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KILL YOUR DARLINGS № 1: Festhalten
Das Magazin der Bayerischen Staatsoper
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ZWEI HERZEN. EINE LIEBE. „Dies ist kein Ring, sondern eine der schönsten Liebeserklärungen der Welt. Für Dich sind es feinste Brillanten – für mich sind es Glücksmomente. Für Dich ist es Goldschmiedekunst in ihrer höchsten Form – für mich ist es die schönste Liebeserklärung, die es gibt.“ Der drehbare Wellendorff-Ring ZWEI HERZEN. EINE LIEBE. – der lebendigste Ring.
Die neue Kollektion erhalten Sie in der Wellendorff-Boutique München, Dienerstraße 18 und in Ihrer Wellendorff-Boutique in: BERLIN • DÜSSELDORF • FRANKFURT • MAINZ • STUTTGART LUXEMBOURG • WIEN • HONG KONG • PEKING • TOKYO • SAN FRANCISCO • www.wellendorff.com
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Editorial
Collage Joe Webb, Exciting New Project, 2019
„Wie können Sie es wagen?“, fragt ein 16-jähriges Mädchen mit zitternder Stimme und unter Tränen – und die ganze Welt ist sprachlos. Die Rede, die Greta Thunberg jüngst auf dem UN-Klimagipfel in New York vor den mächtigsten Regierungschefinnen und -chefs auf diesem Globus gehalten hat, wird einmal in den Geschichtsbüchern stehen. Ein Satz neben Sätzen wie „Wir schaffen das“ und „I have a dream“. Weil sie einen Kampf kämpft, Greta gegen Goliath. „Menschen leiden, Menschen sterben, ganze Ökosysteme brechen zusammen. Wir stehen am Anfang eines Massenaussterbens, und alles, worüber Sie reden können, ist Geld und das Märchen vom ewigen Wirtschaftswachstum.“ Und auch wenn Thunberg es nicht explizit in ihre messerscharf geschliffenen Worte fasst, ihre Botschaft ist klar: KILL YOUR DARLINGS! Womit wir beim Thema der diesjährigen Spielzeit der Bayerischen Staatsoper wären. Was würde geschehen, wenn der Mensch von allem lassen würde, was er liebt? Und – das muss man in diesem Fall dazusagen – was ihm gleichzeitig schadet? Von SUVs und Flugreisen, von praktischen Rohstoffen und der bigotten Leben-im-Überfluss-Mentalität. Aber auch: von Arroganz, intriganten Spielchen, Machtfantasien, Wunschträumen, von den schönsten aller Süchten und toxischer Liebe. Die Oper hätte keine Geschichten mehr zu erzählen – das würde geschehen. Der Mensch ist fehlbar. Das unterscheidet ihn von der Künstlichen Intelligenz, die versucht, das Leben in binäre Codes zu pressen. Vielleicht wäre die Welt hinnehmbarer, wenn endlich Ratio über Emotio siegen würde. Aber was bliebe von uns? Schließlich entspinnt sich der Zauber des Menschseins gerade im fragilen Dazwischen. Der Phrase „Kill your Darlings“ liegt eben jener Zwiespalt zugrunde, und um diesen soll es in Max Joseph gehen, um das Festhalten, das Kämpfen, das Töten, das Loslassen – wobei wir mit dem Festhalten starten: Andreas Kriegenburg, Regisseur von The Snow Queen, fragt sich beispielsweise, warum wir uns an manche Menschen binden, obwohl diese sich längst abgewandt haben. Hans Abrahamsen, der die Oper komponiert hat, hält wiederum mit großer Hingabe an Tönen fest. Obsessiv hingegen klammern sich die Amerikaner an ihre Waffen, wie es die verstörende Bildserie von Zed Nelson zeigt. Anlässlich der Ballettpremiere von Coppélia werfen wir außerdem einen Blick auf Frauen, die eine fragwürdig enge Beziehung zu lebensechten Babypuppen pflegen. Und der Schriftsteller Jaroslav Rudiš tritt eine literarische Reise entlang der Moldau an, wo er den Unterschieden im Beharren auf den Vaterlandsbegriff zwischen Deutschen und Tschechen nachspürt. In unserer Eröffnungsreihe haben wir übrigens Künstlerinnen und Künstler der Bayerischen Staatsoper gebeten, zu erzählen, an welchen Darlings sie festhalten. Verstehen Sie das doch als kleinen Anreiz, um sich selbst zu fragen: Wovon komme ich nicht los? Und warum? Mit diesem Gedankenspiel begrüßen wir Sie in der neuen Saison. Wie schön, dass Sie da sind!
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Nikolaus Bachler Intendant der Bayerischen Staatsoper
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Inhalt S. 2
Das Magazin der Bayerischen Staatsoper
S. 8
S. 11
Spielzeit 2019 / 20
Editorial Von Nikolaus Bachler Contributors / Impressum KILL YOUR DARLINGS: Folge 1 Künstlerinnen und Künstler der Bayerischen Staatsoper er erzählen, e woran sie festhalten
KILL YOUR DARLINGS
№ 1: Festhalten
S. 18
S. 26
Der Ausschnitt des Covermotivs stammt von Lindley Warren Mickunas, Fotografin, Journalistin und Kuratorin aus Chicago. Sie ist die Gründerin verschiedener Publikationen wie The Ones We Love oder The Reservoire, einem kollektive Magazinprojekt über die Politik des Bildermachens.
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⁂
Der Widerstan d Eine Geisterbahnfahrt f hrt dur durch das Thema der neuen Spielzeit von Monika Rinck k „Es ist immer spannender, etwas falsch zu machen“ ⁂ Der Regisseur Andreas Kriegenburg inszeniertt die Oper The Snow Queen. Ein Gespräch übers Erwachsenwerden
PREMIEREN
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S. 34
S. 40
Suchtrupps der Herzwacht ⁂ Was hat Hans Christian Andersens Märchen von der Schneekönigin mit Greta Thunberg zu tun? Antworten von Katharina Teutsch
S. 68
Wer tötet da wen? Täter vs. Opfer: Sprachwissenschaftler Oswald Panagl löst den kniffligen Fall der Redewendung „Kill your Darlings“ S. 74
S. 44
Der Schneekönig ⁂ Hans Abrahamsen hat seine erste Oper geschrieben. Im Interview mit Frank Hilberg erklärt er, wie man die richtigen Töne findet S. 80
S. 88
Zu den Bildrechten siehe die jeweiligen Angaben im Innenteil.
S. 90
S. 96
S. 52
S. 56
Tote Städte, tote Frauen ⁂ Thomas Macho klärt den Zusammenhang zwischen Erich Wolfang Korngolds erfolgreichster Oper, dessen Ehe und Alfred Hitchcock Wie neu geboren ⁂ Kind, Kunstwerk oder Künstliche Intelligenz? Eine Reportage über Frauen, die mit lebensechten Babypuppen leben. Von Lisa Frieda Cossham Oh my Darling Die Kosenamen, die man sich im Laufe einer Beziehung gibt, sprechen Bände. Eine Abrechnung von Tanja Rest Hinternational Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš reist durch sein tschechisches Vaterland und fragt sich, was Heimat bedeutet Rolle vorwärts Wie ein weiblicher Bariton und ein männlicher Mezzosopran die Stereotype in der Oper aufbrechen. Von Julian Dörr
Die Grenzgängerin ⁂ Warum das Risiko so reizvoll ist – Sopranistin Barbara Hannigan über sechs ihrer Darlings Fest im Griff Die Bildserie Gun Nation von Fotograf Zed Nelson zeigt, wie sich Amerikaner an ihre Waffen klammern
Agenda S. 102
S. 110 S. 66
Update für die Bühne ⁂ Regiehoffnung oder Störenfried? Simon Stone inszeniert Die tote Stadt
Frisch gestrichen Wir haben Schriftstellerinnen und Schriftsteller gebeten, uns Sätze zu schicken, die aus ihren Büchern getilgt wurden – um sie zu drucken
S. 112
Spielplan KILL YOUR DARLINGS: Rützel rät Die Ratgeberkolumne für geplagte Opernfiguren von Anja Rützel
Vorschau
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Erleben Sie Argon. In einer glanzvollen Inszenierung von Linde. Welches Aussehen hätten Gase, wenn sie sichtbar wären? Und wie würden sie klingen? Wir wollten es wissen und haben typische physikalische Eigenschaften wie Elektronenzahl oder Siedepunkt in Töne und Farben gekleidet. Mehr unter www.fascinating-gases.com. Wir begleiten die Bayerische Staatsoper im Rahmen unseres Kulturengagements als Spielzeitpartner.
Spielzeitpartner 2019/2020
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Ar Argon
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Contributors Monika Rinck S. 18 „Kill your Darlings“ – töte deine Lieblinge. In ihrem Spielzeit-Essay dreht und wendet Monika Rinck diese Aufforderung und lotet die Folgen aus. Die Wortkunst der Berliner Lyrikerin erhebt Anspruch auf Erkenntnis und Einspruch gegen die bloße Funktionalität von Sprache. Rinck wurde u. a. mit dem Kleist-Preis und dem Ernst-Jandl-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien Champagner für die Pferde (S. Fischer, 2019), eine Auswahl von Gedichten, Essays, Partituren und Zeichnungen.
Impressum Max Joseph Magazin der Bayerischen Staatsoper www.staatsoper.de/maxjoseph Max-Joseph-Platz 2, 80539 München T 089 – 21 85 10 20 F 089 – 21 85 10 23 maxjoseph@staatsoper.de, www.staatsoper.de Herausgeber Staatsintendant Nikolaus Bachler (V.i.S.d.P.) Redaktionsleitung Sarah-Maria Deckert
Sigrid Reinichs S. 26 Chef vom Dienst Christoph Koch Beim Betrachten der Aufnahmen der Münchner Fotografin Sigrid Reinichs entsteht das Gefühl, einen sehr privaten Moment mit den Menschen darauf zu teilen. Sie arbeitet vornehmlich in den Bereichen Reportage- und Modefotografie. Für Max Joseph hat sie den Regisseur Andreas Kriegenburg beim Interview in Salzburg porträtiert und eine ausdrucksstarke visuelle Intimität geschaffen. Ihre Bilder werden u. a. im Zeit Magazin, im SZ Magazin und in brand eins veröffentlicht.
Redaktion Lukas Leipfinger, Rainer Karlitschek, Malte Krasting, Benedikt Stampfli, Nikolaus Stenitzer, Sabine Voß Bildredaktion Martina Borsche Schlussredaktion Katja Strube
Zohar Lazar S. 34 Die Illustrationen von Zohar Lazar drehen innere Abgründe gnadenlos auf links. Auch seine Zeichnungen zum Text über Hans Christian Andersens Märchen Die Schneekönigin sind grelle Nahaufnahmen der Figurenseelen. Die Arbeiten des israelisch-amerikanischen Künstlers entstehen meist auf dem Tablet oder mit Tinte und Aquarellfarben auf Papier. Lazar zeichnet u. a. für den New Yorker, Wired und den Spiegel. Er unterrichtet Malerei und Illustration an der School of Visual Arts in New York.
