Prégardien, Drake & Samel: Lied und Lyrik I

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Christoph Prégardien, Julius Drake & Udo Samel Lied und Lyrik I

Einführungstext von Michael Horst Program Note by Gavin Plumley


CHRISTOPH PRÉGARDIEN, JULIUS DRAKE & UDO SAMEL Lied und Lyrik I Sonntag  10.

Oktober 2021 16.00 Uhr

Christoph Prégardien Tenor Julius Drake Klavier Udo Samel Rezitation

Keine Pause Wir bitten, die einzelnen Programmgruppen nicht durch Applaus zu unterbrechen.


Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) Ausgewählte Gedichte und Texte Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1811–1832) Auszüge

Mythos Der König in Thule (1774) Franz Schubert (1797–1828)

Der König in Thule D 367 op. 5 Nr. 5 (1816) Franz Liszt (1811–1886) Der König von Thule S 278/2 (1842/56)

An Schwager Kronos (1774) Franz Schubert

An Schwager Kronos D 369 op. 19 Nr. 1 (1816) Anakreons Grab (1785) Hugo Wolf (1860–1903)

Anakreons Grab aus Goethe-Lieder (1888-89) Ganymed (1772–74) Hugo Wolf

Ganymed aus Goethe-Lieder


Verlust und Liebe Wonne der Wehmut (1775) Holde Lili Ludwig van Beethoven (1770–1827) Wonne der Wehmut op. 83 Nr. 1 (1810)

Mailied (1771) Ludwig van Beethoven

Maigesang op. 52 Nr. 4 (um 1795) Erster Verlust (1785) Franz Schubert

Erster Verlust D 226 op. 5 Nr. 4 (1815) Rastlose Liebe (1776) ranz Schubert F Rastlose Liebe D 138 op. 5 Nr. 1 (1815) Auszug aus Dichtung und Wahrheit, 19. Buch „Ihr verblühet, süße Rosen“ aus dem Singspiel Erwin und Elmire (1775) Edvard Grieg (1843–1907)

Zur Rosenzeit op. 48 Nr. 5 (1884–89) Heidenröslein (1771) Franz Schubert

Heidenröslein D 257 (1815) Carl Loewe (1796–1869)

Erlkönig op. 1 Nr. 3 (1817–18) Erlkönig (1782) Franz Schubert

Erklönig D 328 op. 1 (1815)


Wehmut, Wald und Flur J ägers Abendlied (1775–76) An Lida (1781) Franz Schubert

Jägers Abendlied D 368 op. 3 Nr. 4 (1816) An den Mond (1778) Franz Schubert

An den Mond „Füllest wieder Busch und Tal“ D 259 (1815) Der Musensohn (1774) Franz Schubert

Der Musensohn D 764 op. 92 Nr. 1 (1822) Wandrers Nachtlied (1776) Carl Loewe

Wandrers Nachtlied „Der du von dem Himmel bist“ op. 9 Bd. 1 (1828) Franz Liszt

Der du von dem Himmel bist S 279/1 (1842) Hegire Freisinn aus dem West-östlichen Divan (1819) Robert Schumann (1810–1856)

Freisinn aus Myrthen op. 25 (1840) Ein Gleiches (1780) Franz Schubert

Wandrers Nachtlied II „Über allen Gipfeln“ D 768 op. 96 Nr. 3 (1822)



