„Der sterbende Seneca“ und die Autonomie des Rechts

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„Der sterbende Seneca“ und die Autonomie des Rechts Die Themenkonzerte der Bayerischen Staatsoper mit ihrer Verbindung von Musik und Vorträgen an ganz besonderen Orten beschäftigen sich in dieser Spielzeit mit allem, was recht ist. Die Kunsthistorikerin Carolin Behrmann hält in diesem Rahmen einen Vortrag über das Verhältnis von Richten und Recht. Am Beispiel von Peter Paul Rubens’ Der sterbende Seneca beschreibt sie hier, wie Gemälde uns etwas über die Natur von Gesetzen erzählen können. Was ist der Grund des Gesetzes? Wie ist sein philosophisch unhintergehbares Prinzip zu beschreiben? Ist er überhaupt darstellbar, oder ist es unmöglich, ihn zu zeigen? Man meint, diesen Grund in bestimmten Momenten zu erahnen, wie zum Beispiel in der kurzen Stille während des Auftritts der Verfassungsrichter, in der die Würde dieses Gerichts ins Bild gesetzt wird. Nach dem geordneten Erscheinen der in anachronistische Roben gekleideten Hüter des Grundgesetzes bleiben sie wenige Sekunden schweigend und aufrecht hinter der Bank stehen. Dieser Moment, in dem der Blick geradeaus gerichtet ist, betont zugleich eine grundlegende Ordnung und Distanz, die mehr ist als jene, welche die Richter zu den im Saal anwesenden – und auch zu den nicht anwesenden – Zuschauern einhalten. Das Gericht konstituiert sich in diesem Bruchteil einer Minute, zeitlich wohlbemessen und gerahmt. Die Würdeformel ist eine gründende Geste, keine Floskel, kein totes Ritual, das nur aus Traditionsbewusstsein zitiert wird. Der dann folgende Moment der Urteilsverkündung ist mit seinem zeremoniellen Auftakt untrennbar verbunden. Er braucht die scharlachrote Farbe, das unge-

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wöhnliche Gewand, die Aufmerksamkeit und Distanzgewinnung, um die besondere Unantastbarkeit der Grundrechte zu betonen. Auch die Figur des Seneca im Gemälde von Peter Paul Rubens (um 1612 / 13) steht aufrecht dem Betrachter gegenüber. Sein vom Alter gezeichneter Körper ist fast ganz entblößt, seine rechte Hand erhoben, um mit einer Geste seine Worte zu bekräftigen, denn er spricht. Er steht in einer tiefen goldenen Schale, und aus seinem linken Unterarm fließt ein dünner, aber kräftiger Blutstrahl in das fast knietiefe Wasser darin. Mit diesem Strahl wird die bemessene Zeit verdeutlicht, die dem Sterbenden noch bleibt. Rubens’ Gemälde Der sterbende Seneca gilt als Dokument einer intensiven Auseinandersetzung mit Senecas philosophischen Werken in neostoizistischen Kreisen nach 1600, für die es damals noch keine Bildtradition gab. Viele Details im Bild lassen den Philosophen als einen christlichen Märtyrer erscheinen, etwa das Staunen der Soldaten über seine Standhaftigkeit gegen den tyrannischen Willen. Doch während Märtyrer meist der Grausamkeit der folternden Henker ausgesetzt sind, erscheint das langsame Sterben des Philosophen frei von jeglicher Agonie, beinahe ruhig. Die Konzentration des neben ihm stehenden Mannes, der bedächtig das langsame Ausbluten des Körpers überwacht und mit einem Band um den Arm reguliert, ähnelt der eines Arztes, der sich um die Schmerzfreiheit seines Patienten bemüht. Seneca wurde von seinem ehemaligen Schüler, dem römischen Thronfolger Nero, in diesen Tod getrieben. Was immer ihn mit Nero, dessen politisches Handeln immer skrupelloser wurde, noch verbunden haben mag, so schrieb er in einer seiner letzten Schriften, dieser Akt habe „die aufgehobene Gemeinsamkeit menschlicher Rechtsgrundsätze getrennt“. Senecas un gebrochene Haltung angesichts des tyrannischen Urteils betont die Autonomie des Gesetzes. Rubens verdeutlicht das über eine Verschränkung von Zeitlichkeit und Testament. Während das Blut aus den Adern rinnt und der Körper die Farbe der darunter liegenden Leinwand anzunehmen scheint, diktiert der Philosoph, der auch ein Naturforscher, Dramatiker und Politiker war, seine letzten Worte. Der neben ihm kauernde Schreiber, dessen angespannter Blick zum Sterbenden die Dramatik des Todesmomentes deutlich macht, ist gerade im Begriff, ein Wort festzuhalten, das direkt mit seiner Beobachtung zusammenzuhängen scheint: virtus – die Tugendhaftigkeit. In dieser Gleichzeitigkeit von Aufschreiben und langsamem Verbluten manifestiert sich die unausweichlich fortschreitende Zeit, zugleich aber ebenso die Fort-

Text Carolin Behrmann


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