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MIT ERWARTUNG
Die zweite Ausgabe des Ja, Mai Festivals nimmt Synergien zwischen Musiktheater, Tanz und bildender Kunst in den Fokus und kreist um den Themenkomplex „Erwartung“. Zwei Produktionen und ein Festivalprogramm: Die Oper Hanjo von Toshio Hosokawa ist im Haus der Kunst zu sehen. Il ritorno / Das Jahr des magischen Denkens , die erste Arbeit von Christopher Rüping im Genre Musiktheater, kombiniert Claudio Monteverdi mit Joan Didion.
Hanjo KUNST ALS PROZESS
Das Schaffen von Rirkrit Tiravanija lief noch nie in nur eine Richtung, es entzieht sich einer einfachen Defi nition und lässt sich schwer eingrenzen. Daher kreiert Tiravanija für das Haus der Kunst auch nicht nur eine Ausstellung, sondern bildet Verbindungen in das und aus dem Haus heraus und lässt Überschneidungen zu Toshio Hosokawas Oper Hanjo entstehen.
In seinen Arbeiten schaff t Tiravanija oft soziale und räumliche Situationen, welche erst durch die Anwesenheit und Handlungen der Besucher:innen ihre endgültige Form erhalten. Sie haben viel mit Ideen von Gastfreundschaft, sozialem Raum und kultureller Identität zu tun, und in der Tat führen viele Verbindungen in Tiravanijas Biografi e. Er wurde als Sohn eines thailändischen Diplomaten in Buenos Aires geboren, zog jedoch in seiner Jugend oftmals um, so dass er in Thailand, Äthiopien, Kanada und den USA aufwuchs. Für das Haus der Kunst wird er den Bühnenraum, den er für die Opernaufführungen von Hanjo erdacht hat, auch auf andere Art und Weise aktivieren: Dort fi ndet eine seiner Performances über Teilhabe,
Konzipiert für Hanjo die Szenografie: Rirkrit Tiravanija
Essen und Zusammensein statt, für die er so bekannt ist. Verteilt auf das gesamte Gebäude und darüber hinaus wird es einen Workshop, eine Performance, eine öffentliche Intervention, sowie eine umfassende Präsentation des fi lmischen Werks Tiravanijas zu sehen geben.
Es ist nicht das erste Mal, dass Rirkrit Tiravanija mit dem Haus der Kunst zusammenarbeitet. Im Jahr 2004 schlüpfte er in die Rolle eines Künstler Kurators und konzipierte, zusammen mit Molly Nesbit und Hans Ulrich Obrist, Utopia Station, eine Art reisendes Netzwerk, Plattform und Treffpunkt. Dort versammelten sich damals rund zweihundert Künstler:innen, Architekt:innen, Schriftsteller:in nen, Musiker:innen und Performer:innen.
Ein von Tiravanija mitentworfenes, in der Mittelhalle des Haus der Kunst platziertes dreistöckiges Haus bildete dabei das Zentrum für die gemeinsamen Aktivitäten, wie Kochen, Diskutieren, Aufführen und Improvisieren.
Tiravanija ist bekannt dafür, die Grenze zwischen Kunst und Leben zu ignorieren und diese beiden Sphären gerade dafür zu verweben, eine künstlerische Produktion von gesellschaftlichem Engagement zu erzeugen. Seine Arbeiten bringen immer Menschen zusammen, laden oft dazu ein, sie zu „bewohnen“ oder an ihnen teilzuhaben, in gemeinschaftliche Rituale einzutauchen. In einer seiner frühesten und bekanntesten Werkreihen verweigert sich Tiravanija traditionellen Kunstobjekten und kocht anstatt dessen für die Ausstellungsbesucher:innen. Die erste Ausgabe dieser Reihe mit dem Titel untitled 1990 (pad thai) fand 1990 im Project Room der Paula Allen Gallery New York statt. In Tiravanijas Monografie von 2005 beschreibt er rückblickend in einem fiktiven Ausstellungsrundgang, wie „die Woks noch immer nicht abgespült sind und wir die getrockneten Überreste von Nudeln, Chilis und Krabbenschwänzen sehen können ... zerbrochene Eierschalen mit herabtropfendem Dotter, die geschmolzene, karamellisierte Klebrigkeit einer fleckigen Packung Zucker auf einem Schneidebrett aus Holz … ungewaschene Messer auf der langsamen Reise des Verrostens … wir können in der Luft immer noch den Geruch von Öl und scharfen Chili und Ketchup riechen.“ Was für uns übrig blieb als Ausstellung war die Erinnerung an ein Ereignis, oder eines möglichen Ereignisses, und viele der Besucher:innen hatten den Eindruck, dass dieses hektische Kochen von kostenlos angebotenen Nudeln und Shrimps nur das Catering war für eine weitere Ausstellungseröffnung eines anderen Künstlers.