Gestaltung Bureau Borsche Moritz Fuhrmann, Robert Gutmann, Max Heinemann, Leon Wahlefeld, Julian Wallis Autoren Margarete Affenzeller, Lisa Frieda Cossham, Julian Dörr, Frank Hilberg, Thomas Macho, Oswald Panagl, Tanja Rest, Monika Rinck, Jaroslav Rudiš, Anja Rützel, Juliane Schäuble, Katharina Teutsch
Lisa Frieda Cossham S. 80 Puppen waren für Lisa Frieda Cosshams Öko-Eltern tabu. Eine Verwandte schenkte ihr eine auf dem Weg in die Ferien. Vor der Heimfahrt setzte ihr Vater die Puppe in den Aufzug und rief zum Aufbruch. Diese Erziehungsmaßnahme hat sie verarbeitet, auch wenn ihr Buch Plötzlich Rabenmutter? (Blanvalet, 2017) das Gegenteil nahelegt. Für ihre Reportage in dieser Ausgabe beobachtete sie Puppenmütter und deren „Nachwuchs“. Die Journalistin schreibt u. a. für das SZ Magazin, Die Zeit und Myself.
Jaroslav Rudiš S. 90 Beim Wort „Vaterland“ schrillen Alarmglocken, fließen Tränen, und manche erheben sich von ihren Stühlen. Jarolsav Rudiš hat mit Bezug auf Bedřich Smetanas symphonischen Zyklus Má vlast über den Begriff nachgedacht. Der tschechische Autor, Dramatiker und Musiker beschäftigt sich mit Geschichte und Gegenwart Mitteleuropas. 2018 wurde er mit dem „Preis der Literaturhäuser“ ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm der Roman Winterbergs letzte Reise (Luchterhand, 2019).
Dr Julian Gravy S. 110 Als Kind malte Julian Gravy Bilder zu Filmen, die er nicht sehen durfte. Vielleicht liegt hier der Ursprung seiner bunt-finsteren Parallelwelten, in denen sich u. a. empfindungsfähige Abfalleimer und anarchistische Katzen tummeln. Der britische Künstler malt vor allem in Gouache-Technik und modelliert seine Figuren mit den Riesenmündern und Monobrauen auch in Keramik. Für Max Joseph illustriert er in dieser Spielzeit Anja Rützels Ratgeberkolumne Rützel rät am Schluss jeder Ausgabe.
Fotografen & Illustratoren Jan Robert Dünnweller, Robert Fischer, Dr Julian Gravy, Lena Kunz, Efe Kurnaz, Zohar Lazar, Lindley Warren Mickunas, Yvonne Most, Zed Nelson, Gabe Rebra, Sigrid Reinichs, Emily Stein, Pieter Van Eenoge, Patricia Varela, Joe Webb Marketing Eva Bergmann T 089 – 21 85 10 27 F 089 – 21 85 10 27 marketing@staatsoper.de Anzeigenleitung Karla Hirsch T 089 – 21 85 10 39 karla.hirsch@staatsoper.de Lithografie MXM Digital Service, München Druck & Herstellung Gotteswinter und Aumaier GmbH, München Nachdruck nur nach vorheriger Einwilligung. Für die Originalbeiträge und Originalbilder alle Rechte vorbehalten. Urheber, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. Max Joseph wird auf Bio Top Naturpapier gedruckt.
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Anthonis van Dyck, Selbstbildnis, um 1615, Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste, Wien - Design: gluecklich-agentur.de
Unter der gemeinsamen Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Seiner Majestät, dem König der Belgier
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KILL YOUR DARLINGS Der Aufforderung des diesjährigen Spielzeitthemas folgt man demütig oder nur mit Überwindung – manchmal auch gar nicht. Die Künstlerinnen und Künstler der Bayerischen Staatsoper erzählen in dieser Reihe von den Dingen in ihrem Leben. Für die erste Folge hat Max Joseph gefragt: An welchem Darling halten Sie fest?
Protokolle Sabine Voß
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In Liverpool aufzuwachsen war hart. In den 1980er Jahren stieg die Stadt unter Margaret Thatcher zu einer der ärmsten in Europa ab. Politische Instabilität, hohe Arbeitslosigkeit und eine steigende Kriminalitätsrate waren Alltag. Ein „Scouser“, also ein Liverpooler zu sein wie ich, wurde zum Synonym für „Faulenzer und Krimineller“. Wie viele junge Leute setzte ich alles daran, von dort wegzukommen. Mit 18 ging ich nach Cambridge auf die Universität und später nach London. Ich habe mich angestrengt, damit meine Aussprache meinen Dialekt und damit meine Herkunft, den „Scouse“, nicht verrät. Ich dachte, das würde mir Nachteile bringen. Keiner sollte merken, woher ich stammte. Aber Liverpool hat in den vergangenen 30 Jahren eine Art Wiederauferstehung erlebt. Es hat sich zu einer innovativen Stadt mit einer florierenden Wirtschaft entwickelt, zu einer wichtigen Hafenstadt, einer Einwanderungsstadt mit einem unabhängigen Geist. Seit fast zehn Jahren lebe ich nun wieder dort. Die Stadt ist so lebendig und in ständiger Veränderung begriffen. Das passt gut zu mir, weil Veränderung zu meinem Beruf gehört. Mein Zuhause, das ist Liverpool. Eine Stadt, mit der sich meine liebsten Erinnerungen verbinden, wo ich zur Schule gegangen bin, wo meine Familie und meine Freunde leben, wo die blaue Stranddistel wild wächst – so wie ich. Hier gehöre ich hin.
Jennifer Johnston, Mezzosopran
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Als ich 1986 die DDR nach zahlreichen beruflichen Schikanen aus politischen Gründen verlassen musste, wollte ich etwas bei mir haben, das mich an meine Heimat erinnerte, das meine Kindheit und Jugend in einer vollständig zerstörten Stadt symbolisierte und die damalige Situation charakterisierte. Das alles fand ich im Trauernden Mann des Bildhauers Wieland Förster. Mit ihm verband mich eine künstlerische Freundschaft, und nachdem bei der Ausreise mein DDR-Geld nichts mehr wert war, Kunst, die man dafür kaufen konnte, aber schon, überließ er mir dafür diese Plastik von 1983. Sie durfte mit mir „auswandern“ und hatte 20 Jahre lang ihren Platz auf meinem Flügel in Amsterdam. Seit meiner Rückkehr nach Deutschland steht diese Arbeit auf meinem Schreibtisch. Sie hält mir täglich vor Augen, wie zerbrechlich und gefährdet unsere Welt ist. Ihre embryonale Form zeigt uns, wo wir herkommen. Die Figur ist eine Vorarbeit zu dem Großen Trauernden Mann, der auf dem Platz vor dem Albertinum an die Opfer der Zerstörung von Dresden erinnert. Spiegelt sich in der kleinen Figur noch etwas Hoffnung in der Hand, die sich hervorwagt, so ist in der großen Figur selbst dieses Zeichen verschwunden. Für mich hat die Plastik viel mit der Figur des Wozzeck zu tun. Aus der Hilflosigkeit heraus, in die ihn die Gesellschaft gebracht hat, wird er zum Trauernden über sich selbst.
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Hartmut Haenchen, Dirigent
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Zum Einsingen vor jeder Vorstellung und jeder Orchesterprobe brauche ich meinen alten Walkman und eine ganz bestimmte Audiokassette. Darauf sind Aufnahmen von Übungsstunden mit meinem verstorbenen Lehrer aus New York, Oren Brown. Ich singe einfach mit und lasse die Stimme das machen, was sie will, ohne mit dem subjektiven Ohr einzugreifen, deswegen auch die Ohrstöpsel. Ich glaube, das Band ist von 1987. Unzählige Male überspielt und erneuert, damit es nur ja nicht verloren geht. Ich habe längst aufgehört, es in meinem Handgepäck dabeizuhaben. Zu oft wurde ich in der Sicherheitskontrolle gestoppt und musste erklären, was das ist. Viele junge Leute haben so ein Ding ja noch nie gesehen, geschweige ein Kassettenband!
Bo Skovhus, Bariton
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Der Widerstand
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Ă„sthetischer Ratschlag oder Aufruf zum Mord? Was passiert, wenn wir vernichten sollen, was wir lieben? Und was bleibt, wenn wir uns frei machen? Eine Geisterbahnfahrt in das Thema der neuen Spielzeit: KILL YOUR DARLINGS.