Verdichtetes Leben Lieder nach Texten von Goethe

Michael Horst

Goethes Lyrik und ihre Vertonungen erscheinen in der ­ eschichte der Vokalmusik als nahezu unüberschaubares Kapitel. G Fast alle Komponistinnen und Komponisten, die sich zum Lied hingezogen fühlten, haben sich auch den Gedichten, Gesängen und Balladen des Weimarer Klassikers gewidmet. Beginnend mit Mozart (Das Veilchen), reicht ihre musikalische Wirkungsgeschichte über Beethoven und die Romantiker Schubert und Schumann bis hin zu Pfitzner und Wolf und weit ins 20. Jahrhundert hinein, als Kom­ ponisten wie Othmar Schoeck, Ferruccio Busoni und später Winfried Zillig und Wilhelm Killmayr die vielfältige Gedankenwelt Goethes für sich entdeckten. Vor gut drei Jahren erst erlebten Aribert ­Reimanns Vertonungen von Fragmenten aus dem West-östlichen ­Divan im Pierre Boulez Saal ihre Uraufführung. Für den euro­ päischen Ruhm des Dichters seien stellvertretend Giuseppe Verdi und Pjotr Tschaikowsky genannt, die, in ihren jeweiligen Sprachen, ebenfalls auf seine Verse zurückgegriffen haben. Insbesondere die verdichteten lyrischen Momente, die Goethe wie kein Zweiter in Worte zu fassen verstand, haben die Fantasie der Komponisten immer wieder in höchstem Maße inspiriert. Zum andern ist es die Musikalität der Verse selbst, ihre rhythmische ­Variabilität, die den Bedürfnissen einer Vertonung entgegenkommt. Dass nach Goethes Auffassung die Musik „nicht die Dichtung ersetzen, sondern sie beleben oder steigern“ sollte, dass er dem musi-

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kalischen „Einfall“ per se als zu individualistisch zutiefst misstraute, steht auf einem anderen Blatt. Denn diese Einschränkung hat vor allem seinen eigenen Umgang mit Musikern geprägt, die wie ­Johann Friedrich Reichardt und Carl Friedrich Zelter ganz einer so eingeschränkten Idee der Wort-Ton-Beziehung ergeben waren. Schon die Komponisten der folgenden Generation haben an Goethes Bedenken herzlich wenig Anstoß genommen. Zu ihnen zählte auch Franz Schubert, zwei Generationen jünger als der Dichter, der mit mehr als 70 Vertonungen die Liste der ­Goethe-Komponisten anführt. Seine Beschäftigung beginnt mit Gretchen am Spinnrade, dem Geniestreich des erst 17-Jährigen, und endet 1826, zwei Jahre vor seinem Tod, mit den letzten Fassungen der Lieder der Mignon; der größte Teil von Schuberts Goethe-­ Liedern entstand in den Jahren 1815/16. Interessanterweise griff der Komponist dabei bevorzugt auf ältere Gedichte zurück, von denen viele noch im 18. Jahrhundert entstanden waren – der junge ­Schubert ließ sich besonders vom jüngeren Goethe inspirieren. In das Jahr 1816 fällt auch der erste Versuch des Wiener Komponisten, seine Werke postalisch dem Weimarer Staatsminister vorzulegen – bekanntermaßen ohne jede Resonanz. Graham Johnson, der britische Liedbegleiter und eminente Schubert-Forscher, hat dafür mehrere mögliche Erklärungen zur Hand: Erstens sei der ­berühmte Dichter sicherlich zu jener Zeit mit einer Masse derartiger Zusendungen behelligt worden, so dass er einem völlig unbekannten Komponisten aus Wien verständlicherweise keine Aufmerksamkeit schenkte, zumal er deutliche Antipathien gegenüber Österreich hegte. Zum andern sei er in jener Zeit in großer Sorge um seine schwerkranke Frau Christiane gewesen, die nur wenige Monate später starb. Johnson weist außerdem hin auf eine sehr negative Erfahrung Goethes wenige Wochen zuvor mit einem anderen Komponisten namens Eberwein, die den Dichter zu einem „Gelübde“ bewogen habe, sich vorerst auf keine weiteren Vertonungen einzulassen. Dabei hätte der zu diesem Zeitpunkt 67-jährige Goethe gegen Schuberts musikalische Umsetzung der Ballade vom König in Thule wohl kaum etwas einzuwenden gehabt – handelt es sich doch um eine kraftvolle, streng als Strophenlied konzipierte Komposition, die volksliedhafte Züge trägt. Weniger Freude bereitet hätten ihm zweifellos die „Extravaganzen“ des radikal durchkomponierten An Schwager Kronos, entstanden im selben Jahr 1816, auf ein Sturmund-Drang-Gedicht des 25-jährigen Poeten aus seiner Frankfurter

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Zeit, dem Schubert mit einer exaltiert geführten Singstimme über unermüdlich galoppierendem Sechsachteltakt einen unnachahmlichen Schwung verleiht. Vollends konsterniert gewesen wäre Goethe vermutlich von Franz Liszts Fassung des König von Thule, komponiert 1842 und überarbeitet 1856. Aus dem schlichten Lied machte der Großmeister des Klaviers ein Operndrama in drei Minuten: nach zurückhaltendem Beginn bieten die Stichworte „Königsmahl“ und „Schloss am Meer“ Anlass genug, die Singstimme gewaltig ausschwingen zu lassen, während das Klavier donnernde Bässe beisteuert. Mit dem Versenken des Bechers in der Flut sinkt auch die Musik wieder in tiefere ­Register zurück, um in einem längeren Klaviernachspiel das düstere Ende der Ballade zu unterstreichen.