Rirkrit Tiravanija interessiert sich genau so sehr für den Entstehungsprozess wie für die fi nale Aufführung oder Präsentation. Prozess ist der Schlüsselbegriff – der Prozess des Lebens, Denkens, Tun und Machens. Innerhalb verschiedener kultureller Räume, Praktiken und Zeitlichkeiten hat der Künstler kontinuierlich die soziale Dimension von Kunst herausgefordert und erweitert, indem er das Publikum einlädt, sich gemeinschaftlich an Ritualen und Handlungen zu beteiligen.
Emma Enderby, Hanns Lennart Wiesner, Katja Leclerc (Übersetzung)
Il ritorno / Das Jahr des magischen Denkens
LOSLASSEN ODER FESTHALTEN?
Von Christopher Rüping
I Im Januar 2023 fand am Schauspielhaus Zürich eine Veranstaltung statt, die den merkwürdigen Titel „Publikumsgipfel“ trug. Eingeladen war das Publikum der Stadt Zürich, um sich mit den Theatermacher:innen darüber auszutauschen, welche seiner Bedürfnisse sich am aktuellen Programm nicht stillen ließen. Was sich in den zwei Stunden dann ereignete, hatte mit dem Erklimmen irgendeines Gipfels allerdings wenig zu tun – es fühlte sich eher an wie eine mühsame Taldurchschreitung in zerklüftetem Gebiet.
Ziemlich schnell wurde klar, dass es das Publikum nicht gab – man hatte vielmehr den Eindruck, dass es mindestens zwei Publika waren, die da im Pfauen aufeinandertrafen. In den ersten Reihen hatten die Abonnent:innen Platz genommen, deren Wortmeldungen sich darum drehten, dass die Einführungen im Foyer akustisch schwer verständlich seien (Stichwort Hörgerät), dass es mehr klassische Inszenierungen ohne Aktualisierungsversuche irgendwelcher Regisseur:innen im Programm bräuchte (Stichwort Werktreue) und, dass die Kommunikation des Hauses die Lust am Theaterbesuch verderbe (Stichwort Gendersternchen, denn – Zitat – : „Das Volk spricht kein woke.“) Diese Äußerungen wurden aus den hinteren Reihen des Raumes jeweils mit lautstarken Buhrufen und Gelächter quittiert. Dort hatten sich die jüngeren Zuschauer:innen versammelt, die sich vorwiegend daran zu stören schienen, dass auf der Bühne hauptsächlich weiße Männer zu Wort kamen und, dass der Diversitätsagentin Yuvviki Dioh kein größeres Team zur Verfügung gestellt wurde –und natürlich an den Äußerungen ihrer Vorredner:innen aus den Reihen 110. Die Demarkationslinie zwischen den beiden Publika verlief zumindest an diesem Abend in ernüchternder Konsequenz an den Kategorien von race, class , gender und age : Vorne im Saal saß das alte, reiche, weiße Publikum – in den hinteren Reihen das junge, vermutlich weniger reiche, diverse. Eine Annäherung schien an jenem Abend schwer vorstellbar.
Aber worüber wurde da eigentlich gestritten? Wonach sehnte sich das Publikum der Reihen 110? Und warum quittierte das Publikum der Reihen 1120 diese Sehnsucht mit solchem Unwillen?