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„Kill your Darlings“ – töte deine Lieblinge. Diese Losung bringt naturgemäß Widerstand hervor. Das geschieht zunächst gegen den eigenen Willen, es braucht eine Überwindung, ausgerechnet die Favoriten loszulassen, über die eigenen, gut gehegten Wünsche kühl hinwegzugehen. Oder hat es der gehorsame Amateur sogleich mit einem neuen Willen zu tun, dessen erste Eigenschaft es ist, mit dem alten Willen des Amateurs frohen Muts und vielleicht sogar etwas leichtfertig zu brechen? Es kommen neue Darlings, andere Darlings, bessere. Aber so schnell und sauber scheint das selten zu gehen. Und wie freiwillig ist dies alles überhaupt? Schauen wir uns zunächst die Orte der Verhandlung an. Die Losung sei ja nicht buchstäblich gemeint, sondern adressiere den befangenen Akteur im künstlerischen Prozess. Sie sei ein ästhetischer Ratschlag, kein Aufruf zum Mord. Wobei, metaphorisch ja zweifellos schon, wendet der Amateur vorsichtig ein. Und selbst in der Kunst wäre es doch einleuchtender, zunächst das offenkundig Misslungene dranzugeben. Oder ist dies bereits eine moderierende Rationalisierung, die dem radikalen Gestus des zum Äußersten bereiten Künstlers von Grund auf widerspricht? Es macht den Künstler zum Herrscher, wenn er das Vernichten rationalisiert – und die Künstlerin zur Herrscherin. Weil sie nicht nur wütet, sondern zweckvoll vernichtet, was sie liebt. Ist das nicht eine entsetzliche Ideologie, fragt der zurückgeschreckte Amateur. Wenn sich der Amateur dies außerdem in ruppige Kunstdidaktik gegenüber Studierenden übersetzt vorstellt, wird ihm flau. „Ich spüre aber auch eine leise winselnde Faszination“, räumt er etwas später ein. „Darf ich auch Herrscher sein, wenn ich, wie du, vernichte, was ich liebe?“ Schon steht der Amateur vor einem großen Schreibtisch und sieht sich in eine Art destruktiven Potlatch der Überarbeitungen verbracht, worin statt mittels einer noch großzügigeren Gabe mit der höheren Entschlossenheit zur Vernichtung aufgetrumpft wird. Ich lösche 50 Seiten! – 50 Seiten? Ich trete ganze Partituren in die Tonne und lege die externe Festplatte gleich mit dazu. Ha! Das war übrigens die
Arbeit eines ganzen Lebens. Es kann schon sein, dass man die Zeit nutzt, indem man sie vernichtet. Nicht so wie der Körper des Akrobaten oder der Körper der Sopranistin, in den die ganze Zeit des Übens hineingegangen ist, und die nun, als Fülle der Zeit, kontrolliert und vor Publikum wieder freigesetzt wird. Halten wir fest: Eine ernst zu nehmende Bindung braucht es doch, woraus sich eine Neigung ergibt, das Geliebte nicht loszulassen, und so gegen besseres, anderes, wilderes Wissen an dem schon Erreichten festzuhalten. Ohnedies müsste man darüber ja gar nicht nachdenken. Erst der Widerstand rechtfertigt die Tödlichkeit des Bildes. Um den Widerstand, der von dieser Losung hervorgerufen werden muss, soll es hier gehen. Von wessen Darling ist die Rede? Vom wem erwarte ich, dass er oder sie sich – kühl gesprochen – von den eigenen Favoriten löst? Wessen Obsessionen haben Gültigkeit und welche nicht? Was ist das Private daran, und ab wann kann ich als Lehrerin, als wohlmeinender Freund, als qualitätsbewusstes Über-Ich dem Liebhaber in mir nahelegen, sich zu trennen, von dem, was ihm teuer ist? Also wird der Fachdidakt den Amateur in Kürze auffordern, sich zu professionalisieren und die Liebe durch Arbeit zu ersetzen. Der Amateur schnauft. Ob eine Obsession als würdig oder unwürdig durchgeht, hat übrigens gar nicht mit deren Qualität allein zu tun. Auf der einen Seite steht Darling auf dem Richtplatz, und auf der anderen ist er, gemeinsam mit seinem Meister, endlich aufgestiegen in die Höhen eines unverkennbaren Personalstils und damit qua Erwartung (des Publikums) auf ewig gerechtfertigt. Dies hängt nicht nur mit der Popularität der zu prüfenden Neigung zusammen, sondern auch mit der Position des Besessenen – und das ist hier durchaus hierarchisch gemeint. Wichtig bleibt allerdings das Possessivpronomen. Es heißt schließlich „Kill your Darlings“. Wenn ich mich nun selbst dazu auffordere, setze ich eine gewisse Spaltung voraus. Offenbar kann ich (frei?) über diese
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Ich lösche 50 Seiten! – 50 Seiten? Ich trete ganze Partituren in die Tonne und lege die externe Festplatte gleich mit dazu. Ha! Das war übrigens die Arbeit eines ganzen Lebens. Es kann schon sein, dass man die Zeit nutzt, indem man sie vernichtet. Nicht so wie der Körper des Akrobaten oder der Körper der Sopranistin, in den die ganze Zeit des Übens hineingegangen ist, und die nun, als Fülle der Zeit, kontrolliert und vor Publikum wieder freigesetzt wird.
Darlings verfügen. „Die Possessivpronomen [sind] winzige Befestigungsmauern, mit denen man sich vor der Wirklichkeit oder dem Begehren schützt. In jedem Fall vor etwas, was die schöne Ordnung unserer Welt erschüttert, die Alibis, die man sich zurechtgelegt hat, die Erinnerungen, die man hochhält oder verschweigt, die Ränder der Scham und die der Angst, die sich mit keiner Grenze erfassen lassen“, schreibt die Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle in ihrem Buch Lob des Risikos. Der Amateur möchte die Frage anschließen: Wenn ich der Losung gehorcht habe, sind es dann noch meine Darlings? Kehren sie zurück? Baut Darling sich draußen von allein wieder auf? Als Zombie, nein, als Wiedergänger in der toten Stadt, wo der Amateur es vorzog, in der Vergangenheit eine kleine Kammer zu beziehen. Weil ich sie gemacht habe, weiß ich, wer sie sind?, kam ein schläfriger Gedanke auf, den eben der Traum verneinte, dem er entsprungen war. Er wusste es nicht. Die Spuren, die Phasen der Entstehung und die Erinnerung an das Unfertige wurden getilgt. Hier ist das, was überstand und gekappt wurde, und dort ist das, was alles überstanden hat. Das, was am Anfang
Text Monika Rinck
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half und am Ende nicht mehr passt. Die Zutat, die die Zeit ist, die sich in jeder Sekunde hinzugibt, hergibt und wegnimmt im selben Moment. Die Gleichzeitigkeit, die Festhalten und Hergeben in einem ist. Ich kann sie doch gar nicht anders als vernichten, sagt der Amateur – und meint die Zeit damit. Darling legt ihm von hinten heimlich die Hände auf die Schultern. Der Amateur richtet sich auf. Es ist die Frage nach dem Überfluss und dem Überflüssigen. Wer entscheidet, was Fülle ist und was Ramsch? Dem scharfen Auge erkennbar sind die Schichten, die übrig geblieben sind, die Treue zum Unfertigen, zum Versprechen, bevor es sich erfüllt hat. Es könnte ja, wie in der Moderne üblich, zu einer gewissen Treue gegenüber dem Prozess gekommen sein. „Kommt uns nicht mit Fertigem! Wir brauchen Halbfabrikate! / Weg mit dem Rehbraten – her mit dem Wald und dem Messer!“ , heißt es in einem Gedicht von Volker Braun. Angriffe auf das distinkte Werk: dafür oder dagegen? Please discuss! Dies geschehe in einem inneren Schwankungsmonolog, den die Darlings gespannt vom zweiten Rang aus beobachten, umgeben von friedlich äsenden Rehen.
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Ist es denn wirklich nötig, Darling zu töten? Könnte ich Darling nicht auch systematisch verkommen lassen? Oder ihn einfach aufbrauchen? Er ist doch, was mich leitete, er ist, womit ich begann, sagt der Amateur. Und die Psychoanalyse lehrt, nicht abzulassen vom Begehren, wenn man etwas erfahren oder lernen will – ein Fähnchen, ein Flämmchen, eine Markierung, die pochende Stelle, die ich als erstes fand, das rohe Ding, wovon alles ausging.
Jedoch meldet sich der Wunsch, an dieser einen ganz besonderen Stelle festzuhalten. Es handelt sich um die Schlüsselstelle. Der Amateur steht vor einem Ensemble der Unbetörten, die feixen. Das Begehren ist entlarvt, aber nicht widerlegt. Knickt er ein? Er möchte wissen: Ist es denn wirklich nötig, Darling zu töten? Könnte ich Darling nicht auch systematisch verkommen lassen? Oder ihn einfach aufbrauchen? Er ist doch, was mich leitete, er ist, womit ich begann, sagt der Amateur. Und die Psychoanalyse lehrt, nicht abzulassen vom Begehren, wenn man etwas erfahren oder lernen will – ein Fähnchen, ein Flämmchen, eine Markierung, die pochende Stelle, die ich als erstes fand, das rohe Ding, wovon alles ausging. Bevor ich mich wiederfand im immer enger werdenden Kerker meiner eigenen Vorstellungen. Doch wie sehr kann ich an einem Darling leiden? Bin ich nicht, fragt der wohlmeinende Amateur, verantwortlich gegenüber meinen eigenen Kreaturen, Erfindungen, Verkörperungen und Unverkörperungen? Und was bekomme ich im Tausch? Leere? Freiheit? Indem ich mich frei mache? Fachdidaktik mit dem Degen, nicht mit dem Florett,
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Darling indes hinter spanischen Wänden, aufmerksam und versteckt. Die Liebe sei die Kunst der Abhängigkeit, schreibt Anne Dufourmantelle. Auch sie setze also ein Wagnis voraus. Der Amateur muss dazu die Familie verlassen. Es wird ihm etwas eisig ums Herz. Mit der Losung „Kill your Darlings“ war er, übertragenermaßen oder nicht, in eine Ökonomie der Leidenschaft, des Begehrens eingetreten. Er spürte sehr deutlich eine Kühle, die wohl das Erwachsensein ist. Die Landschaft wirkte wie durchgekochter Spinat, er erkannte diejenigen nicht wieder, die ihm einst am nächsten waren. Rosen blühten fürchterlich. Er war im Begriff, etwas zu lernen, was nicht allein diese Situation betraf, sondern sehr viel andere mehr, und sah mit einem Mal vor seinem inneren Auge Joseph Conrads Figur des Kolonialkaufmanns Almayer taumeln, hart, unnachgiebig wie ein Fels und völlig verwahrlost. Er sah ihn auf den Strand niedersinken, gepeinigt durch die Erinnerung an seine Tochter, die er selbst verstoßen hatte, sah, wie er im Sand herumkroch und mit der Hand sorgfältig sämtliche Abdrücke ihrer Schritte verwischte. „Er häufte den Sand zu kleinen Hü-
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geln und ließ so eine Reihe von Miniaturgräben zurück, die geradewegs hinunter zum Wasser führten. Nachdem er den letzten schwachen Abdruck von Ninas Sandale eingescharrt hatte, erhob er sich (…), um ein weiteres Mal seinen Entschluss, ihr niemals zu vergeben, hinauszubrüllen.“ Dem Amateur dröhnte es in den Ohren. Er wusste nun, dass auch das Festhalten geradewegs oder spiralförmig in die Vernichtung führen kann. Bis 1935 trug Karl Kraus aus großer Verehrung für den Operettenkomponisten Jacques Offenbach in seinem Wiener „Theater der Dichtung“, allein mit einem Pianisten, insgesamt dreizehn bearbeitete Operetten vor. Es waren einerseits Vorlesungen und andererseits Verkörperungen der Offenbachiade in einem. „Noten konnte er nicht lesen, und bei schwierigen Koloraturen musste ersatzweise eine ‚spiralförmig nach oben geführte Handbewegung‘ aushelfen“, so beschreibt es die Literaturwissenschaftlerin Ethel Matala de Mazza in ihrem Buch Der populäre Pakt. Seine Liebe zur Operette vertrieb das Musikalische aus ihr. Es war eine liebestolle Vernichtung, von allen musikalischen Mitteln verlassen, schreibt Walter Benjamin, der im März 1918 einer dieser Vorlesungen beiwohnte.
die Freiheit, sie nun gerade nicht. Oder doch? Schnell ließ er alles los. Es zeigte sich immer deutlicher, dass die Leute mit ihrer Freiheit nicht klarkamen, und noch weniger mit der der anderen. Sie dachten offenbar an Puppen, an Sklaven, an Abhängigkeiten, die nur eine Richtung kannten, im „Raum eines zwangsverwalteten Ichs, das nach seiner eigenen Überwachung giert“. Was ist denn nun der Darling? Was ist das, fragte sich der Amateur beinahe am Ende angekommen, und sauertöpfisch, sexy und leicht larmoyant sang Jeanne Moreau dazu die Zeilen Oscar Wildes, den die englische Gesellschaft gezwungen hatte, sein Darling zu killen – und ihn gleich mit umbrachte. „Yet each man kills the thing he loves, / By each let this be heard, / Some do it with a bitter look, / Some with a flattering word.“
Ich habe ein Monstrum erschaffen!, befürchtete der Amateur. Aber verändert nicht jede Form der Begegnung das Gegebene? Insofern gibt es das Gegebene zwar, aber nicht für lange Zeit. Nur der andere, der frei ist zu gehen, kann uns dabei helfen, ein Mensch zu sein. Und schon wieder kam ihm der alte Gedanke entgegen: Weil ich sie, die Darlings, gemacht habe, weiß ich, wer sie sind? Doch wer weiß, wer sie für die anderen wären? Wenn meine Bindung an sie Aufforderung zur Vernichtung genug ist, was ist denn mit der entfernten Bindung derer, die niemals auf sie stoßen werden? Kann ich das üben?, fragte sich der Amateur, und antwortete sich sogleich selbst: Nein, ich kann nur agieren. Im richtigen Moment.
