg wurde erklärt Ich sehe voraus, daß ich sehr bald dem Druck erliegen werde Und gezwungen sein werde, äußerste Maßnahmen zu ergreifen Ein solches Unheil Europäischer Krieg Ich bitte dich, alles Dir Mögliche zu tun, Um deine Verbündeten davon abzuhalten, zu weit zu gehen. Nicky Kaiser an Zar (Dies und das vorige Telegramm haben sich gekreuzt.)

Der Geist, der sie zu Mördern ihres eigenen Königs machte, Herrscht noch im Lande. Feiger Mord Verdiente Strafe. In diesem Falle spielt die Politik keinerlei Rolle. Dein sehr aufrichtiger und ergebener Freund und Vetter Willy Kaiser an Zar

Ich kann Österreichs Handlung Nicht als einen „unwürdigen“ Krieg ansehen Es ist für Rußland durchaus möglich, Bei dem Konflikt in der Rolle des Zuschauers zu verharren, Ohne Europa in den entsetzlichsten Krieg zu verwickeln Militärische Maßnahmen würde meine Stellung als Vermittler gefährden, Die ich auf Deinen Appell An unsere Freundschaft und meinen Beistand bereitwillig angenommen habe. Willy Zar an Kaiser (Dies und das vorige Telegramm haben sich gekreuzt.)

Danke für Dein versöhnliches und freundliches Telegramm. Die offizielle Mittelung von Deinem Botschafter war in einem ganz anderen Ton gehalten. Bitte Dich, diese Verschiedenheit aufzuklären! Es würde sich empfehlen, das Problem der Haager Konferenz vorzulegen. Vertraue auf Deine Weisheit und Freundschaft. Dein dich liebender Nicky Zar an Kaiser

Militärische Maßnahmen zum Zwecke der Verteidigung Ich hoffe, daß sie in keiner Weise dein Amt als Vermittler stören werden Wir brauchen Deinen starken Druck auf Österreich, damit es zu einer ­Verständigung kommt. Nicky The Willy-Nicky Telegrams 21


Kaiser an Zar (Dies und das vorige Telegramm haben sich gekreuzt.)

Wenn Rußland mobil macht, so wird meine Vermittlerrolle unmöglich gemacht. Das ganze Gewicht der Entscheidung ruht jetzt allein auf Deinen Schultern, Sie haben die Verantwortung für Krieg oder Frieden zu tragen. Willy Kaiser an Zar

In meinem Bestreben, den Frieden zu erhalten Bin ich bis an die äußerste Grenze des Möglichen gegangen. Die Verantwortung für das Unheil wird nicht auf mich fallen. Noch kann der Friede Europas durch Dich erhalten bleiben, Wenn Rußland einwilligt, die militärischen Maßnahmen einzustellen. Meine Freundschaft für Dich und Dein Reich ist mir stets heilig gewesen. Willy Zar an Kaiser (Dies und das vorige Telegramm haben sich gekreuzt.)

Es ist technisch unmöglich, unsere militärischen Vorbereitungen einzustellen. Keinerlei herausfordernde Handlungen Solange die Verhandlungen andauern. Ich gebe Dir mein feierliches Wort darauf. Es liegt uns fern, einen Krieg zu wünschen. Dein herzlich ergebener Nicky Zar an Kaiser

Ich wünsche von Dir dieselbe Garantie zu erhalten, daß diese Maßnahmen ­ nicht Krieg bedeuten Und daß wir fortfahren werden, zu verhandeln zum Heile unserer Länder Und des allgemeinen Friedens, der unser aller Herzen teuer ist. Unserer langbewährten Freundschaft muß es gelingen, Blutvergießen zu vermeiden. Nicky Kaiser an Zar

Ich habe Deiner Regierung den Weg angegeben, durch den der Krieg noch vermieden werden kann. Obwohl ich um Antwort bis heute mittag gebeten hatte, hat mich bis jetzt noch kein Telegramm erreicht. Ich war daher genötigt, meine Armee mobil zu machen. Willy

22 The Willy-Nicky Telegrams


The Willy-Nicky Telegrams ist ein scheinbar zärtliches Duett, das von der Doppelzüngigkeit zweier königlicher Cousins geprägt ist, die einen Dialog per Telegramm aufrecht erhalten: der deutsche Kaiser Wilhelm und der russische Zar Nikolaus, wobei Alex Hacke Nickys Texte singt und Bargeld die von Kaiser Wilhelm. Bargeld hat die Texte der Telegramme des Duos eigentlich nur in die Form eines Songs gegossen, in dem beide ihre unsterbliche Zu­neigung zum anderen beschwören, um den Frieden zu erhalten, während sie heimlich ihre Truppen in Stellung bringen für den unvermeidlichen Krieg zwischen ihren Ländern. „Innerhalb Europas ist Frankreich eine Republik, und England war das einzige Land, das von einer konstitutionellen Monarchie regiert wurde,“ sagt Bargeld, „während natürlich das russische Reich und das preußische Deutschland beide von altmodischen Monarchen beherrscht wurden. Was England letztlich gerettet hat, war seine konstitutionelle Monarche. Man hat ja gesehen, wie der Krieg ausging. Danach gab es keinen Zaren mehr und keinen ­deutschen Kaiser.“

The Willy-Nicky Telegrams is a mock-tenderly sung duet characterized by the duplicity of two royal cousins conducting a running dialogue via telegram: Germany’s Kaiser Wilhelm and Russia’s Tsar Nicholas, with Alex Hacke ­singing Nicky’s lines and Bargeld singing Kaiser Willy’s Bargeld basically adapted the texts of the duo’s telegrams into song form, with each calling on their undying affection for the other to promote peace, while slyly maneuvering their troops for the inevitable war between their nations “Within Europe, France is a republic, and England was the only country in Europe run as a constitutional monarchy,” says Bargeld, “while of course the Russian Empire and Prussian Germany were both completely ruled by old-fashioned monarchies The thing that saved England was having a ­constitutional monarchy Well, you saw how the war ended There was no Tsar after that, and no German Kaiser anymore ”

The Willy-Nicky Telegrams 23


In De Loopgraaf In de loopgraaf Hoe kan ik dansen in 4/4? Hoe kan ik dansen in de smalle grachten? Het is zo stil vannacht De maan is rond en vol Ik wil Ik wil dansen Maar hoe kan ik dansen in de smalle grachten? De kameraden zijn moe tot in hun botten De kameraden hebben jenever en een accordeon Ze manillen met de botten verzonken in de modder Ik wil dansen in 4/4 in mijn smalle gracht niet in mijn abri nee, in de vrije nacht Ik wil dansen, nog met de laatste sterren Dageraad brengt salvo’s en granaten daartussen onverstoord door het gebulder roept een koekoek Hoe kan ik dansen? Hoe kan ik dansen in 4/4? in mijn veel te smal graf