Neben Schubert ist Hugo Wolf zweifellos der wichtigste Komponist von Goethe-Liedern. Nicht weniger als 51 hat er zu Papier gebracht, in einem Zustand des Rausches, der von Oktober 1888 bis Februar 1889 anhielt – fast jeden zweiten Tag ein neues Lied. Das Selbstbewusstsein des erst 28-jährigen Komponisten war groß genug, um sich mit dem Werk des inzwischen längst zum Olympier verklärten (und mit Denkmälern verehrten) Dichters auseinanderzusetzen; nicht einmal die Bürde der Vertonungen Schuberts und Schumanns hielt ihn davon ab. Interessant ist in dieser Hinsicht Wolfs Auswahl: Zu einem großen Teil wählte er Gesänge aus dem damals noch wenig bekannten West-östlichen Divan; andererseits scheute er nicht vor den vielfach vertonten Liedern der Mignon und des Harfners aus Wilhelm Meisters Lehrjahre zurück, indem er die psychopathisch gefärbten Charaktere der beiden Figuren zu völlig neuen, weit in die Zukunft weisenden Klängen formte. Völlig unbelastet von seinen Vorgängern konnte Wolf bei der Komposition von Anakreons Grab vorgehen; hier zeigt er auf kleinstem Raum große Sensibilität in den Abstufungen des Klangs. Das ganze Lied – ein schlichter Grabgesang auf den bedeutenden antiken Lyriker – gleicht einem lyrischen Moment, der jedoch sehr genau strukturiert ist. Dem idyllischen, terzenseligen Beginn folgt ein von chromatischen Tristan-Ahnungen durchzogener Mittelteil, dessen Spannung sich auf wundersame Weise in einem Dur-Dreiklang auf dem Wort „Anakreon“ auflöst.

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Im Fall von Ganymed hingegen – wie auch bei Prometheus und Grenzen der Menschheit – setzte sich Wolf bewusst mit Schubert auseinander, da er dessen Kompositionen für „nicht gelungen“ hielt und sich vornahm, nunmehr „diese großartigen Gedichte im Goetheschen Geiste zu vertonen“. Wie der Dichter darauf wohl reagiert hätte? Schubert hatte den Text über den schönen Jüngling, der im Auftrag von Zeus in den Olymp entführt wird, musikalisch mit einer durchgehend enthusiastischen Stimmung versehen, Wolf dagegen geht kontemplativer vor. Über einem ruhigen Bass dialogisieren Melodie und chromatisch aufgefächerte rechte Hand der Begleitung, bevor die Textzeile „Du kühlst den brennenden Durst meines Busens“ in einen deutlich sehnsuchtsvolleren Tonfall hinüberleitet. Immer mehr verdichtet Wolf die Steigerung („ich komme – ach, wohin? Hinauf strebt’s, hinauf!“), doch getreu der Vorlage lässt er Ganymed in lichter Verklärung in die Gefilde des „allliebenden Vaters“ entschweben.

´ Über das ambivalente Verhältnis Goethes zu Beethoven ist aus beiden Perspektiven viel geschrieben worden. Das berühmte Aufeinandertreffen der beiden „Titanen“ am 19. Juli 1812 im böhmischen Kurort Teplitz ließ ihre charakterlichen Unterschiede gnadenlos zu Tage treten. Goethe mokierte sich über die „ganz ungebändigte Persönlichkeit“ des Komponisten, während Beethoven, der im Geiste immer noch den rebellischen Schöpfer des Werther und des Götz von Berlichingen vor sich hatte, das unterwürfige Benehmen des Staatsrats gegenüber dem anwesenden Adel höchst befremdlich fand. Auch gegenüber der Musik Beethovens empfand der Dichter große Vorbehalte. Sie sei ihm, so der Musikjournalist Simon Demmelhuber „zu laut, zu grell, maß- und gesetzlos, gärend, bedrohlich“ gewesen. Das ließe sich sicherlich für die Symphonien und viele der Klaviersonaten sagen, doch kaum für die beiden Vertonungen Wonne der Wehmut (aus den Drei Gesängen op. 83 von 1810) und Maigesang op. 52 Nr. 4, entstanden vor 1800. Im erstgenannten Lied folgt der Klavierpart sehr eng der Melodiestimme mit ihren vielfachen ­Seufzern; die freien rhetorischen Steigerungen, die sich Beethoven erlaubt, könnten gleichwohl ein Stirnrunzeln des Dichters hervor­ gerufen haben. Einfachheit und Klarheit, wie er sie in der Kunst schätzte, zeigt auch der Maigesang, ein dreistrophiges Lied, das sich

