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Tote Städte, tote Frauen

Tote Städte, tote Frauen

Mit Die tote Stadt schrieb der Komponist Erich Wolfgang Korngold seine erfolgreichste Oper. Was ihn an diesem Sto so anzog?

Porträt von Erich Wolfgang Korngold, 1916. Der Komponist wurde 1897 in Brünn geboren; 1957 starb er in Los Angeles.

Ein Blick auf die Liebesbeziehung zu seiner eigenen Frau – und auf Alfred Hitchcock.

Georges Rodenbachs Roman Bruges-la-Morte erschien 1892 mit einem Frontispiz von Fernand Khnopff, das eine offenbar tote Frau zeigt. Sie erinnert an Ophelia.

„Auch Statuen sterben“, Les statues meurent aussi, so heißt ein halbstündiger Dokumentarfilm, den Chris Marker gemeinsam mit Alain Resnais und dem belgischen Kameramann Ghislain Cloquet gedreht hat. Der Film wurde 1953, nach seiner Uraufführung in Cannes, wegen seiner scharfen Kritik an der französischen Kolonialpolitik verboten; in Paris wurde er erstmals im November 1968 gezeigt. Doch nicht nur Statuen, auch Städte können sterben. Sie veröden, werden verlassen und aufgegeben; erst vor wenigen Jahren hat die Zeitschrift Bauwelt dem Thema der „Geisterstädte“ eine eigene Ausgabe gewidmet. Das Motiv des Städtetods hat der symbolistische Schriftsteller Georges Rodenbach, ein Freund Stéphane Mallarmés, mehrfach verfolgt, etwa in einem vierteiligen Essay über Agonies de villes, der 1889 im Figaro veröffentlicht wurde, und drei Jahre später in seinem berühmten Roman Brugesla-Morte, ebenfalls zunächst im Figaro, kurz danach bei Flammarion, mit einem Frontispiz von Fernand Khnopff. Dieses Frontispiz zeigt eine junge, offenbar tote Frau, sie erinnert an Ophelia, vor einer Brücke.

Khnopff war ein Bekannter Rodenbachs. Der Romanstoff inspirierte den Maler zu mehreren Zeichnungen, wie Une ville morte. Avec Georges Rodenbach.

Bruges-la-Morte erzählt von Hugues Viane, einem jungen und wohlhabenden Mann, dessen geliebte Ehefrau gestorben ist. Er übersiedelt nach Brügge, in ein Haus am Rozenhoedkaai; dort richtet er für die junge Tote Gedenkräume ein, die nicht einmal die fromme Haushälterin betreten darf. In diesen Gedenkräumen hängen Porträts, und in einem Schrein verwahrt er gar eine Haarlocke der Toten. Zufällig begegnet er eines Tages der Tänzerin Jane Scott, die seiner verstorbenen Frau extrem ähnlich sieht. Er verfällt dieser Tänzerin, die er dem Erscheinungsbild seiner toten Frau immer weiter anzugleichen versucht. Sie reagiert erst geschmeichelt, beginnt dann aber zunehmend, den reichen Liebhaber auszunutzen, der ihr teure Geschenke macht und ein eigenes Haus für sie mietet. Zugleich will Jane ihre Freiheit, auch für Abenteuer mit anderen Männern, nicht aufgeben; es kommt zu heftigen Konflikten. Am Ende bricht sie in die Gedenkräume für die tote Frau ein, verspottet Hugues und ergreift seine Reliquie, die Haarlocke. Hugues erwürgt sie im Zorn, eben mit dieser Locke, und „die Tote war noch toter. […] Die beiden Frauen waren zu einer geworden. So ähnlich im Leben, noch ähnlicher im Tod.“

Die Erstausgabe von Bruges-la-Morte zieren 35 Fotografien Lucien Lévy- Dhurmers; sie zeigen Brügge, hier mit Autor Rodenbach im Vordergrund.

