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Studierende der Barenboim-Said Akademie
Kanons und Fugen, Fugen und Kanons
Kontrapunkt hat viele Formen. Er kann als Imitation vorkommen, bei der die hinzutretenden Stimmen ein ähnliches melodisches Muster aufweisen, wie es häufig bei Renaissance-Messen der Fall ist; er kann als Kanon auftreten, bei dem sich die Stimmen exakt imitieren und der so konstruiert sein kann, dass sie sich bis zur Unerträglichkeit endlos wiederholen, wie zum Beispiel bei dem berühmten „Frère Jacques“; und er kann als Fuge in Erscheinung treten, eine Technik, bei der ein musikalisches Thema in einer Stimme eingeführt, dann auf einer anderen Tonhöhe von einer anderen Stimme wiederholt wird und so weiter, wobei diese musikalischen Themen im gesamten Werk wieder auftauchen in einer Art von Exposition, Durchführung und Reprise.
Alfred Mann beschreibt Bach, von einem quasi allwissenden Standpunkt aus, als „Anfang und Ende, aber auch Perfektion und Imperfektion der Fugenkunst“. Zweifellos verdient Bachs letztes Werk Die Kunst der Fuge eine solche Beschreibung. Konzipiert als theoretische Übung ohne Angabe einer spezifischen Besetzung, stellt sie den Höhepunkt der kombinatorischen und kontrapunktischen Virtuosität dar. Bach zog es vor, seine meisterhafte Beherrschung des Kontrapunkts nicht in theoretischen Abhandlungen (wie sie von Zarlino, Fux oder Beldemandis verfasst wurden) darzulegen, sondern sie in der Praxis zu demonstrieren, weshalb Christoph Wolff ihn den „musikalischen Gelehrten“ nennt. Die früheste Quelle der Kunst der Fuge ist ein handschriftliches Manuskript aus der Zeit um 1742. Eine überarbeitete Ausgabe erschien nach Bachs Tod im Jahr 1751. Diese revidierte Fassung enthält eine monumentale Doppelfuge über vier Themen, die „Fuga a 3 Sogetti“ oder Contrapunctus XIV, die unvollendet geblieben ist. Wie der Musikwissenschaftler Laurence Dreyfus beschreibt, schloss diese letzte Fuge „nicht nur die kühne Aufnahme von Bachs musikalischem Monogramm (B–A–C–H) ein, sondern auch Elemente der melodischen Umkehrung (Gegenfuge) und der Engführung (Kanon), eine Art erweiterten Fugenschluss, um das gesamte Werk zusammenzufassen“ .
Mit 14 Fugen und vier Kanons über ein einziges Thema in d-moll zeugt das Werk von dem wohl größten kontrapunktischen Geist der Zeit, in welcher Kontrapunkt die gängige Praxis war (d.h. vom 17. bis Anfang des 20. Jahrhunderts). Und trotz seiner eher akademischen Ausgestaltung ermüdet das Werk seine Hörer nie, wie Edward Said in seiner Beschreibung des Bachschen Kontrapunktes darlegt:
… der Zuhörer nimmt eine bemerkenswerte Komplexität wahr, die aber nie angestrengt oder akademisch ist. Ihre Autorität ist vollkommen. So entsteht für Zuhörer und Interpreten ein ästhetisches Vergnügen, das gleichermaßen auf unmittelbarer Zugänglichkeit wie auf höchstem technischen Niveau beruht.
Doch Fugen und Kanons sind nicht allein Bachs Domäne. Giuseppe Verdi erinnerte sich, dass sein Unterricht als Student bei Vincenzo Lavigna, dem maestro concertatore an der Scala, aus nichts anderem bestand als „Kanons und Fugen, Fugen und Kanons aller Art“ . Verdi setzt diese kontrapunktischen Mittel in seinen Opern mit großer dramatischer Wirkung ein und findet dabei immer wieder raffinierte Wege, um mehrere Erzählebenen auf der Bühne kontrapunktisch zusammenzuschließen.
Im fortgeschrittenen Alter von 60 Jahren, kurz nach der italienischen Erstaufführung von Aida, versuchte sich Verdi an seinem ersten Kammermusikwerk überhaupt: dem Streichquartett in e-Moll. Mit seinen vielfältigen Kontrapunktlinien, die den ersten und letzten Satz durchziehen, und den intensiven Oktavverdoppelungen verlangt das Stück von seinen Interpreten ein hohes technisches Können. Ganz offensichtlich ließ Verdi sich bei dieser Komposition von den späten Beethoven-Quartetten inspirieren, insbesondere im letzten, „Scherzo Fuga“ überschriebenen Satz, der an Saids Beschreibung der Charakteristika des späten Beethoven erinnert: „Kompromisslosigkeit, Schwierigkeit und ungelöster Widerspruch.“
Verdi war etwas vorsichtiger und behauptete, er habe das Quartett „nur zur Unterhaltung“ geschrieben und dem Stück „nie eine besondere Bedeutung beigemessen“. Er verbot sogar öffentliche Aufführungen und die Publikation des Stücks, bis er 1876 schließlich einlenkte und die Partitur von Giulio Ricordi verlegen ließ.
