Edward W. Said Days - On Counterpoint

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Kanons und Fugen, Fugen und Kanons

Kontrapunkt hat viele Formen. Er kann als Imitation vorkommen, bei der die hinzutretenden Stimmen ein ähnliches melodisches Muster aufweisen, wie es häufig bei Renaissance-Messen der Fall ist; er kann als Kanon auftreten, bei dem sich die Stimmen exakt imitieren und der so konstruiert sein kann, dass sie sich bis zur Unerträglichkeit endlos wiederholen, wie zum Beispiel bei dem berühmten „Frère Jacques“; und er kann als Fuge in Erscheinung treten, eine Technik, bei der ein musikalisches Thema in einer Stimme eingeführt, dann auf einer anderen Tonhöhe von einer anderen Stimme wiederholt wird und so weiter, wobei diese musikalischen Themen im gesamten Werk wieder auftauchen in einer Art von Exposition, Durchführung und Reprise. Alfred Mann beschreibt Bach, von einem quasi allwissenden Standpunkt aus, als „Anfang und Ende, aber auch Perfektion und Imperfektion der Fugenkunst“. 1 Zweifellos verdient Bachs letztes Werk Die Kunst der Fuge eine solche Beschreibung. Konzipiert als theoretische Übung ohne Angabe einer spezifischen Besetzung, stellt sie den Höhepunkt der kombinatorischen und kontrapunktischen Virtuosität dar. Bach zog es vor, seine meisterhafte Beherrschung des Kontrapunkts nicht in theoretischen Abhandlungen (wie sie von Zarlino, Fux oder Beldemandis ­verfasst wurden) darzulegen, sondern sie in der Praxis zu demonstrieren, weshalb Christoph Wolff ihn den „musikalischen Gelehrten“2 nennt. Die früheste Quelle der Kunst der Fuge ist ein handschriftliches ­Manuskript aus der Zeit um 1742. Eine überarbeitete Ausgabe erschien nach Bachs Tod im Jahr 1751. Diese revidierte Fassung enthält eine ­monumentale Doppelfuge über vier Themen, die „Fuga a 3 Sogetti“ oder Contrapunctus XIV, die unvollendet geblieben ist. Wie der Musikwissenschaftler Laurence Dreyfus beschreibt, schloss diese letzte Fuge „nicht nur die kühne Aufnahme von Bachs musikalischem Monogramm (B–A–C–H) ein, sondern auch Elemente der melodischen Umkehrung (Gegenfuge) und der Engführung (Kanon), eine Art erweiterten Fugenschluss, um das gesamte Werk zusammenzufassen“3. Mit 14 Fugen und vier Kanons über ein einziges Thema in d-moll 60


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