Rodenbachs Erzählung verbindet einige typische Motive der Schwarzen Romantik – etwa den Gegensatz zwischen der Heiligen und der Femme fatale, der Belle Dame sans Merci, oder die Faszination für die schöne Leiche einer jungen Frau – mit ausführlichen Stadtbeschreibungen. In seiner Vorbemerkung erklärt Rodenbach die Stadt Brügge geradezu zur Hauptperson, die eng verbunden sei mit den geschilderten Seelenzuständen; sie erteile Ratschläge, warne und treibe zum Handeln. Die Erstausgabe wurde mit 35 Fotografien Lucien Lévy-Dhurmers ausgestattet; sie zeigen Ansichten der Stadt Brügge, beinahe immer menschenleer und düster. Was mag Erich Wolfgang Korngold an diesem Stoff fasziniert haben? Korngold wird am 29. Mai 1897, mehr als ein Jahr vor dem überraschend frühen Tod Rodenbachs am Weihnachtstag des Jahres 1898, in Brünn geboren. Schon 1901 übersiedelt die Familie nach Wien. Im Alter von sieben Jahren beginnt der Junge zu komponieren; er erhält Klavier- und Musikunterricht, ab 1907 bei Alexander von Zemlinsky. Nach der Aufführung seiner ersten Komposition, des Balletts Der Schneemann, an der Wiener Hofoper avanciert der junge Korngold rasch zum umjubelten Wunderkind; am 3. Januar 1910 schreibt der damals 45-jährige Richard Strauss an den Vater Julius Korngold, einen Musikkritiker, „das erste Gefühl, das Einen überkommt, wenn man hört, dass dies ein 11jähriger Junge geschrieben hat, ist Schrecken u. Furcht, dass ein so frühreifes Genie auch die normale Entwicklung nehmen möge, die ihm so innig zu wünschen wäre … diese Sicherheit im Styl, diese Harmonik, es ist wirklich staunenswert.“

Der junge Korngold, der mit sieben Jahren anfing zu komponieren, galt als Wunderkind. Auf der Fotografie von 1910 ist er 13 Jahre alt.

Den Ersten Weltkrieg überlebt Korngold – untauglich für den Fronteinsatz – im Dienst der Militärmusik. Im Frühjahr 1917 begegnet er bei einem Abendessen, zu dem Otto Seligmann eingeladen hatte, der Frau seines Lebens: Luzi von Sonnenthal. Bald entspinnt sich ein lebhafter Briefwechsel, mit zahlreichen Kosenamen, anfangs auch im Wechsel zwischen „Du“ und „Sie“, denn Luzis Mutter hatte die vertraute Anrede verboten. Also schreiben sie einander sogar in einer geheimen Notenschrift. Wie sich aus späteren Briefen erschließen lässt, waren auch die Eltern des Komponisten seiner Geliebten nicht freundlich gesinnt; noch mehr als 20 Jahre später beklagt sich Korngold – kurz vor Weihnachten, in einem Brief an seine Eltern – über ungezählte „fuerchterliche Szenen, Verdaechtigungen, Beschimpfungen“; und er fährt fort: „War sie schon vom ersten Jahr ab hintereinander ‚keine Dame’, ‚keine Frau’, ‚keine Hausfrau’, ‚keine Mutter’ genannt worden, so avancierte sie spaeter […] zur Ehebrecherin, […] zur mich nicht nur kuenstlerisch sondern jetzt auch noch materiell ruinierenden ‚Vergnuegungssuechtigen’.“ Offenbar sahen die Eltern in der jungen Frau – einer begabten Pianistin, Sängerin und Schauspielerin – eine höchst unerwünschte Konkurrentin um die Zuneigung des Wunderkinds.

Sie war die Frau seines Lebens: Erich Wolfgang Korngold mit Luzi von Sonnenthal in Altaussee im steirischen Salzkammergut in Österreich.

Korngold hat an seiner Frau, die er 1924 heiratete, ein Leben lang festgehalten. Doch lassen die Widerstände gegen seine Liebesbeziehung erste Umrisse einer Antwort auf die Frage erahnen, was Korngold am Stoff der Erzählung Rodenbachs angezogen haben mag. Denn just in den ersten Jahren der jungen Liebe arbeitet er – zusammen mit dem Vater, wenngleich der unter dem Pseudonym Paul Schott in Erscheinung trat – am Libretto seiner erfolgreichsten Oper, die am 4. Dezember 1920 unter dem Titel Die tote Stadt zeitgleich in den Stadttheatern von Hamburg und Köln uraufgeführt wurde; in Hamburg dirigierte Egon Pollack, in Köln Otto Klemperer. In Korngolds Oper, auch sie spielt in Brügge, heißt Hugues Paul, seine tote Frau – in Rodenbachs Erzählung wird ihr Name nicht genannt – Marie, und die Tänzerin Jane heißt Marietta; die visuelle Ähnlichkeit der beiden Frauen wird also auch durch den Namen betont. Die Oper forciert das Motiv der Konkurrenz zwischen den konträren Frauenbildern; in der zweiten Szene des dritten Akts singt Marietta: „Und wieder die Tote – O, wie du mich erniedrigst! Sie schläft doch und fühlt ja nicht Untreu, nicht Liebe. Ich aber lebe, fühl die Kränkung.“ Bemerkenswert ist, dass Korngold dem Stück eine Art von „Wiener Schluss“ gegeben hat, ein Happy End im Sinne Josephs II., der den Wiener Theatern einen glücklichen Ausgang selbst für Shakespeares Romeo und Julia oder Hamlet verordnete. In der letzten Szene erwacht Paul und erkennt, dass er die Ermordung Mariettas bloß geträumt hat. Er trennt sich danach aber nicht nur von Marietta, sondern auch von der Toten, vom Museum seiner Trauer und zuletzt von Brügge, dieser „Stadt des Todes“. Denn die „Toten schicken solche Träume, wenn wir zuviel mit und in ihnen leben.“ Er fragt: „Wie weit soll unsre Trauer gehen, wie weit darf sie es, ohn’ uns zu entwurzeln? Schmerzlicher Zwiespalt des Gefühls!“ und schließt resigniert: „Hier gibt es kein Auferstehn“, wie es noch das Grabmal für Georges Rodenbach auf dem Pariser Cimetière du Père-Lachaise, gestaltet von Charlotte Besnard, zu versprechen scheint. Denn da erhebt sich der Schriftsteller mit einer Rose in der Hand aus dem Grab.