Ich rufe den etwa 75jährigen Herren in den Zeugenstand, der sich gleich zu Beginn der Veranstaltung zu Wort meldete und ein sorgfältig formuliertes Statement verlas, in dem er das Theater umriss, das ihm fehlte: Tschechow – und zwar ganz im Sinne des Autors, also mit dem Ticken der Standuhr, dem Klirren des Porzellans, dem Hahnenschrei aus dem Garten. Mit historischen Kostümen – mit Kleidern, Monokeln und Gehstöcken. Mit Schauspieler:innen, die den Text im Original sprechen, die Gefühle der Figuren voll auskosten und ausspielen. Aber von welchem Theater schwärmte er da eigentlich? Offensichtlich meinte er nicht das Theater, was man Ende des 19. Jahrhunderts, also zu Tschechows Zeiten und „in seinem Sinne“, hätte sehen können – dieses muss man sich nämlich deutlich weniger naturalistisch und in allen Belangen sehr viel lauter vorstellen. Nein, ich vermute, das Theater, was da beschworen wurde, war das Theater seiner Jugend. Entweder beschrieb er eine konkrete Inszenierung, die ihm besonders im Gedächtnis geblieben war, oder (wahrscheinlicher) einen Querschnitt der Inszenierungen, die ihn für das Theater begeistert hatten, die ihm die Tür in die magische Welt der Bühnenkunst geöffnet hatten. Und nach diesen Momenten des Staunens, des Zaubers sehnte er sich offensichtlich zurück. Er wollte sie festhalten. Er wünschte sich vom Theater, ein Feuer am Leben zu halten, das Jahrzehnte zuvor entzündet worden war, und an dem er sich nach wie vor zu wärmen gedachte.
II In ihrem Buch Das Jahr magischen Denkens schreibt die große amerikanische Schriftstellerin Joan Didion über den Tod ihres Mannes. Am 30.12.2003 sackt John Gregory Dunne, mit dem Didion zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre verheiratet ist, über dem Esstisch zusammen. Herzstillstand. Eine Stunde später wird er für tot erklärt. Didion erzählt davon, dass sie – zur Verwunderung aller, nicht zuletzt ihrer selbst – vehement auf eine Autopsie besteht. Sie erzählt davon, dass sie die Nachrufe, die in allen großen amerikanischen Zeitungen erscheinen, nicht lesen kann. Sie erzählt, dass sie es auch Monate nach Johns Tod nicht übers Herz bringt, seine Schuhe wegzuschmeißen.
Christopher Rüping zählt zu den vielversprechendsten Regisseuren–fünf Einladungen zum Berliner Theatertreffen, zweimal „Nachwuchsregisseur des Jahres“, einmal „Regisseur des Jahres“ von der Zeitschrift Theater heute, „Regisseur des Jahres“ von der Zeitschrift Die deutsche Bühne. Seine Inszenierungen ziehen magnetisch ein diverses Publikum an, auch, weil Diversität ein integraler Bestandteil seiner Arbeiten und seines Verständnisses ist. Seine Arbeiten sind eine offene Einladung an alle.
