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Tallis Scholars & Christoph Grund

Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben

Praktisch Zeit seines Lebens belegte Antoine Brumel (um 1460 – 1512/13) den zweiten Platz hinter seinem berühmteren franko-flämischen Gegenpart Josquin. Mit einer Ausnahme: seiner gewaltigen Missa Et ecce terrae motus, besser bekannt als „Erdbebenmesse“.

Es liegt nahe zu vermuten, dass die einstündige, zwölfstimmige „Erdbebenmesse“, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung wohl das umfangreichste Werk darstellte, das in der westlichen Musik jemals in Angriff genommen worden war, ihre Bezeichnung aufgrund ihrer musikalischen Qualitäten erhielt. Tatsächlich basiert die Messe musikalisch aber auf der Oster-Antiphon „Et ecce terrae motus est“ („Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben“ aus Matthäus 28,2).

Das Werk weist auf die mehrchörige Schreibweise voraus, indem Brumel die zwölf Stimmen in vier Gruppen einteilt – drei discanti (Oberstimmen, ähnlich den heutigen Sopranen), drei contratenori (dem heutigen Alt vergleichbar), drei Tenöre und drei Bässe – und jede Stimme eine individuelle Kontrapunktlinie bildet. Das harmonische Tempo dieser Musik ist langsam und wird durch kräftige rhythmische Bewegungen und Wellen kontrapunktischer Dreiklänge konterkariert. Vor allem in dem nachhallenden Raum einer prächtigen gotischen Kathedrale (oder vielleicht auch im etwas bescheideneren Pierre Boulez Saal) umbrandet die Musik die Zuhörenden – sanft in den unteren Stimmen, die zu einer dichten harmonischen Textur gruppiert sind, und heftiger in den oberen, melodisch ausgesprochen detaillierten Stimmen. Die Messe ist weniger ein Erdbeben als ein Eintauchen, als geriete man unter Wasser zwischen gegenläufige Meeresströmungen.

In Polígonos von Samir Odeh-Tamimi bebt die Erde. Das 2017 uraufgeführte Stück beginnt mit herausgehämmerten Klavierclustern, die in elektronische Klänge umgewandelt werden. Anstelle der schwungvollen kontrapunktischen Wellenbewegungen des deklamatori- schen Credo von Brumel aus dem 16. Jahrhundert haben wir es mit einem den Boden erschütternden musikalischen Erlebnis zu tun, in dem der natürliche, akustische Klang in Kontrapunkt zu elektronischen Klängen und elektronisch veränderten akustischen Klängen, die vom Klavier ausgehen, gesetzt wird. Das Klavier erscheint in eine kalte Welt künstlicher Klänge getaucht, und in dieser Welt klingt es seltsam mystisch, verunsichert und sehnsüchtig. Das Klavier wurde gewissermaßen ins Exil geschickt.

Wie Edward Said betont, hat Exil seinen Ursprung „in der uralten Praxis der Verbannung“ und ist ein harter, erbarmungsloser Zustand. Auch wenn Polígonos sich auf so sachlich-eindeutige Weise interpretieren lässt – insbesondere wenn man es im Kontext der weitgehend akustischen Musik des westlichen Werkkanons betrachtet –, so bedient sich der palästinensisch-israelische Komponist Tamimi doch eines wahrhaft integrierten musikalisch-kulturellen Kontrapunkts aus westlicher Avantgarde und traditioneller arabischer Musik, um sie zu einer einzigartigen Sprache aus Maqam, Sufi-Mystik, von Xenakis inspirierten stochastischen Prozessen und temperierter Stimmung zu verschmelzen. Polígonos ist eine Erdbebenmesse für ein Instrument.

Prof. Dr. Mena Mark Hanna

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