Am 4. Dezember 1920 wurde Korngolds Die tote Stadt zeitgleich in Hamburg und Köln uraufgeführt. Der Opernsänger Karl Aagaard Oestvig sang die Partie 1921.

Das Grabmal für Georges Rodenbach auf dem Pariser Cimetière du Père-Lachaise. Der Schriftsteller erhebt sich mit einer Rose in der Hand aus dem Stein.

Auch Korngold musste Wien schließlich verlassen. Antisemitische Anfeindungen hatte er bereits 1922 erlebt, als die Münchner Premiere seiner Oper von randalierenden Nazis gestört wurde; für die Unterstützung durch den Dirigenten Hans Knappertsbusch bedankte er sich in einem Brief, in dem es heißt: „Ihr Handschlag und Ihre spontane Umarmung vor dem Vorhang hat viele Kränkungen, die ich Jahre hindurch als Künstler auf meinem (Haken)=Kreuzwege zu erdulden hatte (und weiter erdulden muss) gut gemacht.“ 1934, im Jahr des österreichischen Bürgerkriegs und der Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuß, folgte Korngold einer Einladung Max Reinhardts nach Hollywood, wo er nun Filmmusiken, insgesamt zu mehr als 20 Filmen, komponierte. Seine Arbeit wurde mit mehreren Oscar-Nominierungen und zwei Oscars (1937 für Anthony Adverse von Mervyn LeRoy, 1939 für The Adventures of Robin Hood von Michael Curtiz und William Keighley) ausgezeichnet. Jahrelang pendelte Korngold zwischen Hollywood und Wien; o«enbar fiel es ihm schwer, Wien ganz aufzugeben. Während des sogenannten „Anschlusses Österreichs“ an die NS-Diktatur im März 1938 war er gerade in Los Angeles; mit Hilfe seiner Kontakte zu Warner Brothers gelang es ihm, seiner Familie zur Emigration in die USA zu verhelfen. Wien avancierte nun zu seiner „toten Stadt“, in die er nach Kriegsende nur mehr selten zurückkehrte.

Korngold musste Wien wegen antisemitischer Anfeindungen verlassen; 1934 ging er nach Hollywood. Der Zusatz „land“ des berühmten Schriftzugs wurde in den 1940er Jahren entfernt.

Nach 1946 vernachlässigte Korngold zunehmend die Komposition für den Film; in gewisser Hinsicht hat aber gerade Die tote Stadt einen Einfluss auch auf die Filmgeschichte ausgeübt. Das berühmteste Beispiel ist Alfred Hitchcocks Vertigo; dieser Film, den die Zeitschrift Sight & Sound des British Film Institute seit 2012 an erster Stelle ihrer alle zehn Jahre erneuerten Liste der „Greatest Films of All Time“ nennt, wurde am 9. Mai 1958 in San Francisco uraufgeführt, rund fünf Monate nach dem Tod Korngolds am 29. November 1957. Der Plot des Films ist bekannt: Eine schauspielerisch begabte junge Frau namens Judy (gespielt von Kim Novak) wird engagiert, um die Rolle einer Ehefrau namens Madeleine zu verkörpern, die dem Bann ihrer toten Urgroßmutter Carlotta Valdes, die sich vor vielen Jahren umgebracht hat, zu erliegen scheint. Sie begeht zuletzt ebenfalls Suizid. Erfolgreich vertuscht wird in diesem Spiel die Ermordung der tatsächlichen, im Film gar nicht auftretenden Ehefrau. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des pensionierten Polizeibeamten Scottie Ferguson (James Stewart), der unter Höhenangst leidet, weshalb er den inszenierten Scheinsuizid Madeleines – den Sprung vom Kirchturm einer kleinen Missionsstation – nicht verhindern kann. Der Mordplan sah allerdings nicht vor, dass sich der ehemalige Polizist und die Schauspielerin ineinander verlieben; ungeplant war auch, dass sie einander nach dem Verbrechen wieder begegnen.