24 In De Loopgraaf


Im Schützengraben

In the Trenches

Im Schützengraben Wie soll ich im Viervierteltakt tanzen? Wie soll ich in den schmalen Gängen tanzen? Es ist so still heute nacht Der Mond ist rund und voll Ich möchte Ich möchte tanzen Aber wie soll ich in den schmalen Gängen tanzen? Die Kameraden sind todmüde Die Kameraden haben Genever und ein Akkordeon Sie spielen Manille Mit den Stiefeln tief im Matsch Ich möchte im Viervierteltakt tanzen In meinem schmalen Gang Nicht in meinem Unterstand Nein, draußen im Freien Ich möchte mit den letzten Sternen tanzen Das Morgengrauen bringt Maschinengewehrfeuer und Granaten Und dazwischen Ruft, ungestört vom endlosen Kanonendonner, Ein Kuckuck Wie soll ich tanzen? Wie soll ich im Viervierteltakt tanzen? In meinem Grab, das viel zu schmal ist

In the trenches How can I dance in 4/4? How can I dance in the narrow canals? It is so quiet tonight The moon is round and full I want I want to dance But how can I dance in the narrow canals? The comrades are tired to the bone The comrades have jenever and an accordion They play manille With their boots sunk deep in the mud I want to dance in 4/4 In my narrow canal Not in my dugout No, in the open air I want to dance with the last stars Daybreak brings machine gun fire and grenades And in between Undisturbed by the endless roar A cuckoo calls How can I dance? How can I dance in 4/4? In my grave that is way too narrow

In De Loopgraaf 25


In De Loopgraaf ist das erste Lied in LAMENT, das auf einem Text von Paul van den Broeck basiert, einem flämischen Schriftsteller, der möglicherweise Verbindungen zu anderen Schriftstellern und Künstlern des Dadaismus und des Expressionismus hatte. Scheinbar zog er es jedoch vor, allein zu ­arbeiten anstatt mit modischen Strömungen zu schwimmen, und im Gegensatz zu diesen gruppenzugehörigen Künstlern, die den Krieg ablehnten oder aus Angst aus ihren Heimatländern flohen, fasste der Pazifist van den Broeck den Entschluss, sich freiwillig zu melden, obwohl er bereits aus medizinischen Gründen ausgemustert worden war, um die Wahrheit über den Krieg selbst zu ergründen. Der Titel bezieht sich möglicherweise auch auf eine der ersten großen Schlachten des Krieges, die Schlacht um Diksmuide, die Stadt, die LAMENT in Auftrag gab, und die die belgische Armee bis Oktober 1914 hielt, bevor sie sich Anfang des folgenden Monats den Deutschen ergab. M ­ usikalisch wird das Trauma der Schlacht evoziert durch eine Stacheldraht-­Harfe, ­konstruiert und wie ein Dulzimer gespielt von Andrew Unruh, als t­äuschend herrschaftlicher Tanz.

In De Loopgraaf is the first of two LAMENT songs setting texts by Paul van den Broeck, a Flemish writer with possible links to other Dada and ­Expressionist writers and artists across early–20th century Europe. But it ­appears that he preferred to work alone rather than go with the flow of ­fashionable movements, and unlike such affiliated artists who opposed the war or fled their homeland out of fear, the pacifist van den Broeck chose to sign up even after he had been medically exempted to find out the truth of the war for himself. The title might also allude to one of the first major battles of the war fought over LAMENT’s original host city Diksmuide, which the ­Belgian forces held through October 1914 before capitulating to the Germans early the following month. Musically, the trauma of battle is evoked by a ­barbed-wire harp constructed and played, dulcimer-like, as a deceptively stately dance by Andrew Unruh.

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Paul van den Broeck *22. Juli 1882 in Antwerpen † Sommer 1940 (?) bei Pau nahe der spanischen Grenze

Abgesehen von einer kleinen Anzahl an erhaltenen Gedichten ist wenig über Paul van den Broeck bekannt. Er scheint eine gesundheitlich und psychisch labile Kindheit in einem Landheim verlebt zu haben, wo er durch sexuell ­beleidigende Äußerungen, die der schlechten Umgebung geschuldet waren, einen minderen Skandal verursachte. Über seine Jugend oder berufliche Laufbahn ist nichts überliefert, erst durch seinen Eintritt in die Armee taucht der Name wieder auf. Obwohl Pazifist (und älter als die meisten Soldaten), meldete er sich 1915/16 trotz ärztlicher Freistellung zum Militärdienst, vermutlich aus ähnlichen Beweggründen wie sein berühmter Schriftstellerkollege Alain (Émile-Auguste Chartier). Er wollte sich offenbar so wie dieser ein eigenes Bild machen, da er allen Berichten über diesen Krieg nicht traute, eben auch nicht den Verlautbarungen von Künstlerkollegen. Ein Grund dafür, dass fast nichts von seinem Werk überliefert ist, könnte darin liegen, dass er selbst vieles vernichtete, da ihm es wohl zuwider war, Teil des „war poetry boom“ (Robert Graves) werden zu können. Das Wenige ­jedoch zeugt von einer eigenwilligen und vielformigen Melange aus Futurismus, Expressionismus, Dadaismus und dem frühen Surrealismus. Im Jahr 1919 unternimmt er verschiedene Reisen, um Kontakte zu knüpfen, zumeist vergeblich: Erste Station ist das Cabaret Voltaire in Zürich, wo er zwar Walter Serner kennenlernt, die Dada-Szene wird jedoch von Huelsenbeck und Tzara dominiert, die ihn ignorierten. Auch in München gelingt ihm ­keinerlei Anschluss an die künstlerisch-politisch Aktiven. Die sich überschlagenden Ereignisse um den Versuch, eine Räte-Republik zu errichten, verhindern dies. Danach besucht er das Museum in Köln, wo er die frühe Kölner Dada-­ Gruppe um Max Ernst zu treffen hoffte, da er wie Ernst die dortige Sammlung schätzte, um die flämischen Meister Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel sowie den deutschen Romantiker Caspar David Friedrich im Original zu ­studieren. Ein Treffen der beiden ist jedoch nicht dokumentiert. Allein in Berlin findet er flüchtigen Anschluss, wo er seinen schon bekannteren Dichterkollegen und vor der Verhaftung geflohenen Landsmann Paul von ­Ostaijen besucht, diesem jedoch wegen seines flämischen Patriotismus kritisch gegenübersteht, ihn aber künstlerisch besonders in der Verbindung von dem noch jungen Medium Film mit Dichtung sowie Musik fördert (siehe Ostaijens De Jazz van het Bankroet von 1920). Im Verlaufe seines Aufenthaltes in Berlin ergeben sich durch von Ostaijen Bekanntschaften mit Else Lasker-Schüler, George Grosz, Salomon Friedländer (Mynona), Paul Scheerbart und Carl ­Einstein, dem er später noch einmal begegnete, im Spanischen Bürgerkrieg. Henri Michaux, mit dem er sein Einzelgängertum gemein hatte, trifft er 1931 nach dessen Chinareise.