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nur bei den Schlussversen „Sei ewig glücklich, wie du mich liebst“ zu einem emphatischen Ausrufezeichen steigert. Franz Schuberts Vertonung von Erster Verlust aus dem Jahr 1815 zählt – wie Meeres Stille, Nähe des Geliebten und Wehmut – zu den großartigen „Ein-Blatt-Liedern“, in dem es dem Komponisten gelang, ohne eine Note zu viel Goethes (ebenso knappes) Gedicht in bezwingende Klänge zu verwandeln. Dabei prägt nicht zuletzt der ständige Wechsel zwischen Dur und Moll – „schöne Tage“ gegen „erneute Klage“ – dieses „kleine Juwel“ (Graham Johnson). Einen brillanten Kontrast bietet Rastlose Liebe. „Prägnant, scharf akzentuiert, rhythmisch vorwärtstreibend, orchestral gedacht, so jagt dies Lied vorbei“, analysiert Dietrich Fischer-Dieskau in seinem Schubert-Buch. Dem sehr jungen Komponisten gelingt es, immer wieder neue Höhepunkte anzusteuern, bis mit den letzten Worten „Liebe, bist Du“ der ultimative Schlussjubel erreicht wird. Zurück in die strophischen Gefilde des König in Thule führt dagegen das Heidenröslein (auf ein Gedicht des 24-jährigen Goethe), dessen unwiderstehlicher Charme allein aus der munteren Melodie mit ihren liebevollen Schnörkeln kaum zu erklären ist.

Überraschen mag im Zusammenhang mit Goethe der Name Edvard Grieg. Doch bedenkt man, dass der norwegische Nationalkomponist prägende Jahre als Student am Leipziger Konservatorium verbrachte und fließend deutsch sprach, lässt sich seine Begeisterung für deutsche Lyrik im Allgemeinen wie für das Lied im Besonderen – Verse aus Schubert- oder Schumann-Liedern flocht er gern in seine Korrespondenz ein – leicht nachvollziehen. Dass die Liedkomposition in seinem eigenen Schaffen eine wichtige Rolle einnahm, begründete er „ganz einfach aus dem Umstand, dass auch ich, wie andere Sterbliche, einmal in meinem Leben (um mit Göthe zu reden) – genial war. Die Genialität war: die Liebe.“ 1867 heiratete Grieg die Sängerin Nina Hagerup. Sie blieb seine lebenslange Partnerin – auch im Liedgesang. Nach den frühen Werkgruppen op. 2 und op. 4, bei denen Heine und Chamisso als Textdichter im Mittelpunkt standen, kehrte Grieg erst als reifer Komponist im Jahr 1888 erneut zu deutschen Lyrikern zurück. Für die Sechs Lieder op. 48 wählte er neben Heine, Geibel und Uhland auch Goethes Gedicht Zur Rosenzeit, in dem knospende

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Ach, ich bin des Treibens müde! Was soll all der Schmerz und Lust? Süßer Friede, Komm, ach komm in meine Brust! Wandrers Nachtlied


und verblühende Rosen den unglücklichen Verlauf einer Liebes­ geschichte reflektieren. In der musikalischen Umsetzung enthält sich Grieg jeglicher nordischer Anklänge, stattdessen wirft er seine inzwischen gewonnenen harmonischen Erkenntnisse in die Waagschale. Vor allem der Mittelteil des ansonsten im sanften Dreivierteltakt schwingenden Liedes erfährt durch Synkopen wie auch starke Chromatik eine dramatische Zuspitzung.