Auf Korngolds Spuren: James Stewart als Detektiv Scottie Ferguson rettet Kim Novak alias Madeleine Elster in Hitchcocks Meisterwerk Vertigo, 1958.

Diese Wiederbegegnung zwischen Judy und dem ehemaligen Polizisten prägt die Dynamik und den Suspense der zweiten Filmhälfte, die geradezu wie ein Spiegelbild der ersten Hälfte inszeniert ist. Früher als der männliche Held weiß das Publikum, dass Judy identisch ist mit der scheinbar vom Kirchturm gesprungenen Madeleine aus dem ersten Teil – und verfolgt mit zunehmender Spannung die allmähliche Rückverwandlung Judys in die verlorene Geliebte Madeleine. Die mit manischer Energie forcierte Transformation erreicht ihren Höhepunkt, als die Schauspielerin – endlich im richtigen Kostüm und mit der erwünschten Frisur – den Raum betritt, umspielt von grünem Neonlicht, das ihre „Auferstehung“, ihre Wiederkehr aus dem Totenreich ankündigt. Als moderner Pygmalion triumphiert der Protagonist in diesem Moment, doch versagt er als Orpheus, denn er durchschaut das Mordkomplott; der Film endet bekanntlich mit einem zweiten tödlichen Sturz vom Kirchturm. San Francisco erscheint als neue „tote Stadt“; emblematisch inszeniert wird etwa die Golden Gate Bridge, Anziehungsort für zahllose Suizide. Und abermals stirbt die Schauspielerin, die Femme fatale, die der idealisierten Toten nur ähnlich sieht.

Thomas Macho leitet seit 2016 das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien. 1976 wurde er mit einer Dissertation zur Musikphilosophie promoviert; 1984 habilitierte er sich mit einer Schrift über Todesmetaphern. 2019 erhielt er den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

DIE TOTE STADT – Die Grenze zwischen Traum und Realität löst sich zunehmend auf, als der um seine verstorbene Frau Marie trauernde Paul auf die Tänzerin Marietta triªt. Aufgrund ihrer äußerlichen Ähnlichkeit zu Marie wird Marietta zur Projektionsfläche für die erotischen Wünsche Pauls, dessen Trauer kultische Züge trägt: Die sorgsam aufbewahrte Haarsträhne der Verstorbenen wird wie eine Reliquie verwahrt. Nach einer nervenaufreibenden „Vision“ mit kathartischer Wirkung wird Paul schließlich in der Wirklichkeit geerdet. Er kann die Stadt Brügge als den Ort für seinen Totenkult verlassen. Der ursprüngliche Werktitel „Triumph des Lebens“ ist für die persönliche Entwicklung des Protagonisten bezeichnend. Wenige Wochen vor der Urauªührung von Die tote Stadt im Jahr 1920 und dem darauf folgenden immensen Erfolg des Komponisten bezeichnete kein Geringerer als Giacomo Puccini den damals 23-jährigen Erich Wolfgang Korngold als „die stärkste Hoªnung der neuen deutschen Musik“. Arien wie „Glück, das mir verblieb“ und „Mein Sehnen, mein Wähnen“ gehören wegen ihrer melodischen Eindringlichkeit zum Konzertrepertoire zahlreicher Opernsänger und strahlen weit über die Bekanntheit der Toten Stadt hinaus.

DIE TOTE STADT Oper in drei Bildern von Erich Wolfgang Korngold

Premiere am Montag, 18. November 2019 Nationaltheater

2. AKADEMIEKONZERT 2. und 3. Dezember 2019, Nationaltheater Musikalische Leitung Thomas Søndergård, Violine Vilde Frang

Thomas Adès Three Dances aus „Powder Her Face“ Erich Wolfgang Korngold Violinkonzert D-Dur op. 35 Jean Sibelius Symphonie Nr. 1 e-Moll op. 39

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