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Vermutlich macht sich Paul van den Broeck wie viele seiner Künstler-­ Zeitgenossen auf nach Spanien, um gegen die Diktatur zu kämpfen. Enttäuscht von den Künstlerkreisen und deren Mechanismen erscheint dieser Weg noch der einzige, der den frühen Ansprüchen an etwas „Neues“ Genugtuung bieten könnte. Zunächst auf Mallorca, wo er Harry Graf Kessler und Robert von Ranke-Graves begegnet, schließt er sich dem anarchistischen Kommando von Buonaventura Durruti an, den er offensichtlich aus dessen Exilzeit kannte: 1930 erhielt Durruti eine Aufenthaltserlaubnis in Belgien, wo er zwei Jahre in relativer Ruhe leben konnte. Nach dieser letzten Begegnung gilt Paul van den Broeck als verschollen. Wer wen beeinflusste, lässt sich letztlich nicht mehr nachweisen.

Paul van den Broeck *July 22, 1882 in Antwerp † Summer 1940 (?) near Pau, close to the Spanish border

Except for a small number of surviving poems, little is known about Paul van den Broeck. He ostensibly spent an unhealthy and emotionally ­unstable childhood at a boarding school, where he caused a small scandal by using sexually offensive language, attributable to the influences of a bad ­environment. Nothing is known about his youth or his professional development. His name first reappears when he joined the army. Although a pacifist (and older than most soldiers), he voluntarily signed up for military service in 1915–16, in spite of his medical exemption. His motives were presumably ­similar to those of his well-known colleague, the writer Alain (Émile-Auguste Chartier). Like him, van den Broeck apparently wanted to form his own ­impressions, because he did not trust all the reports about this war, nor the “pronouncements” made by fellow artists. One reason why almost none of van den Broeck’s work has survived may in fact be because he himself destroyed much of it. The likelihood of being ­associated with the “war poetry boom” (Robert Graves) was almost certainly abhorrent to him. The few works by van den Broeck that have been preserved show an unconventional and multifaceted blend of Futurism, Expressionism, Dadaism, and early Surrealism. In 1919, he made various trips intended to establish contacts, but most of them were in vain. His first stop was at the Cabaret Voltaire in Zurich, where, although he did make the acquaintance of Walter Serner, the Dada scene was

28 In De Loopgraaf


dominated by Huelsenbeck and Tzara, who ignored him. Nor did he fare much better trying to make connections to the politically active cultural scene in Munich. Events surrounding an attempt to set up a Bavarian Soviet Republic prevented this. Afterwards, he visited the museum in Cologne, where he hoped to meet the early Dada group around Max Ernst, because like Ernst, van den Broeck not only greatly admired the museum’s collection of works by the Flemish masters Hieronymus Bosch and Pieter Bruegel, he also wanted to study the German Romantic painter Caspar David Friedrich in the original. Whether or not the two did in fact meet is not documented. Van den Broeck established fleeting connections solely in Berlin, when he paid a visit to his better-known compatriot and fellow poet Paul von Ostaijen, who had fled there to escape arrest. Although van den Broeck was critically opposed to Ostaijen’s Flemish patriotism, he supported him artistically, especially in connection with the still young medium of film with poetry, as well as with music (see Ostaijen’s De Jazz van het Bankroet from 1920). During the course of his stay in Berlin, through Ostaijen he made acquaintances with Else Lasker-Schüler, George Grosz, Salomon Friedländer (Mynona), Paul Scheerbart, and Carl Einstein, whom he later met once again during the Spanish Civil War. He met Henri Michaux in 1931 following the latter’s travels in China, and like Michaux, van den Broeck tended to go it alone in life. Like many of his artist contemporaries, Paul van den Broeck set off for Spain, presumably to fight against dictatorship. Disappointed by artists’ circles and their inner mechanisms, this path seemed like the only one that might be able to satisfy his early longings for something “new”. First in Majorca, where he met Harry Graf Kessler and Robert von Ranke-Graves, van den Broeck then joined the anarchistic commando of Buenaventura Durruti (aka the Durruti Column).Van den Broeck obviously had known Durruti from the latter’s period of exile in Belgium in 1930, where he had received permission to reside and managed to live a relatively quiet life for two years. Following this final encounter, Paul van den Broeck went missing. In the final analysis, who influenced whom, and in what capacity, can no longer be established.

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Der 1. Weltkrieg (Percussion-Version)

Jedes am Krieg beteiligte Land wird repräsentiert durch eine Röhre, die ­Kolonialmächte (Großbritannien, Deutschland usw.) einschließlich ihrer ­Kolonien durch mehrere Röhren, beginnend mit dem Zeitpunkt ihres Kriegseintritts und bis zum Ende ihres militärischen Engagements. Ein Tag entspricht einem Schlag innerhalb eines Taktes.

Österreich-Ungarn Serbien Deutschland Russland Frankreich Großbritannien Japan Osmanisches Reich Italien Bulgarien Portugal Rumänien USA Griechenland Ende des Krieges

28. Juli 1914 28. Juli 1914 1. August 1914 1. August 1914 3. August 1914 4. August 1914 23. August 1914 31. Oktober 1914 23. Mai 1915 2. Oktober 1915 9. März 2016 27. August 1916 6. April 1917 26. Juni 1917 11. November 1918

1/1–389/3 1/1 2/1 2/1–328/3 2/3 2/4 7/3 20/4–388/3 75/4–389/3 110/2–381/2 146/4 190/2 246/4 267/4 Ende Takt 392

392 Viervierteltakte bei 90 bpm: ca. 17 Minuten; bei 120 bpm: ca. 13 Minuten

Der 1. Weltkrieg (Percussion-Version) 31


World War I (Percussion Version) Each country involved in the war is represented by one pipe; the colonial powers (UK, Germany, etc.) including their colonies and dependencies are represented by a whole set of pipes, starting along the timeline of entering the war until ending their military engagement. Each day is one beat within a bar.

