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Die Grenzgängerin

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Der Schneekönig

Der Schneekönig

Der künstlerische Prozess birgt eine Fülle von Möglichkeiten – und viel Risiko. Hier erzählt die The-Snow-Queen-Sopranistin Barbara Hannigan von körperlicher Erschöpfung auf der Bühne, dem Genuss von Verletzlichkeiten und dem Niemandsland der eigenen Stimme.

Von zu vielen schönen Ideen

Die Redewendung „Kill your Darlings“ ist mir sehr vertraut. Der künstlerische Prozess beginnt mit einer Fülle von Möglichkeiten. Aus ihnen destilliert man den wahren Kern. Während dieses Vorgangs muss man sich bedauerlicherweise von vielen lieb gewonnenen Dingen trennen. Wenn man als Künstler reift, sich weiterentwickelt, erkennt man immer deutlicher, dass weniger mehr ist. Denn durch zu viele schöne Ideen verliert ein Projekt an Stärke. Das ist, wie wenn man einen Rosenstrauch schneidet: Man muss die Zweige stutzen, damit die Pflanze noch schöner wachsen und blühen kann. So ging es mir an einer Stelle in Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Die Soldaten: Dort gab es eine Tänzerin, die mein Double spielte. Ich wollte diese Szene aber selbst gestalten, weil sie so herausfordernd war. In den Proben haben wir es einmal versucht, doch das war körperlich so erschöpfend, dass ich beim Singen hätte Abstriche machen müssen. Also habe ich Andreas zugestimmt und die Tänzerin diese extrem gewalttätige, physisch virtuose Szene spielen lassen – und ich sang meine Passage. Dabei ist ein unglaublicher Moment entstanden: Wir zwei Frauen landeten am Ende in einer herzzerreißenden, taumelnden Umarmung. Dieser außergewöhnliche Augenblick wäre nicht möglich gewesen, wenn ich nicht von meinem ursprünglichen Wunsch abgelassen hätte, alles selbst zu machen.

Der Lackmustest für gute Musik

Wenn man sich die Komponisten ansieht, mit denen ich arbeite, wird klar, dass die Bandbreite schon allein bei der zeitgenössischen Musik so groß ist, dass man sie nicht auf einen Stil festlegen kann. Ich bin nicht ausschließlich an moderner oder serieller Musik interessiert, an Komplexität, Minimalismus oder irgendeiner besonderen Richtung. Was mich reizt, ist die individuelle Stimme, die Originalität. Meist genügt ein Blick in die Noten, und ich weiß, ob jemand aufrichtig mit seiner eigenen Stimme spricht. Das ist eine Kombination aus Emotion und Intellekt – das Gleichgewicht dieser beiden ist bei jedem anders, es wird ständig neu ausbalanciert. Die Musik von Komponisten wie György Ligeti, Bernd Alois Zimmermann, Pierre Boulez, Salvatore Sciarrino, Gerald Barry, John Zorn ist völlig verschieden. Sie klingt anders als jede andere Musik, aber vor allem spricht sie direkt zu meinem Herzen. Das ist für mich der Lackmustest: Spüre ich diese Musik wirklich in meinem Innersten? Erst wenn ich eine körperliche Reaktion habe, weiß ich Bescheid.

Der Reiz des Risikos unbekannter Klangwelten

Bevor ich anfing, mit Hans Abrahamsen zu arbeiten, hatte er noch nie etwas Größeres für die Stimme geschrieben. Aber es ist immer ein Risiko, auch bei versierten Vokalkomponisten. Es ist nicht so sehr eine Frage von Erfahrung, es kommt auf die Klangwelt an. Was Hans betrifft, hat bei mir ein bestimmtes Stück den Ausschlag gegeben: Schnee. Jeder wollte es auf sein Programm setzen. Schnee hat viel mit Hans zu tun, und die „Schneehaftigkeit“ in seiner Musik sagt einiges über ihn aus. Sie findet sich auch in The Snow Queen und bei Ophelia. Wir kommen beide aus nordischen Ländern und haben ähnliche Erinnerungen daran, wie wir als Kinder den Schnee beim Fallen beobachtet und Schneeflocken untersucht haben. Da geht es um eine Art, wie die Zeit verstreicht, um ein Gefühl von Konzentration, das man nie vergisst, wenn man einfach nur daliegt und den weißen Kristallen zusieht. Mit Schnee hat Hans diese Stimmung in seiner Musik eingefangen – und ich wollte Teil dieser Klangwelt werden. Weil ich meine Stimme ganz unterschiedlich einsetzen kann, war mir klar, dass ich mich an seine Vorstellungen anpassen können würde. Es war eine Kombination aus Neugier, Respekt und tiefer Verbundenheit. Und natürlich der Reiz des Risikos – man weiß nie, aber man hat so ein Gefühl …

