Pfade im Dickicht des Lebens György Kurtágs Kafka-Fragmente
Anne do Paço
„Man bedenke, welche Enthaltsamkeit dazu gehört, sich so kurz zu fassen. Jeder Blick läßt sich zu einem Gedicht, jeder Seufzer zu einem Roman ausdehnen. Aber einen Roman durch eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges Aufatmen auszudrücken: solche Konzentration findet sich nur, wo Wehleidigkeit in entsprechendem Maße fehlt.“ Diese berühmte und oft zitierte Passage stammt aus der Feder Arnold Schönbergs, der mit diesen Worten die Sechs Bagatellen für Streichquartett seines Schülers Anton Webern umschrieb und damit eine Kompositionsweise, die ihn selbst seit 1909 brennend interessierte: die Verdichtung eines musikalischen Geschehens auf seine nur wenige Sekunden dauernde Essenz, verbunden mit dem Mut zur Offenheit, zum Fragmentarischen. Damit hatten die Komponisten der Zweiten Wiener Schule – letztlich zurückgehend auf die romantische Fragment-Ästhetik, wie sie von Autoren und Denkern wie Schlegel, Novalis oder Schelling, aber auch Komponisten wie Schumann und Chopin bereits im 19. Jahrhundert formuliert worden war – ein Tor hinein in ein Musikdenken geöffnet, das noch bis weit in unsere Zeit hinein seine Faszination entfaltet. Wohl keiner unter den Komponisten der Gegenwart arbeitet allerdings derart radikal mit äußerster Verdichtung wie der Ungar György Kurtág. Zu seinen bedeutendsten Werken dieser Art zählen die zwischen 1985 und 1987 komponierten und im April 1987 bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik von Adrienne Csengery und András Keller uraufgeführten Kafka-Fragmente. Mit einer Gesamtdauer von etwa einer Stunde gleichen sie im Umfang den großen Liederzyklen der Musikgeschichte. Insgesamt 40, in der Spieldauer zwischen 20 Sekunden und maximal 5