Der Amateur wünschte sich sein Darling zurück. Er musste doch festhalten an dem, was in ihm lebendig war. Auch wollte er nicht mehr direkt von der Verheißung in die Entsagung rasen und sah die angelehnte Leiter und sich darauf etwas wackelig stehen. Er sah das ganz bestimmte Begehren, das nicht mehr vorkommen sollte, von oben, sah das Reine nicht mehr ästhetisch, sah die Landschaft als Spinat im zersplitternden Spiegel, den Unfall, den Sex, die Wunde – dies alles als Hommage. Etwas, das so einprägsam war, dass es immerzu neue Häutchen generierte, die sich ablösen und die Sicht verstellen, Träume von Insekten! Ungelebtes Leben, das er beatmete in langen Atemzügen, viele Personifikationen, die sich als reine Lehren gaben. „Kill your Darlings“, flüsterten die Wände. Und der Amateur erinnerte sich daran, dass in der Komödie das Objekt nicht aufgegeben und vernichtet werden musste, dass es, gemeinsam mit dem Subjekt, gerettet wird. Aber wer hätte geahnt, dass Falstaff nur eine berechnende Knalltüte war? Ich, sagte der Amateur, ich hab’ es immer geahnt, und die Schneekönigin weinte.
Der Amateur wollte die Freiheit vor ihrer liberalen Verwechslung mit Konsum in Schutz nehmen, doch spürte er im tiefsten Herzen, dass, wenn etwas nicht in Schutz genommen werden darf, es die Freiheit sei – gerade
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„Es ist immer spannender, etwas falsch zu machen“
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Mit 16 zog er von zu Hause aus, mit 20 fing er an zu inszenieren, mit 24 wurde er zum ersten Mal Vater, mit 29 feierte er seinen Durchbruch an der Berliner Volksbühne: Regisseur Andreas Kriegenburg erzählt im Interview, wie man wird, was man ist – ohne dabei verloren zu gehen. MAX JOSEPH: Herr Kriegenburg, Sie bringen Hans Abrahamsens Oper The Snow Queen auf die Bühne. Das Märchen, das dem Stück zugrunde liegt, ist Die Schneekönigin von Hans Christian Andersen, eine Geschichte über zwei Kinder, die um ihre Freundschaft kämpfen. Welches Motiv hat Sie an diesem Stoff gefangen genommen? ANDREAS KRIEGENBURG: Ich wollte das Motiv des Splitters im Auge und im Herzen adaptieren, das Kay von Gerda entfernt. Es ist der Gedanke, dass jemand in der Gesellschaft so weit erkaltet, dass er sich in seine eigene innere Schneelandschaft zurückzieht. Worauf wir uns in der Inszenierung beziehen, ist eine Form des Mutismus, eine Störung, die keine organischen Ursachen hat, sondern sich darin ausdrückt, dass man verstummt, ausgelöst durch Traumata oder soziale Überforderung. Mich interessiert, dass jemand in dieser Überfülle von Kommunikation, auch von beschleunigter Kommunikation in den sozialen Medien an den Punkt kommt, an dem er es nicht mehr schafft, das Spiel mitzuspielen, und aus Reflex jegliche Kommunikation verweigert. Wie bei einer schweren Depression. Man flieht vor dem, was permanent auf einen einströmt. Wir erzählen letztlich die Geschichte einer großen Liebe, für die man sich durch alle Widrigkeiten auf die Reise macht, um wieder zueinander durchzudringen.
Spielt es denn eine Rolle, ob das eine romantische Liebe ist oder eine platonische Freundschaft, wie von Andersen angelegt? AK: Wir erzählen von zwei Liebenden, die sich seit vielen Jahren kennen. Das Romantische liegt in der Unerbittlichkeit: Als Kay nicht mehr funktioniert, stellt Gerda ihn nicht einfach ab und übergibt ihn der Pflege, um ihr Leben weiterzuleben. Stattdessen fühlt sie sich bis zum Ende, durch seine Verweigerung hindurch, an ihn gebunden. Diese Dopplung zum Märchen dient als Projektion der erwachsenen Frau auf die ursprünglichen idealen Liebesgeschichten, mit denen wir alle aufgewachsen sind. MJ:
Kennen Sie das Gefühl der Sprachlosigkeit, der inneren Emigration? AK: Ja. Wobei das für mich auch genussvolle Momente sind, die dann eher meine Partner erleiden, weil sie nicht mehr zu mir durchdringen. Es gibt aber auch Momente, in denen ich einen ähnlichen Druck der Überforderung spüre, wenn ich mich völlig abkapsle und merke, dass das MJ:
Premiere The Snow Queen
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drei, vier Schritte später auch gefährlich werden kann. Es gibt Situationen, durch den Beruf bedingt, in denen ich das Gefühl habe, derart im Anforderungsregen zu stehen, von allen Seiten gefragt zu werden, Entscheidungen treffen zu müssen, dass mein Schutzreflex sagt: Jetzt mache ich die Fensterläden zu, jetzt bin ich verschwunden. Wie kommt man da wieder heraus? AK: Das Fatale ist, dass sich dieser Reflex über die äußeren Umstände hinwegsetzt. Ich muss als Willensentscheidung die Fensterläden wieder aufstoßen. Denn diese Momente in einem abgeschlossenen, dunklen Raum sind sehr verlockend. Man kann sich darin auch verlieren. MJ:
Andersens Märchen erzählt eine klassische Coming-of-Age-Geschichte. Dazu gehört, dass man als Kind an vielem festhält, von dem man sich nach und nach löst, das man aufgeben muss, wie beispielsweise die eigene Naivität, um in der Wirklichkeit zu bleiben. Was tut weh beim Erwachsenwerden? AK: In meiner Erinnerung gab es nur eine kurze Übergangsphase zwischen Kindsein und Erwachsenwerden, mit dem ausgelassenen Toben und all der Ungeschicklichkeit. Ich bin in fast alle Klischees abarbeitenden Verhältnissen aufgewachsen, mit einem guten Geschirr und einem für alle Tage. Wir hatten einen großen Tisch, wo die Eltern an den Stirnseiten saßen, die vier Kinder rechts und links, und wenn die Eltern redeten, hatten wir ruhig zu sein. Das war alles sehr geordnet. All den Geschichten, die sich mit Kindheit und Familie verknüpfen, lagen Rituale zugrunde: am Samstag zu den Großeltern fahren, am Sonntag gemeinsam essen, der Zwang, danach spazieren zu gehen – und wir Brüder langweilten uns zu Tode. Ich weiß, dass ich es nie geschafft habe, die Sonntagskleidung sauber zu behalten. Ich habe versucht, dieser Ordnung zu entsprechen. Aber es ist mir nie gelungen, auch wenn ich kein Rebell war. MJ:
MJ: Warum ist es Ihnen nicht gelungen? Ich bin der dritte von vier Söhnen. Meine großen Brüder sind jeweils ein Jahr älter als ich, wir kamen also sehr knapp aufeinander. Zu meinem kleinen Bruder gab es dann drei Jahre Abstand, in denen ich wohl genossen habe, der Jüngste zu sein. Und diese Position musste ich räumen. Währenddessen hatten sich meine älteren Brüder ihre Stellung erarbeitet. Der erste ist geradezu beschämend AK:
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intelligent. Der zweite war dem Vater am nächsten. Und ich war irgendwie dazwischen, nicht mehr der jüngste, aber auch nicht so taff wie die beiden älteren. Wahrscheinlich habe ich mich in dieser Position des Ungeschickten, des Tollpatsches eingerichtet. Das ist die Begründung, die ich mir selbst und meinem eigenen Scheitern gegenüber gegeben habe. Sich zu messen gehört zum Erwachsenwerden dazu, mit der Hoffnung, dass man den Konkurrenzkampf halbwegs unbeschadet übersteht. Konnten Sie sich von diesem gefühlten Defizit irgendwann emanzipieren? Aus dem Gefühl des Nichtgenügens, des NichtfunkAK: tionierens und der Verlorenheit, die sich damit verknüpft, hat sich emotionaler Stoff angesammelt, mit dem ich jetzt hantieren kann. Ich habe sehr früh mit dem Schreiben angefangen und versucht, über die Kreativität ein Ventil zu finden, um dem Gefühl, zwischen allen Beziehungen zu stehen und nirgendwo wirklich verknüpft zu sein, Form und Ausdruck zu geben. MJ:
Sie sagten vorher, dass der Übergang vom Kind zum Erwachsenen nur kurz war. Woran lag das? AK: Das hatte damit zu tun, dass sich meine Eltern scheiden ließen, als ich ungefähr zwölf war. Meine Mutter versuchte nach 17 Jahren Ehe, das Leben noch einmal in vollen Zügen zu genießen. Sie bekam noch ein Kind, ließ sich aber davon nicht beirren. Und während andere in meinem Alter in die Pubertät kamen, hatte ich das Gefühl, schon so im Windel- und Aufsichtsstress zu stecken, dass es mir zu viel wurde. Mit Anfang 16 bin ich ausgezogen, weil ich keine Lust mehr hatte, Babysitter zu sein. Ich bin regelrecht von zu Hause geflohen, weil ich von diesem Eingebettetsein in Elternschaft überfordert war. MJ:
Das muss ein großer Kontrast gewesen sein, aus einer Großfamilie mit solch festen Strukturen herauszutreten, um allein und selbstständig zu leben. AK: Ja, wobei ich schon immer ein Eigenbrötler war. Ich habe den Entschluss genossen und die Zeit des Alleinseins. Das war damals in der DDR eine wilde Zeit. Bereits nach acht Wochen lebte ich in einer sehr kleinen Wohnung mit drei Mitbewohnern. Da sind schnell andere Strukturen entstanden. Als die dann wiederum wegbrachen, bin ich in eine Phase gerutscht, in der ich nah dran war, in Richtung Alkohol abzubiegen, weil ich mich verloren fühlte. Mit Anfang 18 hatte ich eine Stammkneipe, in der ich vom Wirt mit Vornamen begrüßt wurde. Ich war jeden Abend betrunken, sieben Tage die Woche. Gott sei Dank hatte ich zwei gute Freunde, die irgendwann nachts mit einem Anhänger zu mir fuhren, mich samt meiner Möbel eingeladen und zu sich nahmen, weil sie merkten, dass ich von allein die Kurve nicht mehr kriege. MJ:
