Die Gestalt des Schattens Anmerkungen zu Boulez’
Dialogue de l’ombre double von Jörg Widmann
I. „Jetzt gehört das Stück Ihnen“: Die Zusammenarbeit mit Pierre Boulez Als Jugendlicher hatte ich ein Urerlebnis mit Neuer Musik: Ich bin mit meinem Vater zum Musica Festival nach Straßburg gefahren, wo Pierre Boulez mit dem Ensemble intercontemporain eigene Werke dirigiert hat. Das eine Stück war Répons und das andere Dialogue de l’ombre double, was für mich als Klarinettisten und Komponisten natürlich faszinierend war. Einige Kollegen hatten mich gewarnt: Boulez, das ist verkopft, das ist dogmatisch, das ist so streng und eng gedacht. Für mich war es das Gegenteil: Ich saß da mit offenem Mund, mit offenen Ohren. Es war ein extrem sinnliches Erlebnis, ein Farbrausch. Mein Denken, mein Musikmachen konnte am nächsten Tag nicht mehr dasselbe sein. Und es gehört zu den ganz großen Glücksfällen meiner Biographie und meines künstlerischen Lebens, dass ich Pierre Boulez viele Jahre später begegnet bin und wir oft zusammengearbeitet haben. Er hat mit den Wiener Philharmonikern mein Orchesterstück Armonica uraufge führt, was unvergesslich war für alle, die dabei gewesen sind – dieser Boulez’sche analytische Verstand und der warme Klang dieses Orchesters, das hat etwas ungeheures Drittes ergeben. Die Beschäftigung mit Dialogue de l’ombre double war eine Art „work in progress“. Über die Jahre haben wir immer wieder gemeinsam an dem Stück gearbeitet, zum ersten Mal bei einer Aufführung in Badenweiler. Wir haben oft darüber gesprochen und Boulez hat auch immer wieder kritisiert – er hatte ja erstens ein unbestechliches Ohr und
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