Sowohl Charles Ives als auch Béla Bartók versuchten, die Tradition der klassischen Kunstmusik mit einem populären und volkstümlichen Idiom zu verbinden. Ives’ zwischen 1904 und 1911 komponiertes Klaviertrio verzichtet auf die akademische Strenge des Bachschen Kontrapunkts aus dem 18. Jahrhundert. Der erste Satz ist eine Art Kanon, in dem die gleichen 27 Takte dreimal wiederholt werden, zuerst als Duo für Cello und Klavier, dann als Duo für Violine und Cello und schließlich als vollständiges Trio. Der zweite Satz mit dem Titel TSIAJ, oder „This Scherzo Is a Joke“, verbindet amerikanische Volkslieder mit einer Mischung aus Polytonalität und Zitat. Zu diesen „missbräuchlich“ verwendeten Volksliedern gehören The Campbells Are Coming, Old Kentucky Home, Sailor’s Hornpipe und Long, Long Ago. Auch im Schlusssatz überlagert Ives kontrapunktisch aktuelle und sehr persönliche musikalische Zitate. In diesem Fall greift er auf eine abgelehnte Komposition zurück, die er für den Yale Glee Club geschrieben hatte, und verwandelt sie in einen durchaus klangvollen Kanon zwischen Cello und Violine; in der Coda des Satzes paraphrasiert er nostalgisch das beliebte Kirchenlied Rock of Ages des amerikanischen Komponisten Thomas Hastings aus dem 19. Jahrhundert.
Wie schon der Titel des zweiten Satzes deutlich macht, hatte Ives Sinn für Humor. Leider sind die meisten entsprechenden Bezüge den heutigen Zuhörern wohl nicht mehr verständlich, es sei denn, sie hätten um die Wende zum 20. Jahrhundert die Yale University besucht.
Bartóks Streichquartett Nr. 3 ist ausgesprochen prägnant und eindrucksvoll, wobei für Adorno „die Formkraft des Stückes, die stählerne Konzentration, die ganz originale […] Tektonik“ entscheidend ist. Wie in vielen seiner Kompositionen bezieht Bartók originale Volksmusik in der Mitte des Stückes ein, eingebettet in eine Art „Kontrapunkt der Farbe“: „Glissando, pizzicato, col legno, sul tasto, sul ponticello, martellato, gedämpfte Passagen, die Verwendung von übertriebenem Vibrato, Zupfen und Kombinationen davon“ tragen zu einer höchst suggestiven vierteiligen Komposition bei, die die übliche viersätzige Quartettform nachahmt und zu einem einzigen kompakten Satz von etwa 17 Minuten Länge komprimiert.
Bartók hat geradezu wie besessen Volkslieder gesammelt und akribisch transkribiert – ungarische, slowakische, rumänische, bulgarische, moldawische, walachische und algerische. Seine Kombination von Volksmusik und intellektueller Moderne, ebenso wie seine Arbeit im Bereich der vergleichende Musikwissenschaft, erinnern an Edward Said. In einem Essay über „Bauernmusik“ (eine heute natürlich völlig antiquierte Bezeichnung) von 1931 bezieht sich Bartók auf Musik, zu der „alle Melodien gehören, die in der bäuerlichen Klasse jedweder Nation in einem mehr oder weniger weiten Gebiet und für einen mehr oder weniger langen Zeitraum Bestand hatten und einen spontanen Ausdruck des musikalischen Gefühls dieser Klasse darstellen“ .
Erstaunlicherweise kommt dieses Gefühl Saids persönlichem Verständnis von Komparatistik nahe, das er etwa 60 Jahre später in Culture and Imperialism formulierte:
Für den Wissenschaftler im Bereich der Komparatistik, deren Ursprung und Zweck es ist, Inseldenken und Provinzialismus zu überwinden und mehrere Kulturen und Literaturen zusammen, kontrapunktisch, zu betrachten, existiert bereits ein bemerkenswertes Interesse an genau dieser Art von Gegenmittel gegen reduktiven Nationalismus und unkritische Glaubenslehren: Schließlich war es die Grundidee und ein frühes Ziel der Vergleichenden Literaturwissenschaft, eine Perspektive über die eigene Nation hinaus zu gewinnen und ein Ganzes zu sehen, anstatt den kleinen Teil, den die eigene Kultur, Literatur und Geschichte bieten, zu verteidigen.
Sowohl Said als auch Bartók blickten nach außen, um ihre eigene Umgebung zu verstehen. Beide gaben der Pluralität den Vorrang, während sie sich gleichzeitig für das Individuum einsetzten. Beide waren wahre Kontrapunktisten.
Prof. Dr. Mena Mark Hanna