Austria-Hungary July 28, 1914 Serbia July 28, 1914 Germany Aug 1, 1914 Russia Aug 1, 1914 France Aug 3, 1914 United Kingdom Aug 4, 1914 Japan Aug 23, 1914 Ottoman Empire Oct 31, 1914 Italy May 23, 1915 Bulgaria Oct 2, 1915 Portugal March 9, 1916 Romania Aug 27, 1916 United States Apr 6, 1917 Greece June 26, 1917 End of the war Nov 11, 1918

1/1–389/3 1/1 2/1 2/1–328/3 2/3 2/4 7/3 20/4–388/3 75/4–389/3 110/2–381/2 146/4 190/2 246/4 267/4 End bar 392

392 4/4 bars at 90 bpm: c. 17 minutes; at 120 bpm: 13 minutes]

32 Der 1. Weltkrieg (Percussion-Version)


„Das hier ist ein Beispiel für eine Komposition, die mithilfe von Wikipedia entstanden ist,“ sagt Bargeld lächelnd. „Ich habe sie mathematisch ausgerechnet unter der Vorgabe, dass ein Schlag einem Tag entspricht. Wir spielen im Viervierteltakt bei 120 beats per minute, und jedes Instrument ist einer Kriegsmacht zugeordnet. Wir haben es auch mit 60 bpm versucht, das stimmt – in dem Tempo dauerte es 26 Minuten, was ziemlich nervtötend war. Wir hätten es auch auf 160 bpm beschleunigen können, dann wäre es komisch gewesen. 120 ist also eine gute Entscheidung für die Mitte gewesen. Wir haben 20 ­verschiedene Röhren, die die unterschiedlichen Länder und die Dauer ihrer Kriegsteilnahme repräsentieren. Das fängt an bei Schlag 1, Serbien, Österreich, Deutschland, und tack, tack, tack, tack, jede Nation, die sich an dieser großen Party des Ersten Weltkriegs beteiligt hat, kommt dazu, bis zum Waffenstillstand. Es ist ein statistisches Musikstück, ein statistisches Stück Tanzmusik sogar, denn wenn man es hört, möchte man sich dazu bewegen.“

“This is an example of a Wikipedia-supported composition,” smiles ­ argeld. “I did a mathematical calculation, saying each beat is one day, we’re B doing it in 4/4, at 120 beats per minute, and each instrument is one of the ­powers involved. We tried it in 60 bpm, it is true—that was 26 minutes long, which was quite annoying. We could have sped it up to 160 bpm and it would have been comical. So 120, it’s a good medium decision. We had 20 different pipes to represent all the different nations and the duration of their involvement. It starts from beat 1, Serbia, Austria, Germany, and tak tak tak tak, whoever ­comes in joins this big party of the First World War run until the start of armistice. “It’s a statistical piece of music,” declares Bargeld, “a statistical piece of dance music in fact, because if you hear that, you want to move around to it.”

Der 1. Weltkrieg (Percussion-Version) 33


On Patrol in No Man’s Land What the time? Nine? Fall in line Alright, boys, now take it slow Are you ready? Steady! Very good, Eddie Over the top, let’s go Quiet, lie it, else you’ll start a riot Keep your proper distance, follow ’long Cover, brother, and when you see me hover Obey my orders and you won’t go wrong There’s a Minenwerfer coming— look out! Hear that roar, there’s one more… Stand fast, there’s a very light… Don’t gasp or they’ll find you all right! Don’t start to bombing with those hand grenades There’s a machine gun, holy spades! Alert, gas! Put on your mask. Adjust it correctly and hurry up fast! Drop! There’s a rocket from the Boche barrage… Down, hug the ground, close as you can, Creep and crawl, follow me, that’s all… What do you hear? Nothing near Don’t fear, all is clear That’s the life of a stroll When you take a patrol Out in No Man’s Land Ain’t it grand? Out in No Man’s Land “We can’t stop these men… They are devils… They smile while they kill… and you can’t catch them alive” There’s a Minenwerfer… “Right, boys! Go on’n’do it! Get the bloody boys! Get them on the bayonet!… Ram it on!” What do you hear? Nothing near Don’t fear, all is clear That’s the life of a stroll When you take a patrol Out in No Man’s Land Ain’t it grand? Out in No Man’s Land

34 On Patrol in No Man’s Land


Patrouille im Niemandsland Wieviel Uhr? Neun? Aufstellung Gut, Jungs, langsam jetzt Seid ihr soweit? Ruhig! Sehr gut, Eddie Über den Grabenrand, auf geht’s Ruhig liegen, sonst gibt’s einen Aufstand Haltet Abstand, folgt den anderen Gib mir Deckung, Bruder, und wenn ich warte Hör auf mein Kommando, dann wird es gehen Da kommt ein Minenwerfer – Pass auf! Hört das Getöse, da ist noch einer… Steht still, da ist ein sehr leises… Nicht keuchen, sonst finden sie euch! Fangt nicht an, mit diesen Handgranaten zu bombardieren Da kommt ein Maschinengewehr, heiliger Strohsack! Achtung, Gas! Setzt die Masken auf. Zurrt sie richtig fest und beeilt euch! Hinlegen! Eine Rakete aus den Geschützen der Boches... Runter, umarmt den Boden, so fest ihr könnt, Kriecht und krabbelt, folgt mir, das ist alles… Was hört ihr? Nichts hier Keine Angst, alles ruhig So ist das Leben, ein Spaziergang Bei einer Patrouille Im Niemandsland Ist es nicht toll? Draußen im Niemandsland „Wir können diese Männer nicht aufhalten… Das sind Teufel… Sie lächeln beim Töten… und lebendig kann man sie nicht gefangen nehmen“ Da kommt ein Minenwerfer… „Richtig, Jungs! Auf sie mit Gebrüll! Holt euch die verdammten Jungs! Holt sie mit dem Bajonett!… Rammt es hinein!“ Was hört ihr? Nichts hier Keine Angst, alles ruhig So ist das Leben, ein Spaziergang Bei einer Patrouille Im Niemandsland Ist es nicht toll? Draußen im Niemandsland