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MJ: Woher kam das Gefühl der Einsamkeit? Das kommt ja nicht. Es begleitet einen. Das ist etwas, das man wie die eigenen Haare oder den eigenen Geruch immer bei sich hat. Dieses Gefühl der Fremdheit den anderen gegenüber, des Defizitären ist fatal. Ich habe aber auch gesehen, wie sehr ich meinem Vater in beiden Facetten ähnle, sowohl in dem Wunsch, ein funktionierender Teil der Gesellschaft zu sein, und gleichzeitig zu merken, dass man keine Chance hat – warum auch immer. Komischerweise sehe ich diesen Wesenszug in meinen Söhnen wiederkehren. AK:
MJ: Reiben Sie sich an dieser Diskrepanz auf? Man lernt eher, damit umzugehen. Der Weg zum Theater war deshalb letztlich ein Glücksfall. Ich weiß nicht, wie es mir sonst ergangen wäre. All das ist ein wesentlicher Quell der Authentizität, auf die ich hinarbeite. Und die Bühne dient als Kommunikationsventil. Ob im Schauspiel oder in der Oper: Ich nutze das Ereignis, um einen Teil meiner Welt öffentlich zu machen. Und wenn wir von Kindsein und Erwachsenwerden sprechen, da gab es eine gegenläufige Bewegung bei mir: Ich habe mit gerade mal 20 Jahren meine erste Inszenierung gemacht. In den ersten zehn Jahren als Regisseur war ich immer der Jüngste in der Produktion. Also musste ich vor mir hertragen, wie erwachsen ich bin. In den vergangenen Jahren habe ich dagegen das Gefühl, in das Kindliche zurückzurutschen. Ich werde verspielter, unernster, unbesorgter. Es ist das Gefühl, nicht mehr erwachsen spielen zu müssen. AK:
Was ist das Schöne am Erwachsensein? Es gibt Unsicherheiten im Umgang mit anderen Menschen, mit dem anderen Geschlecht, mit der eigenen Sexualität, die man nicht noch einmal wiederholen möchte. Es ist gut, dass man bestimmte Erfahrungen gemacht hat und merkt: Das habe ich schon gelernt. Wobei die Phase, in der man Fehler macht, unglaublich toll ist. Es ist immer spannender, etwas falsch als etwas richtig zu machen. Der Fehler sagt in dem Moment, ich war zwar falsch, meinetwegen auch unbelehrbar, aber authentisch. Wenn ich mir Videos von frühen Arbeiten von mir anschaue, bin ich erstaunt und auch ein bisschen neidisch, mit welchem Mut ich Sachen falsch gemacht habe. MJ:
AK:
Sind Sie heute weniger mutig? Ja. Das bereue ich manchmal. Es ist zwiespältig mit dem Mut. Bei Aufführungen war ich sehr authentisch, aber es haben eben auch Leute erbost den Saal verlassen, weil da jemand so eigensinnig in seiner Welt geblieben ist. Heute bin ich routinierter, weiß Wirkung genauer zu dosieren und bin insofern auch kommunikativer mit dem Zuschauer. Es wird immer schwerer, aufzupassen, dass einen diese Wirkungsroutine nicht auffrisst. Das starrsinnig Falsche vermisse ich. MJ:
AK:
Interview Sarah-Maria Deckert
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„Aus dem Gefühl des Nichtgenügens, des Nichtfunktionierens und der Verlorenheit, die sich damit verknüpft, hat sich emotionaler Stoff angesammelt, mit dem ich jetzt hantieren kann.“
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„Im Prinzip habe ich die Fehler meiner Eltern wiederholt – wie wir alle. Mein Vater konnte sich seinen Kindern nicht emotional mitteilen. Und auch bei mir gab es diese Lücke, die ich nicht füllen konnte.“
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MJ: Woran zeigt sich das Erwachsensein? Eine ganz klassische Erinnerung ist die Schrittlänge. Da gab es diesen Ehrgeiz, die fast vergnügliche Verzweiflung, dass die eigenen Schritte viel kürzer waren als die des Vaters. Was ich an Erwachsenen beneidet habe, war der Teil der Autorität, der sagen konnte: Hier darfst du nicht rein. Nicht nur, dass man Verbote aussprechen konnte, denen die Kinder folgen mussten, sondern dass es abgeschlossene Bereiche gab, die andere nicht betreten durften. Wie das Schlafzimmer meiner Eltern. Diese Grenzlinie, die durch Autorität gezogen wurde, die man nicht infrage stellen konnte: Das habe ich gehasst – aber insgeheim auch beneidet. Als mein Vater nach der Scheidung auszog, haben sich diese Formen des Reglements aufgelöst. Das haben wir als Kinder genossen. Erst sehr viel später habe ich verstanden, für welchen Teil der Erziehung er im prägenden Sinne verantwortlich war. AK:
Wie ist das heute bei Ihnen? Sie sind selbst sechsfacher Vater. AK: Das klingt spektakulärer, als es ist. Ich habe sechs Kinder von drei verschiedenen Frauen, es war nur eine relativ kurze Zeit, in der wir als Großfamilie zusammengelebt haben. Nach alter DDR-Tradition bin ich früh Vater geworden, mit 24. Die Mutter meines ersten Kindes hatte selbst schon zwei Kinder und war älter als ich. Ungefähr ein Jahr nach der Geburt haben wir uns getrennt, und meine Tochter kam zu mir. In meinem jugendlichen Leichtsinn habe ich gesagt, na gut, dann bin ich halt alleinerziehender Vater. Da war ich zum ersten Mal mit einer mich total überfordernden Ernsthaftigkeit von Leben konfrontiert. Aber ich habe einfach getan, was nötig war. MJ:
Einen alleinerziehenden Vater in der DDR stelle ich mir sehr ungewöhnlich vor. AK: Das stimmt. Damals habe ich die Windeln noch selbst ausgekocht. Aber tatsächlich ist mir das nicht so bewusst gewesen. Mein Tagesablauf war minutengenau geplant, und mit 13, 14, 15 hatte ich ja das Gleiche als Training schon mal mit meiner kleinen Schwester. Deshalb habe ich das nie als Belastung empfunden. MJ:
höflich, weil sie sich offenbar von mir abgeguckt haben, dass Respekt einen in gewisser Weise schützt. Das sollte man pflegen. Als ich zu inszenieren anfing, hatte ich das ganze Füllhorn an Unsicherheiten und Selbstinfragestellungen bei mir; deshalb habe ich eine freundliche Art des Umgangs praktiziert. Es gibt kaum einen anmaßenderen Künstlerberuf als den des Regisseurs, weil man Menschen und deren Lebenszeit beansprucht, um die eigene Kunst zu verwirklichen. Auf gewisse Weise stehe ich daher in ihrer Schuld. Deshalb sollte ich dankbar sein und versuchen, das zurückzugeben. Ihre Zeit an der Berliner Volksbühne haben Sie einmal als „eigentliche Lehrzeit“ und als „Zeit der Abhärtung“ beschrieben. Was hat Sie da geprägt? AK: Die Bühne prägt einen, entlarvt einen aber auch. Allein die Architektur der Volksbühne! Das ist ein sehr großer Raum. Zuschauersaal und Bühne sind fast gleich groß, die Bühne ist eher noch größer. Der Zuschauerraum ist sehr hoch, hat nur einen Rang, und da muss man sehr viel Luft bewegen. Es ist keine bequeme Bühne, keine, die den Zuschauer zur Bühne hinschiebt. Es ist eine Kampfbühne, man muss etwas zu sagen haben, sonst kann man zu Hause bleiben, sonst ist man sterbenslangweilig. Man muss sich den Fokus auf der Bühne durch Statements erkämpfen. Als junger Regisseur ist es gut, dort zu lernen. Hinzu kommt, dass die Hierarchien in diesem Haus zumindest auf administrativer Ebene keinen Bestand hatten. Das war ein utopischer Zustand des kollektiven Produzierens, der gemeinsamen Verantwortlichkeit – offen und gnadenlos. MJ:
MJ: Wie geht man mit dieser Gnadenlosigkeit um? Das war gut. Alle waren auf Augenhöhe. Deshalb habe ich nie infrage gestellt, wenn ein Techniker zu mir sagte: Dieser Song, den du da spielst, das ist grauenvoll, musst du wegmachen, das geht so nicht. Man konnte darauf reagieren. Ich finde es viel anstrengender, wenn heute jemand zu mir sagt: Ich würde mich nie trauen, so was zu dir zu sagen. Weil mir da Partnerschaften verloren gehen. AK:
Gab es einen Moment in Ihrer Karriere, an dem Sie merkten, dass Sie es geschafft hatten? AK: Ein wirklicher Einschnitt war meine Berliner Inszenierung von Woyzeck. Wir hatten eine intensive Probenzeit und sind davon ausgegangen, dass wir einen schönen, der Büchner’schen Vorgabe sehr nahe kommenden Woyzeck machen. Nach der Generalprobe waren wir dann überrascht, wie viel Gegenwind wir erfuhren. Es gab Irritationen und Zwischenrufe, und wir gingen mit gespannter Vorfreude in die Premiere. Ich war sehr jung, 25, und machte eben noch starrsinnig Fehler. Wir hatten am Schluss ein 90-sekündiges Fade-out, es dauerte ewig, bis das Licht ausging, weil ich die Schmerzhaftigkeit bis zum MJ:
Hatten Sie keine Angst, etwas falsch zu machen? AK: Nein. Ich habe erst später verstanden, was ich alles falsch gemacht habe. Im Prinzip habe ich die Fehler meiner Eltern wiederholt – wie wir alle. Mein Vater konnte sich seinen Kindern nicht emotional mitteilen. Und auch bei mir gab es diese Lücke, die ich nicht füllen konnte. Ich habe all meinen Kindern von emotionaler Seite zu wenig Halt gegeben, weil ich das selbst nie gelernt habe. MJ:
Was haben Sie gut gemacht als Vater? AK: Ich habe meinen Kindern eine bestimmte Wertschätzung des Gegenübers vermittelt. Sie sind ausnehmend MJ:
Fotos Sigrid Reinichs