Neue Gesangstechniken finden

Nachdem Hans und ich beschlossen hatten zusammenzuarbeiten, trafen wir uns in einem Berliner Studio, und ich zeigte ihm, wie meine Stimme funktioniert. Das Treffen wurde zu einem vierstündigen Gesangsunterricht. Ich zeigte ihm, in welchen Lagen sich meine Stimme gern bewegt, wo sie ruhig bleibt, wo sie aufblüht und wo ich mich verletzlich fühle. Wir beschäftigten uns mit Gesangstechniken der Alten Musik, vom Barock bis zur Klassik, haben uns Mahlers vierte Symphonie angeschaut, ein schlichtes Stück, das solch einen starken Eindruck erzeugt, das Schönberg-Quartett mit Sopransolo, das so viele Regeln bricht. Hans hörte sehr intensiv und aufmerksam zu. Er bewies einen einzigartigen Fokus. Nach rund sechs Monaten schickte er mir die fertige Partitur von Let me tell you, in ein Londoner Hotelzimmer. Ich weiß noch genau, wie das Licht und wie warm es war – als ich in diesem Moment die Noten vor mir hatte, dachte ich: Ich sehe meine eigene DNA. Hans hat mich in einer Weise erkannt, in der ich mich vorher noch nie gesehen hatte. Er hat ein Bild von mir gemalt, in dem ich mich wiederfand, obwohl es anders war als alles, was ich bisher von mir gesehen hatte. Let me tell you klingt sehr lyrisch, aber um dahin zu kommen, muss man extrem genau arbeiten. Ich wollte verbergen, wie viel ich üben musste, um die Rhythmen richtig hinzukriegen. Hans wurde wie ein Lehrer für mich, der mich neue Gesangstechniken finden ließ. Die kristalline, reine Schönheit und Zartheit im hohen Register, besonders am Schluss des Stückes, war eine Herausforderung. Aber nachdem er mir diese Möglichkeit gegeben hatte, konnte ich das auch in anderen Werken einsetzen – ein Geschenk.

Gefahrenzone Bühne

Eine meiner vokalen Stärken liegt in den Sprüngen. Ich kann mich musikalisch schnell bewegen, verfüge über Koloratur, eine gewisse stimmliche Akrobatik. Ich habe ein recht starkes tiefes Register. George Benjamin mochte diesen mittleren Bereich, die Feinheit des Klangs, das setzte er in Written on Skin ein. Ich genieße aber auch meine Verletzlichkeiten: Wie wohl bei fast jedem Sopran gibt es einen Bereich in meiner Stimme, bevor es richtig hoch wird, das ist eine Art Niemandsland. Darauf konzentrierte sich Hans in The Snow Queen, gleich am Anfang der Oper. Ich war erschrocken, als ich gesehen habe, dass er ausgerechnet mit dem empfindlichsten Stimmbereich beginnen wollte. Warum nicht mit meiner Stärke, mit einem gewissen Selbstbewusstsein starten? Aber es ging ihm um den Charakter. Gerda hat sich noch nicht gefunden. Die Musik muss sich entfalten, auf Gerdas Suche danach, wer sie eigentlich ist. Das ist aufregend. Man muss sich dieser Zerbrechlichkeit hingeben. Das sind die Herausforderungen, die ich so liebe: Wenn ein Komponist mir etwas zu entdecken gibt. Angst spielt dabei keine Rolle. Wenn ich ängstlich wäre, würde sich alles verschließen. Aber die Art, wie ich singe, erfordert, dass ich offen bin, durchscheinend. Nicht durchsichtig, nicht opak – etwas dazwischen. Hohe Töne schaffen einen bestimmten Ausdruck. Bei der Königin der Nacht beispielsweise Zorn, Ekstase, Hysterie – immer extreme Emotionen, niemals Frieden. In Let me tell you hat Hans jedoch am Ende hohe Noten benutzt, um Ruhe ausdrücken. Das ist spektakulär. Diese hohen Noten haben eine Zartheit, durch die sich eine neue Ebene öffnet. Das ist sehr poetisch. Ich empfinde sie nie als scharf oder kantig, wie Kristalle oder Diamanten – die sind natürlich hart, aber meistens strebe ich nach weichen Kanten. Ich hatte viel Zeit, meine Grenzen auszuloten. Als Sängerin lebe ich mit meinem Instrument, mit meinem Körper, meinen Gefühlen. Und das Instrument ist jeden Tag anders. Ich spüre, wenn ich in eine Gefahrenzone komme, wo ich auf der Hut sein muss. Manchmal treibe ich es bis zum Äußersten; wenn ich nach der Probe nach Hause gehe, restlos erschöpft, emotional, physisch, vokal. Aber so arbeite ich – immer bis zur Grenze gehen, und dann langsam den Weg zurück in die Sicherheit finden.