On Patrol in No Man’s Land 35


Die zwei LAMENT-Songs, die den Harlem Hellfighters gewidmet sind, bilden eine der beiden echten Entdeckungen, die aus den Recherchen der Neubauten zu den unbekannten Geschichten des Ersten Weltkriegs hervorgegangen sind. Die Hellfighters, deren Mitglieder überwiegend aus Harlem stammten, waren die Blaskapelle des ersten rein afroamerikanischen Regiments, das im Ausland für die USA zum Kampfeinsatz kam. Zu einer Zeit jedoch, in der noch Rassismus und Rassentrennung herrschten, wollte die U.S. Army ein schwarzes Regiment nicht unter weißer Führung sehen. Stattdessen wurde diese Brigade von Patrioten, die bereit waren, für ihr Vaterland ihr Leben ­hinzugeben, unter französisches Kommando gestellt, damit sie nicht mit weißen amerikanischen Truppen in Berührung kam. Mit dem unerschütterlichen ­Optimismus der Band konzentrieren sich die zwei hier präsentierten Lieder, die man einer Vorstufe des Jazz zurechnen kann, auf ihre Erfolge im Feld. ­Gesungen von Alex Hacke ist dieser erste Song der einzige im ganzen Stück, der vokal Kampfgeräusche simuliert, und das nur, weil sie dem Text eingeschrieben sind. Allen Berichten zufolge waren die Hellfighters in der Schlacht furchtlos und bei denjenigen Deutschen, die das Pech hatten, ihnen gegenüberzustehen, gefürchtet und verhasst, wie eine Textzeile von einem deutschen Offizier, den Bargeld spielt, bestätigt. „Wir haben im Grunde eine postmoderne Bearbeitung des Songs gemacht, und irgendwo in der Mitte kommt auch die Originalaufnahme der Harlem Hellfighters vor, also die Zeile ‚Come on boys, let’s get them, let’s get them on the bayonet‘ und all das. Das ist die originale Platte der Harlem Hellfighters, das sind nicht wir.“ Das 369. Infantrieregiment – das ehemalige 15th New York National Guard Regiment – diente sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg. Es bestand aus Afroamerikanern und Afro-Puertoricanern und war bekannt als erstes ­afroamerikanische Regiment, das mit den Amerikanischen Expeditionsstreitkräften im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurde. Bevor das 15th New York ­National Guard Regiment gegründet wurde, musste jeder Afroamerikaner, der im Krieg kämpfen wollte, sich entweder bei der französischen oder kanadischen Armee verdingen. Das Regiment trug auch die Spitznamen „Black Rattlers“ und „Männer aus Bronze“ (letzteren bei den Franzosen). Der Name Harlem Hellfighters wurde ihnen von den Deutschen verliehen, da sie so zäh waren und nie einen der Ihrigen gefangen nehmen ließen oder dem Feind ­einen Schützengraben oder einen Meter Boden überlassen mussten. Die ­Harlem Hellfighters trugen wesentlich dazu bei, in den USA die öffentliche Meinung über afroamerikanische Soldaten zu verändern und ebneten den Weg für nachfolgende Generationen. Die Kapelle des 369. Regiments spielte nicht nur bei Kampfhandlungen, sondern auch, um die Moral der Truppe zu heben, und war dadurch am Ende ihres Einsatzes zu einer der bekanntesten Militärkapellen Europas geworden. Sie brachte dem Publikum in Großbritannien, Frankreich und anderswo eine bis dahin unbekannte Musikform namens Jazz näher und löste internationales Interesse daran aus. 36 On Patrol in No Man’s Land


LAMENT’s two songs that focus on the Harlem Hellfighters is one of the major revelations to come out of Neubauten’s research into untold stories of the First World War. Largely made up of men from Harlem, the Hellfighters were the marching band to the U.S. Army’s first ever solely African-American regiment sent abroad to fight for their country. But in an era still governed by racism and segregation, the U.S. Army resisted placing a black regiment under white command. Instead, this brigade of patriots ready to die for their country was assigned to French command in order to avoid them mixing with white American forces. Driven by the band’s indomitable optimism, the two pre–jazz like pieces here concentrate on their combat successes. Sung by Alex Hacke, this first song is the only track in the show to vocally simulate the sounds of combat, and that’s only because they’re written into the lyric. By all accounts the Hellfighters proved fearless in battle and were feared and loathed by any Germans luckless enough to come up against them, as a line sung by a German officer played by Bargeld confirms. “Basically we did a post-modern reworking of the song, and we used the original Harlem Hellfighters record somewhere in the middle of the track, too, like ‘Come on boys, let’s get them, let’s get them on the bayonet,’ and all that. That’s actually the original Harlem Hellfighters record, not us.” The 369th Infantry Regiment, formerly known as the 15th New York ­National Guard Regiment, saw action in World War I and World War II. It consisted of African-Americans and African–Puerto Ricans and was known for being the first African-American regiment to serve with the American Expeditionary Force during World War I. Before the 15th New York National Guard Regiment was formed, any African-American who wanted to fight in the war had to enlist in either the French or the Canadian army. The regiment was also nicknamed the Black Rattlers and the Men of Bronze (by the French). The name Harlem Hellfighters was given to them by the Germans due to their toughness and for never having lost a man through capture, nor lost a trench or a foot of ground to the enemy. The Harlem Hellfighters helped change the American public’s opinion on African-American soldiers and paved the way for future generations of them. The 369th Regiment band was relied upon not only in battle but also for morale, so by the end of their tour it had become one of the most famous ­military bands in Europe. It introduced a formerly unknown music called jazz to British, French, and other audiences, and started an international demand for it.

On Patrol in No Man’s Land 37


Achterland Zeg het niet Zeg het niet Zeg het niet Zeg het niet Halve rust betekent: ontluizen! Zij leven enkel van ons bloed Maar van bloed leven ze allen obussen produceren rantsoenen sturen kruit, kogels alles uit het achterland uit de neutrale landen chauffeurs, meisjes, brancardiers, ­ dokters staal maken rails gieten en de mortieren Zeg het niet Zeg het niet Zeg het niet Zeg het niet (Men zou mijn gedachten ook moeten ontluizen) Van bloed leven ze allen

Achterland ist das zweite Stück in LAMENT auf einen Text von Paul van den Broeck. Seine Worte beschreiben den Akt der Entlausung hinter der Front, während einer Kampfpause. „Läuse saugen Blut,“ erläutert Bargeld, „und in seinem Text geht es um Blut, darum, wie alle hier vom Blut leben. Was ich ursprünglich vorhatte, war eine Vignette für jedes Bandmitglied zu schreiben. Die Vignette, die Andrew spielte, war die mit der Stacheldrahtharfe. Das endete mit Andrew in der Rolle des Kriegszitterers am Anfang. Dann kam Alex, der von links nach rechts mit seinen verstärkten Krücken läuft, Rudi Moser spielt auf Geschosshülsen, und ich spiele einen Luftkompressor, den man auch als Entlausungsstation betrachten könnte.“

38 Achterland


Hinterland

Hinterland

Sag’s nicht Sag’s nicht

Don’t say it Don’t say it

Sag’s nicht Sag’s nicht

Don’t say it Don’t say it

Halbe Pause heißt:

Half rest means:

Entlausen!

Delouse!

Sie leben nur von unserem Blut

They live only from our blood

Aber

But

Mit Blut leben sie alle

With blood they all live

Produzieren Patronen

Producing shells

Schicken Rationen

Sending rations

Schießpulver, Kugeln

Gunpowder, bullets

Alles aus dem Hinterland

All from the hinterland

Aus den neutralen Staaten

From the neutral countries

Chauffeure, Mädchen, Sanitäter,

Chauffeurs, girls, stretcher bearers,

Ärzte

doctors

Produzieren Stahl

Making steel

Gießen Schienen

Casting rails

Und die Mörser

And the mortars

Sag’s nicht Sag’s nicht

Don’t say it Don’t say it

Sag’s nicht Sag’s nicht

Don’t say it Don’t say it

(Man sollte meine Gedanken

(One should also delouse

auch entlausen)

Sie leben alle vom Blut

my thoughts)

From blood they all live

Achterland is the second LAMENT piece with a Paul van den Broeck lyric. Taking a break from the frontline, van den Broeck’s words describe the act of delousing. “Lice suck on blood,” says Bargeld, “and his text does this whole thing about blood, about how everybody lives off blood here, and so on. What I originally wanted to do was write a vignette for each member of the band. The vignette that Andrew did was with the barbed-wire harp. This ended up with Andrew as the Kriegszitterer, that is an uncontrollable war ­shaker, in the beginning. Then it goes to Alex walking with amplified crutches from left to right, Rudi Moser is playing ammunition shells, and I play an air compressor, which you could also see as a delousing station.”

