9. Oktober 2021
KRIS DAVIS, CRAIG TABORN & MIMI CHAKAROVA
Pierre Boulez Saal Saison 2021/22
KRIS DAVIS, CRAIG TABORN & MIMI CHAKAROVA Samstag
9. Oktober 2021 19.00 Uhr
Kris Davis Klavier Craig Taborn Klavier Ralph Alessi Trompete Miles Perkin Bass Jim Black Schlagzeug
Letters
Stummfilm von Mimi Chakarova (2020) Musik von Kris Davis Uraufführung
Das weitere Programm wird von den Künstlerinnen und Künstlern angesagt.
Letters entstand aus der Idee heraus, einen Film zu machen über die intimen Briefe, die eine Einwanderin oder ein Einwanderer nach Hause schickt. Diese Briefe überbrücken die Entfernung und sprechen Wahr heiten aus, die persönlich oft nicht so einfach zu erklären sind. Die Musik, die Kris Davis für den Film komponiert hat, trägt diesen emotionalen Bogen mit, rahmt die Bilder und Erzählungen ein und interagiert mit ihnen. Die visuellen Briefe beschreiben die Vereinigten Staaten – ein Land, das mein Zuhause ist, seit ich mit 13 Jahren gemeinsam mit meiner Familie Bulgarien verließ. (Kris, die in Kanada geboren wurde, ist mit 21 Jahren dorthin gezogen.) Zu Beginn fragte ich mich, welche Art von Geschichte der Film über die Städte und Menschen, die ich liebgewonnen habe, erzählen würde: Wer würden die Protagonisten sein? Wie würden die Briefe die Schönheit und die Schmerzen vermitteln können, die zum Alltag gehören? Ich habe mich dafür entschieden, der Tradition des Dokumentarfilms ohne direkten natürlichen Ton zu folgen. Deshalb haben wir für dieses Projekt ausschließlich Menschen gefilmt, deren Geschichten oft nicht erzählt werden. Letztendlich ist Letters ein gemeinsamer Versuch, die Straßen, die Kris und ich entlanggehen, zu verstehen, die Nachrichten, die wir lesen, die Welt, die wir als Frauen, Künstlerinnen und Einwande rinnen erleben … Der Stummfilm greift die Buchstaben des englischen Alphabets auf und lenkt den Blick auf die Vielzahl der Wörter, die mit diesen Buchstaben und Klängen beginnen.* So wie Kinder die ersten Wörter lernen – „A wie Apfel, B wie Ball …“ –, bildet Letters eine visuelle Erzählung, die aus verschiedenen Episoden besteht. Einige Buchstaben sind zu Gruppen zusammengefasst, die sich größeren Themen widmen, so dass es ins gesamt 14 Geschichten gibt. * Das Wort „letters“ steht im Englischen sowohl für Briefe als auch für Buchstaben. Die Doppeldeutigkeit des Filmtitels geht in der Übersetzung daher verloren.