In einem Goethe-Liederabend darf auch Carl Loewe nicht fehlen. Überaus produktiv mit nicht weniger als 600 Balladen und Liedern, geriet der zu Lebzeiten höchst populäre Stettiner Musik­ direktor im 20. Jahrhundert weitgehend in Vergessenheit. „Ohne sonderliche Entwicklung seines mit Opus 1 festgelegten Stils komponierte er unablässig und mit beträchtlichen Qualitätsschwankungen“, lautete denn auch das bissige Urteil des Musikjournalisten Karl Schumann. Zwischen Lord Byron und Herder, Adelbert von Chamisso, ­August Kopisch, Theodor Fontane und vielen heute vergessenen Dichtern finden sich zahlreiche Texte Goethes unter Loewes Liedern und Balladen. Immerhin wurde dem jungen Komponisten, noch Theologiestudent in Halle und mit einer wohlklingenden Tenorstimme begabt, das Privileg zuteil, dem Weimarer Dichter höchstpersönlich seinen Erlkönig vorzutragen (auch später sollte der vielseitige begabte Musiker die Gewohnheit beibehalten, sich singend selbst am Klavier zu begleiten). Komponiert 1818 und sechs Jahre später zusammen mit Herders Edward-Ballade und Uhlands Der Wirtin Töchterlein publiziert, ist der Erlkönig Teil des genannten Opus 1 und macht nachdrücklich die besondere Begabung Loewes deutlich. Dem jungen Komponisten gelingt es mit dramatischer Treffsicherheit, die drei unterschiedlichen Stimmen von Vater, Kind und ­Erlkönig deutlich voneinander abzusetzen und gleichzeitig, grundiert durch ein fortlaufendes Tremolo in der Klavierbegleitung, das musikalische Geschehen zu einer zwingenden Einheit zu verschmelzen. Den fahlen Effekt der einschmeichelnd-bedrohlichen Worte des Erlkönigs erreicht er durch die Reduktion der Melodiestimme auf die Töne des schlichten Dur-Dreiklangs. Einen vielleicht noch ­größeren jugendlichen Geniestreich vollbrachte der fast gleichaltrige

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Schubert mit seiner 1815 entstandenen Erlkönig-Vertonung. In ihrer Anlage ist sie Loewes Komposition nicht unähnlich, doch bringt Schubert über den gehämmert repetierenden Triolen des Klaviers noch deutlich mehr Nuancen des Textes zum Klingen. Vor allem für die Zeilen des Erlkönigs findet er immer wieder neue Mittel. Der Schluss des Liedes ist von geradezu verstörender dramatischer Schlagkraft: die geballte musikalische Energie wird mit einem simplen Decrescendo und einem kurzen Rezitativ abrupt zum Stillstand ­gebracht. Goethe lernte die Komposition schließlich doch noch kennen: 1830 trug ihm die große Sängerin Wilhelmine Schröder-­ Devrient den Erlkönig vor – und der greise Dichter sparte nicht mit Anerkennung.

Eine weitere Schubert-Gruppe eröffnet den dritten Teil des heutigen Abends: Jägers Abendlied ist ein stimmungsvolles Strophenlied, in dem die gleitenden Sexten des Klavierparts die schleichenden Schritte des Jägers suggerieren mögen. Von größerem Raffinement ist An den Mond, in der zweiten, um 1820 entstandenen ­Fassung. Die strophische Anlage, die von einer bestrickenden ­Gesangs­melodie getragen wird, wandelt sich im Mittelteil, wenn von dem „ohne Rast und Ruh“ rauschenden Fluss die Rede ist, in Rhythmus und Klang zu einem lebhaften Spiegel der Natur. Weicht dann am Ende Goethes Naturbetrachtung einer allgemein menschlichen Quint­ essenz („Selig, wer sich vor der Welt“), zieht sich die Musik gleichsam wieder in sich selbst zurück. Der unverwüstliche Musensohn von 1822 mit seinem rustikalen Rhythmus im 9/8-Takt bietet ein treffendes Charakterbild des selbstbewusst auftrumpfenden Dorf­ musikanten. Wandrers Nachtlied I ist im heutigen Programm nicht in der ­berühmten Schubert-Version zu hören – stattdessen lässt sich in Loewes Vertonung erleben, wie der Komponist statt einer ruhigen ­Melodieführung, die das Gedicht erwarten ließe, kleinteilige ­Ton­malerei (auf Worten wie „Gipfel“ und „Wipfel“) in den Vordergrund stellt. In auffälligem Gegensatz dazu Franz Liszts konzentrierte Version, entstanden 1848 zu Beginn seiner Weimarer ­Schaffensjahre. Vier majestätische Klavierakkorde öffnen die Tür zu einer anderen Welt; darüber setzt die Singstimme, teils rezitativisch, teils arios, ihre schlichten, aber ausdrucksvollen Akzente.