Wie man das Scheitern zulässt

Menschen, die andere retten wollen, haben meist selbst etwas an sich, das der Rettung bedarf. Wie bei Kay und Gerda in The Snow Queen. Nur warum? Er hat sie verlassen – wozu sucht sie ihn und opfert sich für ihn auf? Was ist Gerdas Schwäche, was ist ihre Verletzlichkeit? Vor zwei Jahren traf ich mich mit Hans Abrahamsen und Andreas Kriegenburg in Hamburg, und Kriegenburg machte uns beide auf sehr berührende Weise mit der Idee vertraut, dass es sich bei dieser Geschichte nicht um ein Kindermärchen handeln muss. Es geht darum, jemanden nicht mehr erreichen zu können. Dabei könnte Kay die ganze Zeit an Gerdas Seite sein – nur ist er ihr auf andere Weise entschwunden, mit seinem Kopf oder seinem Herzen. Wie tief die Verbindung zwischen Kay und Gerda ist, wie groß der Schmerz, wenn diese Verbindung verloren geht, und wie ihr Überleben von dem seinen abhängt – all das verfolgt die Frage von menschlichen Wechselbeziehungen, nach Seelenwanderung. Ich kenne das Gefühl, ich habe einen Zwillingsbruder. Das ist anders als eine normale Geschwisterbeziehung. Es hat etwas von einer Urkraft. Ich habe dabei gelernt, dass wir alle scheitern. Wir müssen das Scheitern aber zulassen. Es gibt nicht den einen richtigen Weg, um einen anderen Menschen zurückzugewinnen. Und es geht zudem nicht nur darum, den anderen zu retten – auch das eigene Ego braucht Erlösung.

BARBARA HANNIGAN – Was diese Frau anpackt, macht sie gründlich. Geboren in Kanada, ist Barbara Hannigan weltweit als Sängerin gefragt, mit Titelpartien in Bergs Lulu und Strawinskys Rossignol, Armida in Rinaldo und Donna Anna in Don Giovanni, mehrere Partien in Ligetis Le Grand Macabre und Agnès in George Benjamins Written on Skin. Mit dieser Partie gab sie 2013 ihr Debüt an der Bayerischen Staatsoper, gefolgt von der gefeierten Produktion der Soldaten 2014, in der sie als Marie brillierte. Konzerte sang sie als Gast bei den Berliner Philharmonikern, dem London Symphony Orchestra, dem New York Philharmonic und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Zudem hat Hannigan eine zweite Karriere als Dirigentin vorbereitet, beginnend mit ihrem Pariser Debüt 2010 mit Strawinskys Renard, die Sensation einer dirigierenden Sängerin bzw. singenden Dirigentin virtuos einsetzend. Seitdem dirigierte sie das WDR Symphonieorchester, die Prager Philharmoniker und die Accademia Nazionale di Santa Cecilia. Ein dritter Schwerpunkt ihres Schaffens ist das, was man früher als Muse bezeichnet hätte, heute könnte man es Kuratorin nennen: als fordernde Förderin zeitgenössischer Komponisten, die ihr auf ihre Anregung hin Werke schreiben. Die Welt der Musik, nicht nur der neuen, klingt anders, seit Barbara Hannigan in ihr wirkt.

Protokolle Sarah-Maria Deckert, Malte Krasting

Illustrationen Jan Robert Dünnweller

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