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Letzten ausreizen wollte. Danach brach ein lauter Sturm der Entrüstung los, dem sich Gott sei Dank ein Wind der Begeisterung entgegenstemmte. Binnen Sekunden war das ganze Haus mit 800 Leuten am Brüllen. Bei denen sah man teilweise die Adern hervortreten, so haben die geschrien. Das ebbte ab, als die Schauspieler auf die Bühne kamen, und es stieg wieder an, als ich auf die Bühne trat. Ich stellte mich diesem Orkan entgegen, der sich mit Buhs und Bravos die Waage hielt. Und dann schoben mich die Schauspieler entschieden vor an die Rampe, als ob sie sagen wollten: Das hol dir jetzt ab. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass sie sich hinter mir im Halbkreis aufgestellt hatten und mir applaudierten. Das hat mich sehr geprägt. Weil ich gemerkt habe, ich habe ihren Rückhalt, egal, was mir entgegenschlägt. Wann hatten Sie das Gefühl, angekommen zu sein? AK: Es hat lange gedauert, bis ich akzeptiert habe, dass das nun mein Beruf ist, dass ich das ganz gut kann. Sicher bis ich Mitte oder Ende dreißig war. Das soll jetzt nicht kokett klingen, aber ich hatte nicht mal so sehr das Gefühl zu scheitern, sondern dass mir jemand auf die Schliche kommt. Ich bin Autodidakt, und es gibt keine akademische Rechtfertigung dafür, was ich hier tue. Aber man muss lernen, seinen Frieden damit zu machen. Etwas gut zu können ist allerdings auch ein Handicap, weil man weniger Fehler macht. Weil es immer schwerer wird, die eigenen Grenzen zu durchbrechen. MJ:
Wenn wir übers Erwachsenwerden sprechen, müssen wir auch über Verlust reden. Welcher Moment kommt Ihnen da in den Sinn? AK: Als ich in Frankfurt an der Oder lebte, hatten wenige von uns Telefon. Ich war damals nur über Freunde erreichbar, die eineinhalb Straßen weiter wohnten. Wenn jemand mit mir telefonieren wollte, rief er dort an, dann liefen meine Freunde los und gaben mir Bescheid, dass ich gleich einen Anruf bekommen würde. Dann ging ich rüber, und das Telefon klingelte. Das war zu der Zeit völlig normal. Einmal stand meine Bekannte vor der Tür und sagte mir, dass mein Vater gestorben sei. Daran erinnere ich mich mit absurder Deutlichkeit. Ich war 24, er gerade mal 56. Und es war insofern tragisch, als dass wir dieses sehr gestörte Verhältnis zueinander hatten, wahrscheinlich weil wir uns so ähnlich waren. Wir hatten gerade einen Punkt erreicht, an dem sich unsere Beziehung wieder aufbaute und er sah, dass ich einen Weg ging, der ihm zwar völlig fremd war, aber es war ein Weg. Ich war in diesem Moment voller Mitleid für meine Bekannte, weil sie den Anruf angenommen hatte und mit dieser Botschaft diese anderthalb Straßen gehen musste, um bei mir zu klingeln. All die Traurigkeit über den Verlust meines Vaters kanalisierte sich auf sie. Ich überlegte, was ich MJ:
tun könnte, um ihr das von der Schulter zu nehmen. Ich weiß aber nicht mehr, ob mir das gelang. Ich weiß nur, dass ich die Woge von Emotionen gleichzeitig so treffend und so absurd fand. Das beschreibt für mich den Reflex, wie man geworden ist, was man ist. Bei diesen Reflexen sind meist große Gefühle im Spiel. Große Traurigkeit zum Beispiel, in der Erinnerung, die Sie gerade geschildert haben. Wie ist das mit großem Glück oder großer Liebe? Muss man sich vom Ideal der romantischen Liebe verabschieden, wenn man erwachsen wird? AK: Man kann es auch umdrehen – immer wenn man sich verliebt, kommt dieser romantische Begriff zurück und damit auch die Kindlichkeit. Ich verliebe mich sehr gerne. Das hat auch damit zu tun, dass sich zu verlieben nicht sofort Partnerschaft bedeutet oder miteinander ins Bett zu gehen, sondern das Erlebnis von Nähe, von Distanzverlust. Sich einander verletzlich zu zeigen. MJ:
MJ: Gibt es ein Ideal, zu dem man hinstrebt? Ja. Immer die Zeit, bevor man jemanden in Besitz nehmen will. Irgendwann will jemand festhalten, am Gefühl, am Partner, will das Fließende, sich Bewegende, Taumelnde für immer konservieren. AK:
MJ: Wie bewahrt man sich davor? Es fällt mir schwer, darüber zu reden, weil ich bis vor eineinhalb Jahren in einer Beziehung war, die 20 Jahre gehalten hat. Auch deswegen, weil wir zwei eigenständige Menschen waren, die einander ganz selbstverständlich verbunden waren. Wir haben zwei Leben gelebt, die zusammengehörten. Insofern ist es gerade schwer, über die Liebe als Ewiges zu reden. Dennoch glaube ich, dass ein wesentlicher Zweck von uns darin besteht, einander zu lieben. AK:
Welche Lektion hat Ihnen die Liebe fürs Leben erteilt? AK: Die Schwierigkeit ist, dass man in der Beziehung schnell lernen muss, Dinge, die der Partner in sich trägt, als ein Teil seines Wesens zu ertragen. Schneller, als dass man den Impuls verspürt, ihn ändern zu wollen. Der andere bietet immer die Chance, in der eigenen Persönlichkeit zu reifen, indem man ihn so nimmt, wie er ist. Oder man merkt, wie kleinlich man selbst ist. MJ:
Gibt’s denn ein Happy End? Unbedingt. MJ:
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Das Gespräch führte Sarah-Maria Deckert, Redaktionsleiterin von Max Joseph. Mehr über die Fotografin auf S. 8
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THE SNOW QUEEN
ANDREAS KRIEGENBURG — Andreas Kriegenburg, 1963 in Magdeburg geboren, begann nach einer
Oper in drei Akten von Hans Abrahamsen
Ausbildung zum Modelltischler an den Theatern in Zittau und Frankfurt an der Oder mit der Arbeit als Regisseur. Weitere wesentliche Wirkungsstätten waren die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, das Staatstheater Hannover, das Thalia Theater in Hamburg, das Deutsche Theater in Berlin, die Münchner Kammerspiele und das Bayerische Staatsschauspiel. Seit 2006 arbeitet er auch im Musiktheater. An der Bayerischen Staatsoper inszenierte er bislang Wozzeck, den Ring des Nibelungen und Die Soldaten – letztere in der Opernwelt-Kritikerumfrage als „Produktion des Jahres“ 2013 / 14 ausgezeichnet. Nun folgt, als deutsche Erstaufführung, Hans Abrahamsens Oper The Snow Queen.
Premiere / Erstaufführung der Fassung in englischer Sprache Samstag, 21. Dezember 2019, Nationaltheater Weitere Termine im Spielplan ab S. 102
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Suchtrupps der Herzwacht Die Geschichte der Schneekönigin gehört zu den kryptischsten Erzählungen von Hans Christian Andersen. Was uns das Kunstmärchen heute noch in Zeiten von Klimawandel, der Parallelwelten von Social Media und des rasanten Verfalls der politischen Kultur sagt.
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Wer sich je in den Blätterstrudel einer Rosenblüte vertieft hat, weiß, dass man sich darin verlieren kann. Und wer je Gelegenheit hatte, die vollkommene Ebenmäßigkeit von Eisblumen zu bewundern, weiß, dass man auch diesen verfallen kann. Man denke allein an das rätselhafte letzte Wort des sterbenden Citizen Kane: „Rosebud“ (engl. für „Rosenknospe“). Nun, der Medienmogul aus Orson Welles’ Meisterwerk formuliert sein Einwort-Vermächtnis ausgerechnet beim Anblick einer Schneekugel. Kaum hat er es ausgesprochen, gleitet ihm das Souvenir aus der Hand und zerbirst. Die Kritik hatte sich in der Deutung des Wortes „Rosebud“ bald freudianisch auf Klitoris geeinigt. Aber es könnte einem auch Hans Christian Andersens Schneekönigin in den Sinn kommen. Der Film zeigt am Schluss, wie vermeintlich wertlose Besitztümer aus Kanes Nachlass verbrannt werden, darunter ein Kinderschlitten mit der Aufschrift „Rosebud“. Er stammte aus jener glücklichen Zeit, bevor Kanes Eltern ihn in die Obhut eines reichen Vormunds gaben. Damit wurde dem sozialen Aufsteiger ein seelischer Kälteschaden zugefügt. Vielleicht ist es die weitergesponnene Geschichte des kleinen Kay, der von der mächtigen Schneekönigin ebenfalls aus seinem Kindheitsparadies entführt wird. Und den daraufhin seine Spielgefährtin Gerda sucht. Wobei Gerda so manches Abenteuer zu überstehen hat – tränenreich und mit abschmelzenden Herzpolkappen am Ende. Das Kunstmärchen von der Schneekönigin gehört aufgrund seiner vielen Nebenhandlungen und der verschachtelten Symbolik zu den kryptischsten Erzählungen aus der Feder des unglücklichen Dänen. Orson Welles muss es gekannt haben. So wie auch Thomas Mann ein gründlicher Leser der Schneekönigin gewesen ist. Sie und andere Figuren Hans Christian Andersens bevölkern nicht nur die sieben Kapitel des schneeumtosten Zauberberg – diesen aber besonders ausführlich. Der Literaturwissenschaftler Michael Maar hat in seiner Studie Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg einst viele Parallelen zwischen Hans Castorp und Kay ausfindig gemacht. Die Entscheidende: „Durch Liebe werden Castorp und Kay, die im Schnee erstarren, zu neuem, potentiell ewigem Leben erlöst.“ Die Schneekönigin ist mit dieser Verstrickung in die Literaturgeschichte fester Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses. Kaum verwunderlich, dass es diesen Stoff auch ins Theater verschlagen hat. An die Berliner Volksbühne zum Beispiel, wo Frank Castorf sich zu Andersens 200. Geburtstag an ihn heranwagte. In Meine Schneekönigin mutierte die