Achterland 39


LAMENT 1. Lament DIE DIE

TIGEN

DIE

MÄCHTIGEN

LIE

DEN

LIE

DEN

LIEBEN

DEN KRIEG

DIE

MÄCHTIGEN MACHT

LIEBEN

DEN KRIEG

2. Abwärtsspirale

3. Peter Peccavi „Pater Peccavi“ basiert auf der gleichnamigen Motette des niederländischen Renaissance-Komponisten Clemens non Papa, der den größten Teil seines ­Lebens in Flandern verbrachte. Nach einer Quelle von 1644 liegt Clemens in Diksmuide begraben. Die hier zu hörende Version seines Werks, das das Gleichnis vom verlorenen Sohn zum Inhalt hat, wurde von Jan Tillman Schade und Blixa Bargeld für Streichoktett arrangiert.

“Pater Peccavi” is based on the motet of the same name by Netherlandish Renaissance composer Clemens non Papa, who for most of his life was based in Flanders. According to a 1644 source, Clemens was buried at Diksmuide. The present version of his work, which tells the story of the Prodigal Son, was arranged for string octet by Jan Tillman Schade and Blixa Bargeld.

40 Lament


Wachszylinder-Aufnahmen des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, gesprochen von Kriegsgefangenen (aus dem Lautarchiv der Humboldt-­Universität) Wax cylinder recordings of the parable of the Prodigal Son told by prisoners of war (from the Sound Archive of Humboldt University)

Noel Larribère (Dyretz, 1916) Jean Baptiste Quilichini (Stendal, 1916) Gangaram (Wünsdorf , 1916) John Hickman (Sennelager, 1916) Frederick Bell (Wahn, 1916) Auguste Charnalet (Puchheim, 1917) Theophibe De Boeck (Münster, 1917) Felix Porton (Münster, 1917) Jaques Friekels (Münster, 1917)

Das Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin verfügt über eine weltweit einzigartige akustische Sammlung, die nicht nur Phonetikern, Sprachund Musikwissenschaftlern, sondern auch Germanisten und Historikern ­aufschlussreiches Quellenmaterial bietet. Neben etwa 180 Wachswalzen und einigen Gelatineplatten beherbergt das Archiv 7.500 Schellackplatten, darunter 4.500 Originale und 3.000 Dubletten, die musikalische Erzeugnisse, Sprachen und Dialekte von mehr als 230 Völkern sowie Stimmporträts berühmter Persönlichkeiten dokumentieren. Zum Bestand gehören weiterhin etwa 150 Tonbänder überwiegend mit Sprachstudien, vier Musikinstrumente und einige technische Geräte (Mikrophone, Phonographen u.a.) aus der Geschichte der Sprach- und Schallaufzeichnung sowie deren Analyse. Seit 2014 hat das Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik die Zuständigkeit für das Lautarchiv.

The Sound Archive at Humboldt University in Berlin owns a unique acoustic collection that not only provides phoneticians, linguists, and musicologists with revelatory source material; it is also of interest to German philologists and historians. In addition to approximately 180 wax cylinders and a few gelatin records, the archive houses 7,500 shellac records (4,500 original pressings and 3,000 copies) that document the music, languages, and dialects of more than 230 ethnic groups, and also contains vocal portraits of famous people. Also ­included are around 150 audiotapes, predominantly of linguistic studies, the sounds of different musical instruments, and some technical equipment (microphones, phonographs, etc.) from the history of language and audio recording, as well as their assessment. The Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik ­(Helmholtz-Center of Cultural Technology) at Humboldt University has been entrusted with the sound archive since 2014. Lament 41


How Did I Die? I was in a crater Pockmarked fields on either side I was meant to be all safe How did I die? How did I die? Or didn’t I? Un sursaut, une crispation, mon corps soudain comme voulant s’engloutir dans la terre. How did I die? How did I die? Or didn’t I? Didn’t I die at all? I fell into a ditch inside an A7V On the end facing Mephisto is its name How did I die? How did I die? Or didn’t I? Ein schwarzes Biest ein Splitterregen über den Bäumen zerspringt und niedergeht How did I die? How did I die? Or didn’t I? Didn’t I die at all? Now there is only that sinister brown belt, a strip of murdered N ­ ature. It seems to belong to another world. Every sign of humanity has been swept away. The woods and r­oads have ­vanished like chalk wiped from a board; of the villages nothing remains but gray smears ­where stone walls have tumbled ­together. A confused mass of troubled earth. Columns of muddy smoke spurt up continually as high e­ xplosives tear deeper into this u ­ lcered area. How did I die? I fell from the sky Or didn’t I? I filled my mouth with water So the bullet could succeed How did I die? How did I die?

42 How Did I Die?


Did I die by my own hand? Or didn’t I? How did I die? Or didn’t I die at all? How did we die? Or didn’t we? Didn’t we die at all? We didn’t die We didn’t die We are back with a different song We didn’t die We didn’t die We’re just singing a different song We are back with a change of weather Ein anderer Wind, ein neues Lied We didn’t die We didn’t die We give you a different song okookookookooskrookookookookoo The difference is in the song okookookookooskrookookookookoo Difference makes the song We didn’t die We didn’t die We didn’t die We didn’t die

How Did I Die? 43


Wie bin ich gestorben? Ich war in einem Krater Pockennarbige Felder auf beiden Seiten Ich hätte sicher sein sollen Wie bin ich gestorben? Wie bin ich gestorben? Oder bin ich nicht? Un sursaut, une crispation, mon corps soudain comme voulant s’engloutir dans la terre. Wie bin ich gestorben? Wie bin ich gestorben? Oder bin ich nicht? Bin ich gar nicht gestorben? Ich bin mit einem A7V in den Straßengraben gefallen Am vorderen Ende Mephisto ist sein Name Wie bin ich gestorben? Wie bin ich gestorben? Oder bin ich nicht? Ein schwarzes Biest ein Splitterregen über den Bäumen zerspringt und niedergeht Wie bin ich gestorben? Wie bin ich gestorben? Oder bin ich nicht? Bin ich gar nicht gestorben? Jetzt ist dort nur noch dieses u ­ n­­heimliche braune Band, ein ­Streifen gemorderter Natur. Es scheint zu ­einer anderen Welt zu g­ ehören. Alle Spuren der Mensch­heit sind hin­weggefegt. Die Wälder und Straßen sind verschwunden wie Kreide, die man von einer Tafel a­ bwischt; von den Dörfern bleibt nichts als graue ­Schlieren, wo S­ teinmauern einge­stürzt sind. Eine verworrene Masse aufgewühlter Erde. Säulen aus trübem Rauch schießen unablässig ­empor, während der Sprengstoff sich immer tiefer in diese von Geschwüren durchzogene Gegend frisst. Wie bin ich gestorben? Ich bin vom Himmel gefallen Oder bin ich nicht? Ich habe meinen Mund mit Wasser gefüllt Damit es der Kugel glückt Wie bin ich gestorben? Wie bin ich gestorben? Bin ich durch eigene Hand gestorben? Oder bin ich nicht? Wie bin ich gestorben? Oder bin ich gar nicht gestorben?