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Als kleines Intermezzo folgt Freisinn aus Robert Schumanns ­Zyklus Myrthen op. 24, nach einem Gedicht aus dem West-östlichen Divan des vom Komponisten hochverehrten Dichterfürsten. Mit seinem Marschrhythmus verleiht das Lied dem trotzigen Freiheitsgefühl des in die Ferne strebenden Reiters prägnante musikalische Gestalt. Bleibt noch, als Abschluss und Nachklang, Wandrers Nachtlied II, das der gereifte Schubert seinem Pendant von 1815 zur Seite stellte – ein weiteres großartiges Ein-Blatt-Lied, das in wenigen Takten ein ganzes Universum aus Unruhe, Trauer und Seelenfrieden einfängt.

Der Berliner Musikjournalist Michael Horst arbeitet als Autor und Kritiker für Zeitungen, ­Radio und Fachmagazine. Außerdem publizierte er Opernführer über Puccinis Tosca und Turandot und übersetzte Bücher von Riccardo Muti und Riccardo Chailly aus dem Italienischen.

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Reflection and Appreciation Goethe in Song

Gavin Plumley

To call Johann Wolfgang von Goethe a polymath would be a vast understatement. Celebrated as a poet, playwright, and novelist, he was also a scientist and a statesman, succeeded in being both a theater director and a critic, and was an artist of professed amateurism that nonetheless revealed not insignificant skills as a draftsman. The often-appropriated Voltairean statement that if the deity or a certain person did not exist it would be necessary to invent them could ­easily apply to Goethe, though the sheer breadth of his vision, the skill and alacrity with which he moved between disciplines, would be hard to credit. Only in practical music could there be perceived any shortcoming —“I know music more through reflection than through direct appreciation”—though Goethe also managed to leave an enormous musical legacy through the hands of others. His prose, dramas, and ballads inspired works by Beethoven, Berlioz, Boito, Busoni, Gounod, Massenet and Wagner, while his verse triggered an un­ paralleled avalanche of lieder. To survey Goethe’s poetry through a small but judicious selection may risk ignoring the extent of his grasp, though something of his thematic range is nonetheless represented by three principal subjects: myths; the loss of love; and ­melancholy—forest and field.

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Myths The breadth of Goethe’s source material is as awe-inspiring as the work he produced. His particular interest in the ancient world stems from his time at the University of Strasbourg in the early 1770s, specifically from a friendship with his teacher Johann Gottfried Herder. It was he who introduced Goethe to the works of Homer— as well as those of Shakespeare—and Herder would become a ­prominent figure in Weimar Classicism, espousing a humanism that combined Romantic, Classical, and Enlightenment ideas. The ­Weimar movement’s intellectual balancing act, seeking to reconcile the intensity of Sturm und Drang with the sagacity of the Enlightenment, as well as an attendant understanding of ancient literature, was to be replicated elsewhere, not least in Schubert’s Vienna. Indeed, a recourse to Greco-Roman subjects among the composer’s pre­ dominantly male reading and musical circles, including figures such as Franz von Schober and Johann Baptist Mayrhofer, has recently been interpreted in homoerotic terms, though many of the texts Schubert set to music were also chosen for their dramatic import. That is certainly the case with Goethe’s Der König in Thule, a poem from 1774 that the writer later used within the context of Faust. Schubert set the poem in 1816, and the lied was among a ­collection that the young composer chose to send to Goethe—sadly, the poet did not respond. There is an antique simplicity to its music, as if Schubert knew of Goethe’s earlier letter to Carl Friedrich Zelter expressing that “the purest and noblest form of painting in music is the one which you also practice—it’s a question of transporting the listener into the mood of the poem. To depict sounds by sounds: to thunder, warble, ripple, and splash is abominable.” ­Indeed, Schubert may well have known Zelter’s own Der König in Thule from 1812. This afternoon’s program, however, includes a ­later response: Liszt’s 1856 song, written when he was also resident in Weimar. Unlike in Schubert’s earlier work, the Hungarian-born composer provides all the thrills and spills of a ballad-like telling. Schubert was, however, far from averse to such theatrics, as ­witnessed in An Schwager Kronos, also from 1816 and setting another of Goethe’s 1774 poems. The text references the pre-Socratic ­re­presentation of time and Orcus, one of the gods of the Underworld, but matches those characters to a coach journey from Darmstadt to Frankfurt that Goethe undertook in October 1774. Schubert uses the text’s contrasting rhythms as the basis for his own

