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4. SINFONIE
Charles Ives
Die Entstehungszeit der 4. Sinfonie von Charles Ives erstreckte sich über den Zeitraum von 1910 bis 1925 und fällt damit in die späte Schaffensphase des Komponisten. Kennzeichnende Elemente des viersätzigen Werkes sind Poly- und Atonalität, Polymetrik und -rhythmik, Cluster und Collageverfahren, wobei auch mit Vierteltönigkeit und aleatorischen Mitteln des Zufalls experimentiert wird.
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Die Partitur verlangt ein sehr umfangreiches Instrumentarium. Das grossbesetzte Hauptorchester mit solistischem Klavier wird durch ein räumlich getrenntes Fernensemble, eine separate Schlagwerkgruppe sowie einen vierstimmigen Chor ergänzt. Neben dieser grossen Besetzung stellen auch die in teils völlig unabhängigen Metren notierten, simultanen musikalischen Abläufe Herausforderungen, die mehrere Dirigentinnen oder Dirigenten erforderlich machen.
Alle vier Sätze basieren auf früheren Werken des Komponisten: der erste Satz auf dem Finale seiner ersten Violinsonate mit dem Lied «Watchman»; der zweite Satz auf der Klavierkomposition «The Celestial Railroad»; der dritte Satz auf dem ersten Satz des ersten Streichquartetts; und der letzte Satz auf einem verlorenen Memorial March sowie dem Schlussabschnitt des zweiten Streichquartetts.
Bereits für die erwähnten Originalkompositionen hatte Ives musikalische Zitate verwendet, vor allem geistlicher Hymnen. Für seine 4. Sinfonie ergänzte der Komponist die musikalische Substanz um und zwischen existierenden Passagen mit zahlreichen weiteren Anspielungen, so dass daraus die für seine Collagentechnik typischen, vielschichtige Texturen entstanden.
Gemäss dem ästhetischen Programm der Sinfonie stellt der erste Satz «die bohrende Frage nach dem Was und Warum des Lebens». Die drei folgenden Sätze geben unterschiedliche Erwiderungen, mit denen die Existenz darauf antwortet.
Blick auf das ehemalige Wohnhaus von Charles Ives in Redding, Connecticut (USA), wo seine bedeutendsten Kompositionen entstanden sind.
I Prelude
Der kurz gehaltene erste Satz der 4. Sinfonie hat eine dreiteilige Form und stellt das grossbesetzte Hauptorchester einschliesslich Chor einem kleinen, aus Harfe und Violinen bestehenden Fernensemble gegenüber. Nach einer unisono gespielten, gebieterisch-feierlichen Einleitung im Fortissimo der tiefen Streicher und des Klaviers mit anschliessender Trompetenfanfare erklingt das Fernensemble, das den grössten Teil des Satzes mit Fragmenten aus der Hymne «Nearer, My God, to Thee» hinterlegt. Im zweiten Teil intoniert ein Solocello den Beginn der Hymne «In the Sweet Bye-and-Bye», der mit anderen Motiven begleitender Instrumente fortgesponnen wird. Der dritte Teil ist eine Adaption des Liedes «Watchman, Tell Us of the Night» von Charles Ives nach einem Gedicht von Lowell Mason, unisono interpretiert durch den Chor sowie untermalt von Klavier und Streichern. In der Begleitung des Fernensembles und anderer Instrumente erklingen Fragmente weiterer Hymnen. Der Satz verklingt im vierfachen Pianissimo.
II Comedy
Der zweite Satz ist eine erweiterte orchestrale Fassung der Klavierfantasie «The Celestial Railroad» von Charles Ives, ergänzt durch Einschübe und Stimmhinzufügungen. Als aussermusikalische Grundlage diente die allegorische Erzählung «Die himmlische Eisenbahn» von Nathaniel Hawthorne. Darin träumt ein Mann von einer direkten Eisenbahnverbindung in den Himmel, die ihm als Alternative zum beschwerlichen irdischen Pilgerpfad angeboten wird – bis er erkennen muss, dass er sich in Wahrheit auf dem Weg zur Hölle befindet. Der Schläfer erwacht unter den Klängen einer Blaskapelle mit der Erkenntnis, dass es keine einfache Antwort auf die (im ersten Satz aufgeworfenen) elementaren Fragen des Lebens gibt.
Musikalisch werden in diesem Satz in einer komplexen Collage und teils asynchronen Metren Imitationen von Eisenbahngeräuschen neben Zitate aus Märschen und Hymnen (wie «Beulah Land», «Marching Through Georgia», «In the Sweet Bye-and-Bye»,
Blick in das an der American Academy of Arts and Letters in New York City rekonstruierte Studierzimmer von Charles Ives, das sich ursprünglich im Erdgeschoss seines Hauses in Redding, Connecticut, befand.
«Turkey in the Straw», «Yankee Doodle», «Jesus, Lover of My Soul», «Nearer, My God, to Thee» und «Columbia, the Gem of the Ocean») gestellt. Der Satz soll kein Scherzo im üblichen Sinne, sondern eine Komödie darstellen. Der Traum endet mit einem abrupten Einbruch der Realität: den von Blechbläsern und Schlagwerk geprägten Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag der USA vom 4. Juli in der Kleinstadt Concord, Massachusetts.
III Fugue
In scharfem Kontrast zu den vorangehenden komplexen Klangballungen steht der diatonisch geprägte dritte Satz: eine Doppelfuge, basierend auf den Hymnen «From Greenland’s Icy Mountains» und «All the Hail of the Power». Dieser Satz ist kleiner besetzt (wenige Bläser, Streicher, Pauke und Orgel).
In einer Episode wird auch Johann Sebastian Bachs Dorische Toccata und Fuge zitiert, die Ives in seiner Jugend als Organist spielte. Am Ende erklingt in der Trompete das Weihnachtslied «Joy to the World». Gemäss dem Komponisten symbolisiert diese Doppelfuge die «Reaktion des Lebens auf Formalismus und Ritualismus».
IV Finale
Im letzten Satz erklingen kurz nach Beginn Fragmente von «Nearer, My God, to Thee» in den tiefen Streichern sowie im Fernensemble mit Violinen und Harfe. Diese Hymne ist –neben anderen Hymnenzitaten – stets gegenwärtig, wandert langsam in die mittleren Register und wird aus Bruchstücken allmählich zusammengesetzt, bis sie vom wortlos singenden Chor übernommen wird, begleitet von abwärtsführenden Skalen. Der Komponist setzt in diesem Satz ein separates Schlagzeugensemble ein, das durchgängig in einem vom Hauptorchester unabhängigen Tempo zu spielen hat. Am Ende verklingt die Musik allmählich, zuletzt im Fernensemble und der Schlagwerkgruppe. Aus der Sicht des Komponisten stellt das Finale «eine Verherrlichung des vorangegangenen Gehalts dar, in Begriffen, die etwas mit der Wirklichkeit der Existenz und ihrer religiösen Erfahrung zu tun haben».
Titelbild für eine 1974 von Columbia anlässlich des 100. Geburtstags von Charles Ives veröffentlichte fünfteilige Schallplatten-Box mit Musik des Komponisten.