44 How Did I Die?


Wie sind wir gestorben? Oder sind wir nicht? Sind wir gar nicht gestorben? Wir sind nicht gestorben Wir sind nicht gestorben Wir sind zurück mit anderem Lied Wir sind nicht gestorben Wir sind nicht gestorben Wir singen nur ein anderes Lied Wir sind zurück wie sich das Wetter ändert Ein anderer Wind, ein neues Lied Wir sind nicht gestorben Wir sind nicht gestorben Wir bringen Euch ein anderes Lied okookookookooskrookookookookoo Der Unterschied liegt in dem Lied okookookookooskrookookookookoo Der Unterschied macht das Lied aus Wir sind nicht gestorben Wir sind nicht gestorben Wir sind nicht gestorben Wir sind nicht gestorben

How Did I Die? 45


Dieses Lied hat einen Vorgänger, erläutert Bargeld: „Das Lied stammt von Kurt Tucholsky. Man findet es auf YouTube. Es heißt Die rote Melodie, und er schrieb darunter ‚gewidmet Ludendorff‘ (dem Kommandeur der deutschen Streitkräfte im Ersten Weltkrieg). Er schrieb dieses wunderbare Lied über ­seine Kriegserfahrungen und widmete es Ludendorff. Er musste weiter gar nichts sagen, aber jeder Refrain richtet sich gegen Ludendorff. Obwohl er es nicht direkt ausspricht, ist klar, dass der tote Soldat wiederkommen wird und ihn verfolgen.“ Über einem Streichquartettsatz mit herausgehobener Cellostimme beschreibt Bargeld unterschiedliche Arten zu sterben, mit dem Grundgefühl, dass menschliches Leben so nicht enden sollte. „Also kommen sie zurück, singen ein anderes Lied, und Europa ist danach ein anderer Ort als vorher.“

The song has precedence, remarks Bargeld: “It’s a song that Kurt ­ ucholsky wrote.You can see it on YouTube. It’s called Die Rote Melodie, and T he signed it: ‘gewidmet Ludendorff ’ (who commanded the German army in the First World War). He wrote this wonderful song about his experiences in the war and dedicated it to Ludendorff. So he didn’t have to say anything, but every chorus goes against Ludendorff. Though he never says it directly, it’s ­clear that the dead soldier will come back and haunt him.” Over a string quartet setting with a featured solo cello part, Bargeld describes different ways of dying, tempered with the feeling that lives shouldn’t end like this. “So they come back, sing a different song, and Europe is a different place afterwards.”

46 How Did I Die?


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Sag mir, wo die Blumen sind Sag mir, wo die Blumen sind Wo sind sie geblieben? Sag mir, wo die Blumen sind Was ist geschehen? Sag mir, wo die Blumen sind Mädchen pflückten sie geschwind Wann wird man je verstehn? Wann wird man je verstehn?

Sag mir, wo die Gräber sind Wo sind sie geblieben? Sag mir, wo die Gräber sind Was ist geschehen? Sag mir, wo die Gräber sind Blumen wehen im Sommerwind Wann wird man je verstehn? Wann wird man je verstehn?

Sag mir, wo die Mädchen sind Wo sind sie geblieben? Sag mir, wo die Mädchen sind Was ist geschehen? Sag mir, wo die Mädchen sind Männer nahmen sie geschwind Wann wird man je verstehn? Wann wird man je verstehn?

Sag mir, wo die Blumen sind Wo sind sie geblieben? Sag mir, wo die Blumen sind Was ist geschehen? Sag mir, wo die Blumen sind Mädchen pflückten sie geschwind Wann wird man je verstehen? Wann wird man je verstehen?

Sag mir, wo die Männer sind Wo sind sie geblieben? Sag mir, wo die Männer sind Was ist geschehen? Sag mir, wo die Männer sind Zogen fort, der Krieg beginnt Wann wird man je verstehn? Wann wird man je verstehn? Sag, wo die Soldaten sind Wo sind sie geblieben? Sag, wo die Soldaten sind Was ist geschehen? Sag, wo die Soldaten sind Über Gräbern weht der Wind Wann wird man je verstehn? Wann wird man je verstehn?


Where Have All the Flowers Gone Where have all the flowers gone? Long time passing Where have all the flowers gone? Long time ago Where have all the flowers gone? Girls have picked them every one When will they ever learn? When will they ever learn?

Where have all the soldiers gone? Long time passing Where have all the soldiers gone? Long time ago Where have all the soldiers gone? Gone to graveyards every one When will they ever learn? When will they ever learn?

Where have all the young girls gone? Long time passing Where have all the young girls gone? Long time ago Where have all the young girls gone? Taken husbands every one When will they ever learn? When will they ever learn?

Where have all the graveyards gone? Long time passing Where have all the graveyards gone? Long time ago Where have all the graveyards gone? Covered with flowers every one When will we ever learn? When will we ever learn?

Where have all the young men gone? Long time passing Where have all the young men gone? Long time ago Where have all the young men gone? Gone for soldiers every one When will they ever learn? When will they ever learn?

Where have all the flowers gone? Long time passing Where have all the flowers gone? Long time ago Where have all the flowers gone? Girls have picked them every one When will they ever learn? When will they ever learn?