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driving accompaniment, becoming more heroic as the coachman reaches the highpoint in the road, before hurtling into the distance. Just as Schubert had done in 1815—and Schumann would do again in 1840—Hugo Wolf enjoyed an extraordinarily prolific year of song composition in 1888. He is now most famed for his Mörike Lieder of the time, but between October 27, 1888 and February 12, 1889 Wolf also set some 50 Goethe poems to music. Anakreons Grab dates from November 4, 1888 (the same day Wolf wrote Der Schäfer). The sixth-century BC poet Anacreon was a favorite of Goethe’s teacher Herder and his poetry was also translated by Mörike, the latter ­perhaps prompting Wolf ’s musical vision of the poet’s resting place. Ganymed, another poem more immediately associated with Schubert, was set by Wolf in January 1889. The lied begins, as ­A­nakreons Grab ends, with a rapt evocation of the seasons, specifically springtime: the piano’s right hand weaving a magical cantilena ­while the singer intones a prayer. As in Schubert’s earlier setting, the embrace of the disguised deity triggers a much richer harmonic palette, before the song trembles with restrained eroticism. The Loss of Love Given Weimar Classicism’s central balance between restraint and turbulence, ardent topics were also a constant presence in ­Goethe’s work: poetic, prosaic, and dramatic alike. And it was his more ardent verses, with their varying constancies of affection, that became hugely popular in the world of song, as watered by the ­tears of Wonne der Wehmut, Beethoven’s 1810 lied. Dating from 20 years before is what is thought to have been the composer’s very first ­setting of Goethe’s poetry, Maigesang, though it was only published in Vienna in 1805 as part of his Eight Songs Op. 52. By that time, Beethoven had already reused the melody in one of two arias for Ignaz Umlauf ’s 1795 singspiel Die schöne Schusterin. Schubert may well have known Beethoven’s Op. 52 when he wrote the pensively prayerful Erster Verlust. It was composed when he was just 18 years old, though both its fond memories and rather slimmer hopes speak of much greater maturity. Two months earlier, Schubert had penned his first setting of Goethe’s Rastlose Liebe, ­before returning to the text in 1821. The verses inspire a particularly restive song, with whirling motifs evoking the rain.

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All poetry is supposed to ­be instructive but in an ­unnoticeable manner; it is supposed to make us aware of what would be ­valuable to instruct ourselves in; we must deduce the lesson on our own, just as with life. —Johann Wolfgang von Goethe, letter to Carl Friedrich Zelter (1825)