Warum?, fragt sie sich – und beginnt einen Tauchgang in die Untiefen ihres Bewusstseins. Nach und nach gelingt es ihr, sich selbst zumindest teilweise zu entschlüsseln. Sie stellt fest: Auf die Autopsie besteht sie in der irrationalen Hoffnung, dass während dieser festgestellt werden könne, dass doch „noch etwas zu retten“ sei, dass Johns Tod nur ein Missverständnis war und etwa durch einen kleinen operativen Eingriff oder die Umstellung eines Medikaments rückgängig gemacht werden könnte. Die Nach rufe kann sie nicht lesen, weil sie sich sicher ist, dass es John bei seiner Rückkehr nicht gefallen werde, dass sie es anderen erlaubt habe, ihn für tot zu halten. Und seine Schuhe kann sie nicht wegschmeißen, weil John sie natürlich brauchen würde, wenn er zurückkam. „Wenn“ im Sinne von „when“ . Nicht von „if“
Joan Didion weiß, dass ihr Mann tot ist. Und sie weiß, dass der Tod irreversibel ist, und dass das Leben weitergehen muss. Das ist nur logisch. Aber ihr Denken in jenem Jahr ist kein logisches Denken. Es ist, wie der Titel ihres Buches schon sagt, ein magisches Denken – und in ihrem magischen Denken regiert die tröstliche Vorstellung, dass John eben doch zurückkehren wird. Didions Jahr des magischen Denkens liegt zwischen Festhalten und Loslassen, es schaff t eine Phase des Übergangs. Irgendwann – ziemlich genau zwölf Monate später – findet diese Phase ihr Ende. Didion liest die Nachrufe. Sie gibt Johns Schuhe weg. Was bleibt ihr auch anderes übrig? Die Halbwertszeit der Magie ist in dem, was wir als „echtes“ Leben bezeichnen, nicht besonders lang. Ein halbes Jahr, ein ganzes vielleicht, maximal zwei – dann wird von jemandem, den wir „gesund“ nennen, erwar tet, sich der Welt wieder mit den Werkzeugen der Logik zu widmen. Und die Magie den Büchern, Liedern, Filmen zu überlassen. Und dem Theater.
III Was ist die Aufgabe des Theaters?
Mehrfachnennungen möglich.
Eine Welt entwerfen, die es noch nicht gibt. Utopien des Zusammenlebens entwickeln.
Der Welt, in der wir leben, einen Spiegel vorhalten. Gesellschaftliche Missstände diskutieren.
Ein Feuer am Leben halten, das vor Jahrzehnten (Jahrhunderten?) entzündet wurde, an dem wir uns auch heute noch wärmen können.
Eine Insel des magischen Denkens sein im Ozean der Logik.
Sonstiges: _____________________________
Einsendungen bitte an: intendanz@staatsoper.de
IV Bei Monteverdis Oper Il ritorno d’Ulisse in patria wartet Penelope 20 Jahre lang auf die Rückkehr ihres in den Krieg gezogenen Mannes Odysseus. Kaum ein Mensch um sie herum rechnet mit seiner Rückkehr. Ihr Umfeld bittet sie, sich doch endlich wieder dem Leben zuzuwenden. Aber Penelope bleibt stur. Und sie sollte Recht behalten: Am Ende kommt Odysseus dann tatsächlich zurück. Und Penelope? Erkennt ihn erstmal nicht wieder. Aber dann gibt es ein HappyEnd, wie es sich die HollywoodRomcoms nicht schöner hätten ausmalen können. Natürlich. Denn in der Oper hat das magische Denken keine Halbwertszeit. Es ist unendlich. Was also würde Joan Didion denken, wenn sie in ihrem Jahr des magischen Denkens in der Oper gesessen hätte und Zeugin Penelopes sturer Weigerung, Odysseus loszulassen, geworden wäre?
V Schuhe wegwerfen. Schuhe behalten. Loslassen. Festhalten.
JA, MAI FESTIVAL
Das gesamte Festivalprogramm fi nden Sie unter www.staatsoper.de/jamai
HANJO
Toshio Hosokawa Haus der Kunst, Westfl ügel
Fr., 05.05.2023 19:00 Uhr
Mo., 08.05.2023 19:00 Uhr
Mi., 10.05.2023 19:00 Uhr
Fr., 12.05.2023 19:00 Uhr
So., 14.05.2023 14:00 Uhr
Preise. 53,20 €
IL RITORNO / DAS JAHR DES MAGISCHEN DENKENS Claudio Monteverdi /Joan Didion Premiere des Opernstudios Cuvilliés-Theater
So., 07.05.2023 19:30 Uhr PREMIERE (PREISE CF)
Di., 09.05.2023 19:30 Uhr (PREISE CEE)
Do., 11.05.2023 19:30 Uhr (PREISE CEE)
Sa., 13.05.2023 19:30 Uhr (PREISE CEE)
Di., 16.05.2023 19:30 Uhr (PREISE CEE)
Do., 18.05.2023 19:30 Uhr (PREISE CEE)
Preise CF: ab 31,92 € bis 75,60 €,
Preise CEE: ab 29.68 € bis 64.40 €
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