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Geschichte zusammen mit anderen AndersenMärchen zu einer Gala des Minderwertigkeitskomplexes: Schauspieler in NacktschneckenKostümen, im Seifenschaum-Schneegestöber, als sexuell gedemütigte Andersen-Darsteller. Denn Andersen fühlte sich zeitlebens verkannt und litt unter einer unterdrückten Homosexualität. Erfolglose Schwärmereien und gescheiterte Bordellbesuche waren die Folge. Diese ganz persönliche Ebene des Märchenautors spielte in Castorfs Inszenierung eine große Rolle. Denn alles, was Andersen privat beschäftigte, codierte dieser auch in seinem Werk. Dabei ist die Rahmenhandlung des Kunstmärchens zunächst sehr einfach. Kay und Gerda sind Nachbarskinder. Kay hat es ins Reich der Schneekönigin gezogen, nachdem ihn Spiegelsplitter des Teufels in Auge und Herz getroffen haben. Alles, was vorher schön war, erscheint ihm nun hässlich und dumm. Der Splitter im Auge macht zwar scharfsichtig, aber auch unsozial. Es ist eine alte Opposition, die Andersen in seinem Märchen aufruft: Herz gegen Verstand, Gefühl gegen Berechnung, Liebe gegen Erotik. Und Kay ist erotisiert von der kristallinen Schönheit der Schneekönigin. Er bewundert nicht mehr die organische Struktur der Rose, sondern das anorganische Muster der Eisblumen. In sieben Kapiteln erzählt Andersen – wie später Thomas Mann – uns nun die Geschichte einer Seelenrettung. Durch die tapfere Gerda in dem Fall, die an Kay festhält, komme, was wolle. Wer könnte dieser abtrünnige Spielgefährte heute sein? In den 1980er Jahren gab es einen Song der Westberliner Band Ideal. Er hieß Blaue Augen. Und darin beschreibt die Frontfrau das coole Grundgefühl jenes Jahrzehnts – seinen faden Materialismus und die illusionslose Künstlichkeit der Popkultur: „Grelle Fummels aus den Fifties, Sixties / Alles hohl und hundsgemein / Auf Škoda oder Fiorucci / Flieg ich nicht mehr rein.“ Nach jeder Strophe singt Annette Humpe deswegen betont lässig: „Da bleib ich kühl – kein Gefühl.“ Letztlich gibt’s für das am frostigen Zeitgeist leidende lyrische Ich nur eine Rettung. Es ist die Liebe allein, die den Kältepanzer der abgeklärten Nachtschwärmer zum Schmelzen bringt: „Deine blauen Augen machen mich so sentimental – so blaue Augen / Wenn du mich so anschaust, wird mir alles andre egal – total egal.“ Schon damals waren die großen Gesellschaftsutopien der einstigen Hippie-Avantgarde schal geworden und durch einen unpolitischen Hedonismus ersetzt worden. Kokain war die Droge der Stunde. Gefühle waren verdächtig. Deswegen wurden
Illustrationen Zohar Lazar
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heiße Szenarien vom Waldsterben bis hin zum Atomkrieg durch die frostigen Gesten der Popkultur heruntergekühlt. Natürlich darf man bei alledem den Punk nicht vergessen. Keine Massenbewegung ohne ihr Gegengift! Heute, fast vierzig Jahre später, hat sich die Stimmung noch einmal zugespitzt und gleichzeitig verändert. Die Erfindung des Internets hat so ziemlich alle kommunikativen und sozialen Konventionen auf den Kopf gestellt und Unsicherheit unter den Zeitgenossen gestiftet. Viele Menschen schwanken bei dem Versuch, ihrer Zukunft ins Auge zu sehen, zwischen hysterischer Anteilnahme und dem Bedürfnis, einfach wegzuschalten. Kay, das könnte ein existenziell verunsicherter junger Mann sein, der vor den Herausforderungen seiner Generation kapituliert, der keine Antworten hat auf den Klimawandel, den rasanten Verfall der politischen Kultur, die Regeln der neuen Arbeitswelt, die Angst vor dem sozialen Abstieg. Vor allem aber auch im immer komplizierter werdenden Bereich privater Glückssuche. Kay, das könnte auch ein junger Mann sein, der sich in den Parallelwelten von Social Media verliert, der sich angesichts schmelzender Gewissheiten von der kühlen Planbarkeit der Identität dort verführen lässt. Weil ihm diese einfacher, beherrschbarer und schöner erscheint. Das Märchen Die Schneekönigin zeigt uns aber nun etwas Tröstliches: dass der märchenhafte Glaube an das gute Ende auch zu einem guten Ende führen kann. Andersen plädiert nicht nur in dieser Geschichte für die Suchtrupps der Herzwacht. Es gibt ihn, den Weg aus der Entfremdung zurück ins Eigentliche. Aber ist das realistisch? Nicht mal im Märchen! Gerda, das wollen wir nicht unterschlagen, ist auch nicht mehr die Alte, als sie Kay endlich im Eispalast findet und mit ihren Tränen auftaut. Sie hat sich mit einem bärtigen Räuberweib und deren sadistischem Töchterchen, sollte man sagen: vergnügt? Zumindest lässt der maliziöse Andersen das in seinem Text durchblicken, wenn er das nächtliche Zusammenliegen der beiden gar nicht mehr sehr kindlich schildert, sondern mit einer gewissen Lust am Messer, mit dem Gerda wahlweise bedroht oder gestreichelt wird. Die kleine Gerda hat außerdem ihr Hab und Gut in den Fluss geworfen. Und sie hat vor allem Lebenszeit verloren. Andersen präsentiert sie uns als unschuldige Seele. Aber da macht er sich nur lustig über allzu naive Leser. Denn niemand kommt ohne Blessuren von einer gefährlichen Reise zurück. Kays Rückholung aus einer entfremdeten Welt macht deswegen nur Sinn als Rückbesinnung. Welche
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Werte brauche ich zum Leben? Was bedeuten mir die anderen? Was ist Heimat, Freundschaft, Liebe? Letztlich aber auch: Wie kann ich die Eiskristalle schätzen, ohne die Rosenblüten zu verleugnen? Diese Frage muss sich auch Gerda stellen. Und es wäre deshalb also auch zu fragen, wer diese Gerda heute sein könnte. Vielleicht ein Mädchen mit ähnlich klingendem Namen? Gerade erlebt die Weltöffentlichkeit den Siegeszug einer unbeirrbaren jungen Frau, die das Weltklima im Alleingang retten will. Zwar mit umgekehrter Symbolik, denn nicht wärmer, sondern kälter soll es ja Greta Thunbergs Vorstellung nach werden. Die Parallele liegt dennoch auf der Hand. Hier und da geht es darum, zum Eigentlichen zu kommen. Gegen die Widerstände uneigentlicher Akteure und unmenschlicher Mechanismen. Und im Windschatten einer ganzen Armada von Schutzengeln. Die Schneekönigin ist zwar eine Parabel übers Festhalten, aber auch übers Weiterkommen. Darin liegt ihr unerschöpfliches Potenzial für jede Zeit, auch für unsere. Die Kulturwissenschaftlerin Katharina Teutsch schreibt u. a. für die FAZ, Die Zeit und das Philosophie Magazin. Darüber hinaus produziert sie Radiofeatures und moderiert seit 2016 regelmäßig das „Studio LCB“ aus dem Literarischen Colloquium Berlin im Deutschlandfunk. Ihre Kulturgeschichte über den Mops ist 2015 bei Matthes & Seitz erschienen. Mehr über den Illustrator auf S. 8
THE SNOW QUEEN – Zwei junge Menschen, Gerda und Kay, sind innig vertraut. Da sticht Kay etwas ins Herz und ins Auge, und schon sind sie einander entfremdet, als lebten sie in zwei verschiedenen Welten. Von der Schneekönigin entführt, verschwindet Kay dann auch leibhaftig aus Gerdas Leben. Sie beginnt eine lange Suche nach dem Freund, bis sie ihn in Schnee und Eis wiederfindet und mit ihren Tränen die teuflischen Splitter aus ihm herausweint. Um viele Erfahrungen reicher sind beide nun bereit, erwachsen zu werden. Hans Christian Andersens Märchen von der Schneekönigin ist Vorlage für Hans Abrahamsens erste Oper, die er von 2014 bis 2018 auf ein eigenes Libretto geschrieben hat. Wenige Wochen nach der Uraufführung in Kopenhagen zeigt die Bayerische Staatsoper die Erstaufführung der englischen Fassung. Regisseur Andreas Kriegenburg inszeniert The Snow Queen als Geschichte von Erwachsenen für ein erwachsenes Publikum, als eine Reise ins Innerste der menschlichen Seele.
THE SNOW QUEEN
Oper in drei Akten von Hans Abrahamsen Premiere / Erstaufführung der Fassung in englischer Sprache Samstag, 21. Dezember 2019, Nationaltheater STAATSOPER.TV
Live-Stream der Vorstellung am Samstag, 28. Dezember 2019 www.staatsoper.tv Weitere Termine im Spielplan ab S. 102
Text Katharina Teutsch
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Alexej von Jawlensky, Spanierin, 1913
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Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Foto: Lenbachhaus
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LENBACHHAUS
LEBENS MENSCHEN 22 OKT 2019 BIS 16 FEB 2020
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Der Schneekönig Der dänische Komponist Hans Abrahamsen hat mit The Snow Queen seine erste Oper geschrieben. Wie man Töne findet und sie zusammenfügt, welche die richtigen sind und wie man sich von falschen wieder trennt, erzählt er im Interview.
In Gesprächen mit Komponisten trifft man solche, die sich hinter ihren Ideologemen verschanzen, und diejenigen, die sich in nebulöse Poetiken flüchten. Es gibt aber auch welche wie Hans Abrahamsen. Der Däne, 66, sitzt in der Sondergarderobe der Bayerischen Staatsoper und denkt vor jeder Antwort nach – manchmal so lange, dass man in der Ferne eine Straßenbahn kommen, vorbeifahren und wieder verschwinden hört. Dabei legt er die Stirn in Falten, wölbt die Brauen und antwortet mit großen wachen Augen. Auch wenn die Frage eigentlich eine Zumutung ist. MAX JOSEPH: Hans Abrahamsen, was ist Musik? HANS ABRAHAMSEN: Musik, das sind Klänge, die das Herz und den Geist berühren. Und natürlich noch viel mehr. Es ist eine Welt für sich, doch darüber hinaus ist sie mit der gesamten Welt verbunden, in der wir leben. Musik spricht, singt und bewegt uns auf eine Art, wie nur Musik es vermag. MJ: Ist es eine Welt, die Sie von Zeit zu Zeit aufsuchen, oder eine, in der Sie leben? HA: Ich lebe in der Musik – ja, in jedem Fall. Früher habe ich versucht, für jedes Stück eine je eigene Welt zu schaffen, aber jetzt ist es eher so, als ob ich in dieser Welt der Musik eine Tür öffne. Es kommt mir immer öfter so vor, dass ich etwas finde. Davon bin ich zunehmend angezogen. Etwas finden, das dann zu befragen und herauszubekommen, was passiert, wenn ich es nach und nach entwickle. Musik ist sehr speziell, denn sie existiert in der Zeit, und als Komponist muss ich die Zeit formen. Da interessiert es mich dann, die Zeit umzugestalten. Und das Größte ist, Zeit vergessen zu machen.