We make another excursion to the end of the 19th century, long after Goethe’s death, with Grieg’s Six Songs Op. 48. The group was published in 1889, at the time of Wolf ’s outpouring of Goethe settings, though No. 5, Zur Rosenzeit, is the Norwegian composer’s only known Goethe song. Its tale of fading love and fading roses, taken from another singspiel, Erwin und Elmire, is captured in the most plangent terms, with chromaticism acting as thorns in the lover’s side. Equally bedecked with roses is Schubert’s well-known Heidenröslein of August 19, 1815. Many have noted the similarity between its melody and Pamina and Papageno’s duet Könnte jeder brave Mann from the end of Act I of Die Zauberflöte. The text was written by Goethe in 1771 and addressed to his beloved at the time, Friederike Brion. The suffering of the rose in Heidenröslein cannot compare, however, with the plight of the figures in Goethe’s famous Erlkönig. This ­ballad is taken from the writer’s 1782 singspiel Die Fischerin, though the roots of its tale of an anxious young boy being taken by his father on horseback at night, only to capitulate to the clutches of the imaginary elf king, are to be found in the Danish Elveskud ­ballads of the Middle Ages. Unsurprisingly, this vivid poem captured the imagination of many composers, including Beethoven in sketch form, but the two most celebrated versions are those by Schubert and Carl Loewe. Loewe spent most of his life traversing Europe as a singer, whereby he learned a vast repertoire of songs and added many of his own. He was particularly celebrated for his ballads, which, like Schubert’s, were influenced by the Stuttgart-based composer—and friend of Schiller’s—Johann Rudolph Zumsteeg. In response to Erlkönig, a ­figure no less than Wagner preferred Loewe’s setting. While posterity may argue otherwise, it is easy to hear how the king’s eerily guileless tune chilled Loewe’s listeners to the bone. There is, however, no doubting the impact of Schubert’s setting, written towards the end of 1815 and published as his first official opus. Its driving accompaniment, the like of which only Wagner again would match—in very different circumstances—at the opening of Die Walküre, so ­effectively transported early audiences, both friendly and unfamiliar, that Schubert was often simply referred to as the composer of Erlkönig.

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Melancholy—Forest and Field We remain in the chilly night air for Jägers Abendlied from ­ oethe’s early Weimar period. Schubert first set the text to music G on June 20, 1815, during his teenage Wunderjahr of lied composition, though decided to return to it at the beginning of the following year, around the time he composed Der König in Thule. This second setting is part of today’s program, simpler in many ways than the first, but more effective in its juxtaposition of a quietly noble vocal line and a gently probing accompaniment. Schubert would likewise return to Goethe’s An den Mond, writing his first attempt on August 19, 1815, the same day as Heidenröslein, and his second at some point in 1816. Again, we hear the latter, in which Schubert moves away the first’s folksy melodies and strophic form to do fuller justice to the changes and chances of Goethe’s rightly celebrated text, written in 1778 as part of a letter to his close friend Charlotte von Stein, a highly educated lady-in-waiting at the court in Weimar. Slowly but surely, dissonance gives way to con­ sonance to offer some glimmer of peace, as the narrator “holds one friend to his heart.” So too does the young man in Der Musensohn of 1822, his whistling tunes evident in the fleet accompaniment. But like the protagonists of Schubert’s later cycles, he begins to doubt the requital of his affections. Charlotte von Stein would likewise disbelieve the constancy of Goethe’s friendship when he decided to leave for Italy in 1786 ­without telling her. Indeed, it would take some time for the closeness of their relationship to recover, though the connection had already been cemented in various letters and poems. Chief among these is Goethe’s first Wandrers Nachtlied, which he penned in the Harz Mountains on February 12, 1776. Our program includes two versions of this cherished text: beginning with Loewe’s pleading aria of 1828, which is followed by the first of Liszt’s four settings, in which “grief and suffering” are tolled by the piano, before the voice enters more prayerfully, together displaying the two sides of Liszt’s personality. Equally hushed is the middle section of Schumann’s Freisinn from Myrthen, a collection he composed for Clara as a wedding gift, though the overall mood is much more buoyant. The text of the second Wandrers Nachtlied came four years after the first, written by Goethe on the wall of a gamekeeper’s lodge on the Kickelhahn, where he spent the night. “Apart from smoke ­r ising here and there from the charcoal kilns, the whole scene is

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motionless,” he wrote to von Stein. And it was clearly a special place, for Goethe returned to the scene in August 1813 and again in ­August 1827, shortly before his 82nd birthday. It is not entirely clear when Schubert set this perfect evocation of Waldeinsamkeit, with its balance of Classical objectivity and Romantic subjectivity, but his equally flawless song was certainly written by the summer of 1824, when the composer referred to it directly. Equally likely is that it was one of five Goethe settings composed in December 1822, shortly before Schubert was to be dogged by serious illness for the first time in his life and forced to face the threat of mortality, as hinted at in the final line of Goethe’s timeless poem.

Gavin Plumley is a cultural historian whose work spans many periods and disciplines. He has written, lectured, and broadcast widely on the music and culture of Central Europe and appears frequently on the BBC. He has been the commissioning editor of English-language program notes for the Salzburg Festival since 2013. His first book, A Home for All Seasons, will be published in 2022.

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