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Die erste dieser Gruppen behandelt die Geschichte einer jungen Frau, die die erste schwarze Feuerwehrfrau in einem der bevölkerungsreichsten Bezirke Kaliforniens war. Was ist nötig, um die erste zu sein in einem Umfeld, das von weißen Männern dominiert wird? Und wie viele andere Frauen in anderen Berufen ebnen so bis heute den Weg? Wann werden wir es erleben, dass unsere Gesellschaft die Gleichstellung der Geschlechter und Rassen in männerdominierten Bereichen vollzieht? Dieses Thema hat Kris tief berührt: Als Dozentin am Berklee Institute of Jazz and Gender Justice arbeitet sie mit jüngeren Generationen zusammen, um dem Patriar chat und der Ungleichheit der Geschlechter im Jazz entgegenzuwirken. Eine andere Episode des Films handelt von Freundlichkeit. Wir sehen einen blinden Mann, der auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Bei einfachen Aufgaben wie dem Überqueren einer Straße oder beim Essen wird er von Fremden unterstützt, die instinktiv eingreifen. K steht für Freundlichkeit („kindness“) … Verwandtschaft („kinship“) … Seelenverwandtschaft („kindred“). In welcher Hinsicht haben unsere ständige Interaktion mit der Techno logie und die daraus resultierende Konnektivität dazu geführt, dass wir weder unsere Umgebung noch die reale Zeit mehr wahrnehmen? Eine besonders wild geschnittene Episode zeigt die Abgeschiedenheit und Ein samkeit von Menschen, die mit ihren Telefonen und anderen technischen Geräten beschäftigt sind. Auch wenn uns andere Menschen umgeben, sind wir allein in einem Raum, der vom Licht der Bildschirme erhellt wird. Kris und ich sind beide berufstätige Künstlerinnen und Mütter. Kris schlug vor, eine Episode aufzunehmen, die den schier unmöglichen Spagat zwischen Arbeit und Kindererziehung zeigt – ein Zustand, der durch die Pandemie noch prekärer geworden ist. Die einzelnen Buchstaben sind zuverlässige Wegweiser und bilden einen roten Faden durch den Film. Neben der natürlichen und linearen Abfolge des Alphabets gibt es eine weitere verbindende Komponente in Letters: den Tanz. Durch Bewegung und Gestik erzählen Straßentänzer ihre eigenen Geschichten von Widerstand und Anstrengung. Sie werden 4
zu emotionalen Erzählern voller Ausdruck und Kraft. Der Film endet mit einem gemeinschaftlichen Tanz, der Phasen der Trauer und des Traumas durchläuft und sich langsam in Jubel und Begeisterung verwan delt. Z steht für Lust („zest“) … Begeisterung („zeal“ )… Höhepunkt („zenith“) … Mimi Chakarova
Letters grew out of the idea to create a film from the intimate letters that an immigrant sends home. These letters bridge distance and tell truths often hard to explain in person. The music Kris Davis has composed for the film supports its emotional arc, framing and interacting with the images and narrative. The visual letters describe the United States, a country that has been my home since my family left Bulgaria when I was 13. (Kris, who was born in Canada, has lived there since she was 21.) At the beginning, I was wondering what kind of story the film would reveal about the cities and people I had grown close to: who would the protagonists be? How could the letters convey the beauty and the pain that are part of everyday life? My approach was to honor the tradition of documentary filmmaking sans natural sound. To that end, all of the people filmed for this project are people whose stories often go untold. Ultimately, Letters is a collabora tive attempt to understand the streets Kris and I walk, the news we read, the world we experience as women, artists, and immigrants. The silent film takes on the letters of the English alphabet and explores the multitude of words that start with these letters and sounds. Just as children first learn words—“A is for apple, B is for bicycle…”—Letters forms a visual narrative with a collection of vignettes. With a total of 14 stories, some letters are grouped to address larger themes. 5
The first such grouping is the story of a young woman who became the first black female firefighter in one of the most populous counties in California. What does it take to be the first in a field that’s predominately male and white? And how many other women in other professions are paving the way to this day? When will we see our societies achieve gen der and racial equity in male-dominated fields? This vignette deeply touched Kris: As an educator for the Berklee Institute of Jazz and Gender Justice, she works with younger generations, dismantling patriarchy and gender disparity in jazz. Another vignette in the film is about kindness. We see a blind man relying on others. Simple tasks like crossing a street or eating a meal are assisted by strangers who instinctively step in. K is for kindness… kinship… kindred. How have our constant and insistent interactions with technology and persistent connectivity made us oblivious to our surroundings and real time? A frantically edited vignette displays the disconnect and loneliness of human beings engaged with their phones and other devices. Other people surround us, yet we are alone in a space lit by the glow of screens. Kris and I are both working artists and mothers. Kris suggested to include a vignette that shows the impossible balancing act of working while raising children, which the pandemic has unsettled further. The individual letters offer a steady guide, a thread through the film. Beyond the natural and linear progression of the alphabet, there is another unifying component in Letters: the dance form. Through movement and gesture, street dancers tell their own stories of resilience and struggle. They become emotional narrators full of expression and strength. The film ends on a collaborative dance that goes through stages of grief and trauma, slowly transforming to jubilation and zeal. Z is for zest… zeal… zenith… —Mimi Chakarova
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