Sag mir, wo die Blumen sind 49


Blixa Bargelds Coverversion der deutschen Fassung des Pete-Seeger-­Songs, die durch Marlene Dietrich berühmt wurde, ist ein meisterhaftes Solo, bei dem technische Intervention auf ein Minimum beschränkt bleibt. Nachdem sie Deutschland zwischen den Weltkriegen verlassen hatte und nach Hollywood gegangen war, machte Dietrich aus ihrer Opposition gegen die Nazis keinen Hehl und unterstützte die Kriegsanstrengungen der USA gegen Deutschland – wofür manche Deutsche sie heute noch als Verräterin betrachten, anstatt als Frau mit Prinzipien. Dass das Stück in LAMENT auftaucht, verdankt sich Bargelds Feststellung, dass der Erste Weltkrieg sich im Zweiten Weltkrieg fortsetzte, während diejenigen Deutschen, die Dietrich auch nach ihrem Tod noch verdammen, daduch den Eindruck erwecken, dass der Krieg immer noch andauere. „Wir haben das Lied einen Tag vor Pete Seegers Tod aufgenommen,“ sagt Bargeld. „Ich habe ihn immer sehr bewundert. Wir haben mehrfach versucht, diese Aufnahme zu machen, bis uns klar wurde, wie es für die Neubauten funktionieren könnte. Eigentlich wird es nur gesungen, mit ein bisschen ­Unterstützung. Es ist ein wunderbares Lied. Die Version, die wir hier spielen, ist die, die Marlene Dietrich berühmt gemacht hat. Pete Seeger hat später ­gesagt, dass der deutsche Text besser ist als der englische.“ Where Have All the Flowers Gone ist ein zeitgenössischer Folksong. Die ersten drei Strophen schrieb Pete Seeger 1955, und im Mai 1960 fügte Joe Hickerson weitere hinzu, wodurch das Lied sich inhaltlich zum Kreis schließt. Marlene Dietrich sang das Stück zuerst auf Französisch, als Qui peut dire où vont les fleurs? bei einem UNICEF-Konzert 1962. Sie nahm es außerdem auf Englisch und Deutsch auf, mit einem Text von Max Colpet. Dietrich sang die deutsche Version auch auf einer Tournee durch Israel, bei der sie sehr warmherzig aufgenommen wurde; sie war die Erste, die das Tabu gegen die öffentliche Verwendung der deutschen Sprache in Israel brach, das seit dem Zweiten Weltkrieg bestand.

50 Sag mir, wo die Blumen sind


Blixa Bargeld’s cover of the German version of the Pete Seeger song made famous by Marlene Dietrich is a solo tour de force, with technical intervention kept to an absolute minimum. Having left Germany for Hollywood in the interwar years, Dietrich later made her anti-Nazi position very clear and went on to join the U.S. war effort against Germany, an act for which some Germans still brand her as a traitor, rather than as a woman acting out of principle. The song’s appearance in LAMENT bears out Bargeld’s assertion that the World War I continued into World War II, while those Germans who carry on condemning Dietrich after her death suggest that the war goes on. “We recorded the song one day before Pete Seeger died,” says Bargeld. “I’ve always been a great admirer of him. It took several attempts to do that, until we found a Neubauten way to do it. It is basically just singing and a bit of support. It’s a great song. The version we do here is the one that Marlene Dietrich made famous. Pete Seeger later said the German lyrics are better than the English ones.” Where Have All the Flowers Gone is a contemporary folk song. The first three verses were written by Pete Seeger in 1955, with additional ones added by Joe Hickerson in May 1960, who turned it into a circular song. Marlene Dietrich first performed it in French, as Qui peut dire où vont les fleurs? at a UNICEF concert in 1962. She also recorded it in English and ­German, with lyrics translated by Max Colpet. Dietrich performed the German version on a tour of Israel, where she was warmly received; she was the first person to break the taboo of using the German language publicly in Israel since World War II.

Sag mir, wo die Blumen sind 51


All of No Man’s Land Is Ours Hello, Central, Hello, hurry, Give me four-oh-three; Hello, Mary, Hello, Jerry, Yes, yes, this is me! Just landed at the pier And found the telephone, We’ve been parted for a year, Thank God, at last I’m home! Haven’t time to talk a lot, Though I’m feeling mighty gay; Listen, sweet forget-me-not, I’ve only time to say: All of No Man’s Land is ours, dear, Now I have come back home to you, My honey true, Wedding bells in Junie-June All will tell by the tunie-tune, The victory’s won, the war is over, The whole wide world is wreathed in clover! Then, hand-in-hand we’ll stroll through life, dear. Just think how happy we will be, I mean, we three, We’ll pick a bungalow among the fragrant boughs, And spend our honeymoon with the blooming flowers, All of No Man’s Land is ours. All of No Man’s Land is ours, dear, Now I have come back home to you, My honey true, Joyfull bells in Junie-June All will tell by the tunie-tune, The victory’s won, the war is over, The whole wide world is wreathed in clover! All of No Man’s Land is ours.

52 All of No Man’s Land Is Ours


Das ganze Niemandsland gehört uns Hallo, Zentrale, hallo, schnell, Geben Sie mir vier-null-drei; Hallo, Mary, hallo, Jerry, Ja, ja, ich bin’s! Gerade am Pier gelandet Und hab ein Telefon gefunden, Wir haben uns ein Jahr nicht gesehen, Gott sei Dank bin ich endlich zuhause! Hab nicht viel Zeit zum Reden, Aber ich fühle mich ganz wunderbar; Hör zu, liebes Vergissmeinnicht, Die Zeit reicht nur für dies: Das ganze Niemandsland gehört uns, Liebling, Jetzt, wo ich wieder bei dir zuhause bin, Mein süßer Schatz, Hochzeitsglocken im Juni, Und alle erkennen’s an der Melodie, Der Sieg ist errungen, der Krieg vorbei, Die ganze Welt erstrahlt in neuem Glanz! Dan gehen wir Hand in Hand durchs Leben, Liebling. Stell dir vor, wie glücklich wir sein werden, Ich meine, wir drei, Wir suchen uns einen Bungalow zwischen duftenden Büschen, Und unsere Flitterwochen verbringen wir unter Blüten. Das ganze Niemandsland gehört uns. Das ganze Niemandsland gehört uns, Liebling, Jetzt, wo ich wieder bei dir zuhause bin, Mein süßer Schatz, Hochzeitsglocken im Juni, Und alle erkennen’s an der Melodie, Der Sieg ist errungen, der Krieg vorbei, Die ganze Welt erstrahlt in neuem Glanz! Das ganze Niemandsland gehört uns.

All of No Man’s Land Is Ours 53


In LAMENTs zweiten Harlem Hellfighters-Lied – mit Jochen Arbeit an der E-Melodica – kehrt das Regiment siegreich nach Hause zurück und wird mit Straßenparaden in Harlem empfangen. Der Moment des Triumphes für die schwarzen Soldaten währte jedoch nur kurz. „Diese Schwarzen kamen in die USA zurück, wo immer noch Rassentrennung herrschte. Und trotzdem ­singen sie hier All of No Man’s Land Is Ours!“

Featuring Jochen Arbeit on electric melodica, LAMENT’s second Harlem Hellfighters song sees the regiment returning home in triumph, greeted by street parades in Harlem. But the black servicemen’s moments of glory were short-lived. “These black people came back to a U.S. still divided by racial ­segregation. And here they are singing All Of No Man’s Land Is Ours!”

54 All of No Man’s Land Is Ours



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