Die Grenzgängerin
Von zu vielen schönen Ideen
Der künstlerische Prozess birgt eine Fülle von Möglichkeiten – und viel Risiko. Hier erzählt die The-Snow-Queen-Sopranistin Barbara Hannigan von körperlicher Erschöpfung auf der Bühne, dem Genuss von Verletzlichkeiten und dem Niemandsland der eigenen Stimme.
Die Redewendung „Kill your Darlings“ ist mir sehr vertraut. Der künstlerische Prozess beginnt mit einer Fülle von Möglichkeiten. Aus ihnen destilliert man den wahren Kern. Während dieses Vorgangs muss man sich bedauerlicherweise von vielen lieb gewonnenen Dingen trennen. Wenn man als Künstler reift, sich weiterentwickelt, erkennt man immer deutlicher, dass weniger mehr ist. Denn durch zu viele schöne Ideen verliert ein Projekt an Stärke. Das ist, wie wenn man einen Rosenstrauch schneidet: Man muss die Zweige stutzen, damit die Pflanze noch schöner wachsen und blühen kann. So ging es mir an einer Stelle in Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Die Soldaten: Dort gab es eine Tänzerin, die mein Double spielte. Ich wollte diese Szene aber selbst gestalten, weil sie so herausfordernd war. In den Proben haben wir es einmal versucht, doch das war körperlich so erschöpfend, dass ich beim Singen hätte Abstriche machen müssen. Also habe ich Andreas zugestimmt und die Tänzerin diese extrem gewalttätige, physisch virtuose Szene spielen lassen – und ich sang meine Passage. Dabei ist ein unglaublicher Moment entstanden: Wir zwei Frauen landeten am Ende in einer herzzerreißenden, taumelnden Umarmung. Dieser außergewöhnliche Augenblick wäre nicht möglich gewesen, wenn ich nicht von meinem ursprünglichen Wunsch abgelassen hätte, alles selbst zu machen.
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Premiere The Snow Queen
02.10.19 11:27