Premiere The Snow Queen
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Das Faszinierende an Ihren Stücken ist, dass alle einen sehr guten Sinn für Struktur zeigen – und zugleich leicht und frei schwebend klingen. Wenn ich mir die Partituren dann näher anschaue, sehe ich Symmetrien und ausgetüftelte Proportionen. Was bedeutet Ihnen Konstruktion? HA: Es ist seltsam – ich kann mich nicht einfach hinsetzen und niederschreiben, was ich in meinem Kopf höre. In meinen jungen Jahren war ich von den Surrealisten inspiriert und etwas später von Karlheinz Stockhausens „intuitiver Musik“. Aber wenn ich so wie diese verfahre, kommt nichts dabei heraus. Bevor ich anfange, habe ich eine sehr klare Idee von der „Leinwand“ des Stückes. Ich entscheide über die Größe des Rahmens und über die kleineren Parzellen. MJ: Sehr oft hören wir Stücke, die offensichtlich stark konstruiert und ohrenfällig klanglich tot sind. Über-Konstruktion kann Musik töten. Wenn ich Ihre Musik richtig auffasse, erkenne ich einen konstruktiven Kern, aber auch einen Punkt, an dem ich den Eindruck habe, dass Sie die Richtung ändern, etwas anderes beginnen. Ist es ein Spiel? HA: Man kann jedes Material verwenden, sollte aber die Distanz haben, es organisieren zu können. Ich bin mit einer Art Einfachheit oder Naivität aufgewachsen. Aber gleichzeitig habe ich meine Musik auch sehr stark konstruiert. Innerhalb des Stückes muss man sich bewusst sein, was passiert, man muss hören, reagieren und vielleicht das System dann ein wenig verändern, um unerwartete Ereignisse einzubinden. MJ:
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„Ich mag Brüche. Wenn ich etwas lieb gewonnen und bereits entschieden habe, es solle eine bestimmte Dauer haben, dann aber merke, dass es zu lang ist, nötigt mich das dazu, eine Lösung zu finden. Einen Weg, damit es auf die Leinwand passt, in meine Zeit.“
Denn oft tauchen plötzlich Dinge auf, die mir wie Geschenke erscheinen. Wer Konstruktionen verwendet, muss auch über die Intuition und Fantasie verfügen, um Entscheidungen zu fällen. Manchmal mag ich auch Brüche. Wenn ich etwas lieb gewonnen und bereits entschieden habe, es solle eine bestimmte Dauer haben, dann aber merke, dass es zu lang ist, nötigt mich das dazu, eine Lösung zu finden. Einen Weg, damit es auf die Leinwand passt, in meine Zeit. Das ist schwierig. Natürlich könnte ich mir sagen: Ich nehme mir eben die Zeit – aber so arbeite ich nicht. Ich liebe es, eine Lösung finden zu müssen. MJ: Und am Ende wird die Leinwand ausgefüllt sein. HA: Ja, natürlich. Kaum ein Stück von Abrahamsen zeigt seine Liebe zur Struktur in so vielen Facetten wie sein Zyklus Schnee – Zehn Kanons für neun Instrumente (2006–2008). Besucher der Bayerischen Staatsoper konnten ihn im Juli dieses Jahres kennenlernen: als Tanztheaterstück unter dem Titel DUO – For many dancers and 9 musicians, bei dem das Ensemble von zwei Tanzflächen symmetrisch eingefasst wurde. Symmetrisch ist das Werk auf allen Ebenen: Die Musiker sind in zwei korrespondierende Gruppen aufgeteilt; die Sätze sind einander paarweise zugeordnet, bilden aber auch übergeordnete Relationen; die einzelnen Stimmen innerhalb der Sätze ebenfalls – immerhin handelt es sich um Kanons, die zudem gelegentlich auch von hinten nach vorn verlaufen. Je tiefer man in den Notentext zoomt, desto mehr Symmetrien und Korrespondenzen fallen auf. Auch ohne den Titel würde man bald an die Strukturen von Schneeflocken denken.
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MJ: Faszinierend an Ihrem Zyklus Schnee sind zwei Aspekte – einerseits der hohe Grad an Konstruktion und andererseits die bemerkenswerte Form des Ausdrucks, oder besser gesagt: seine sehr eigene Atmosphäre. Es stellt sich sofort der Eindruck einer kalten, klaren Winternacht ein. Schneeflocken, die langsam nach unten rieseln. HA: Ja, ich begann mit zwei Kanons. Nach der Uraufführung 2006 hatte ich den Eindruck: Zwei sind nicht genug. Es schien mir, als wenn man in eine Ausstellung geht, und es hängen nur zwei Bilder an der Wand. Es mussten einfach mehr sein. Dann passierte etwas für mich Typisches: Die beiden ersten Kanons sind je neun Minuten lang, und ich hatte die Idee, die folgenden Paare müssten immer kürzer werden. Das ist ganz schlicht: Die nächsten beiden sind dann jeweils sieben Minuten lang, dann fünf, dann drei, und die letzten dann eine Minute lang – die Zeit wird schneller und schneller, wenn man sich dem Ende nähert. MJ: Eine Stretta, also Beschleunigung der Form. HA: Interessant ist aber, dass wir es nicht so hören, weil unser psychologisches Zeitgefühl anders verläuft. Die Kanons 3a und 3b zum Beispiel sind äußerst langsam, wie beim Tai-Chi, gefrorene Zeit, Zeit, die eigentlich nicht vorhanden ist. Dann kommen Kanon 4a und 4b, kondensierte Zeit, sehr schnell, wie ein Schneesturm. Wir sind da schon fast am Ende des Stückes, aber man merkt das nicht, wenn man es hört. Schließlich dann zwei sehr kurze, ganz einfach klingende Kanons, die aber harmonisch höchst kompliziert sind. Diese Musik klingt lächelnd und heiter, weil die Musik erlöst ist, da die Zeit aufgehoben ist.
Interview Frank Hilberg
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Gibt es eine Linie von Schnee zu The Snow Queen? Thematisch oder musikalisch? HA: Unbedingt. Ich habe die ersten zwei Kanons von Schnee im Frühling 2006 geschrieben, die in Witten uraufgeführt wurden. Der Gesamtzyklus wurde dann 2008 erstmals gespielt. Während des vorhergehenden Jahres habe ich viel gelesen, besonders Gedichte, und Bilder angesehen, die mit Schnee zu tun hatten. Es war dann meine Frau, die sagte, ich müsse Snedronnigen (Die Schneekönigin) von Hans Christian Andersen lesen. Das habe ich getan – und war davon so gefangen, dass ich gleich erste Skizzen zu einem Libretto verfasst habe. Ich habe alle Szenen entworfen und auch die gesamte Struktur der Oper entwickelt. Für das Libretto wollte ich so viel wie möglich vom originalen Text des Märchens verwenden, daher habe ich die Dialoge fast unverändert übernommen. So etwas wie der zweite Teil von Kanon 2a aus Schnee ist unmittelbar inspiriert von einer Szene aus dem Märchen, wo die Kinder im Schneetreiben auf dem Dorfplatz spielen. Weiter mit der Arbeit an The Snow Queen ging es dann aber erst, als ich vom Königlichen Opernhaus in Kopenhagen gefragt wurde, ob ich nicht eine Oper für sie schreiben wolle. Das war 2013, kurz bevor ich mit Let me tell you anfing, dem Stück für Barbara Hannigan. Erst als ich dieses Stück fertig hatte, konnte ich die Worte und die Musik in meiner Art kombinieren. Ich wusste aber, dass das Libretto überarbeitet werden musste. Das machte ich dann in Zusammenarbeit mit dem dänischen Dramaturgen Henrik Engelbrecht. MJ: Trauen Sie den Worten mit ihrer eigenen Bedeutung nicht? Lange Zeit hatten Sie es ja vermieden, Vokalmusik zu schreiben. MJ:
HA: Ich fühlte: Da sind so viele Begriffe in meiner eigenen Musik, dass ich keine zusätzlichen Worte brauche, weil es zu viel wäre. Worte haben mich immer inspiriert. Wie auch Bilder. Und andere Dinge, wie die Jahreszeiten. MJ: Dann haben Sie Drei Märchenbilder aus der Schneekönigin geschrieben, drei Szenen aus der Snow Queen für Orchester, rein instrumental, die das Bayerische Staatsorchester im Oktober 2018 uraufgeführt hat. HA: Es ging mir wieder einmal wie einem Maler, ich habe gemalt und gemalt und wusste zwar, da gehören noch ein paar Personen hin, aber ich konnte sie nicht platzieren. Ich hatte zuerst den Hintergrund geschrieben, und erst danach fand ich aus der Musik heraus, dass zum Beispiel Gerda nun singen würde – und dann traten die Figuren sozusagen aus der Musik hervor. Nun, die Musik ist nicht einfach ein Hintergrund, sondern erzählt die Atmosphäre, erzählt, was an dieser Stelle der Oper vor sich geht. Man kann ja auch Wagners „Liebestod“ aus Tristan und Isolde ohne Sängerin aufführen. MJ: Barbara Hannigan scheint einen großen Einfluss auf Ihre Hinwendung zur Vokalmusik gehabt zu haben. HA: Sie hat mir die Welt der Vokalität geöffnet, durch die Art, wie sie singt, und die Verbindung, die sie zwischen der Musik und den Worten herstellt. Bevor ich Let me tell you begann, habe ich Barbara Hannigan in Berlin getroffen, für mehrere Stunden. Dort hat sie mir eine fantastische Lehrstunde in Sachen Gesang erteilt. Sie hat mir erklärt, was Komponisten gewöhnlich denken, wie man für Gesang schreiben solle. Normalerweise denken sie, wenn man zum Beispiel einen hohen Ton will, müsse der mit einem leichten Vokal
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„Normalerweise denken Komponisten, wenn man zum Beispiel einen hohen Ton will, müsse der mit einem leichten Vokal wie ‚i‘ verbunden werden. Aber das ist nicht richtig, man braucht einen dunklen Vokal wie ‚e‘ oder ‚o‘.“
wie „i“ verbunden werden. Aber das ist nicht richtig, man braucht einen dunklen Vokal wie „e“ oder „o“. Und wenn es um tiefe Töne geht, ist es andersherum. Dann hat sie über die Tessitura in den Registern von Stimmen und vieles andere mehr gesprochen. Daraufhin habe ich das Stück geschrieben, habe es ihr während der Arbeit daran aber nicht gezeigt, denn wenn ich komponiere, muss ich in einer Welt ohne äußere Einflüsse sein. Ich bin Barbara sehr dankbar für die Einblicke in die vokale Welt. Erst nach Let me tell you konnte ich die Worte aus der Musik hervorkommen und die Worte in die Musik übergehen lassen. Dann erst habe ich die Oper komponiert. MJ: Warum haben Sie die Rolle der Schneekönigin mit einer tiefen Männerstimme besetzt? HA: Im Sommer 2013 habe ich mit Barbara gesprochen, ihr Let me tell you gezeigt, von meiner Oper erzählt und gesagt: Es wäre wundervoll, wenn du die Gerda singen würdest. Das wollte sie gern tun. In Göteborg sprachen wir über die verschiedenen Charaktere und ihre Stimmfächer. Und dass manche Stimmen verschiedene Rollen übernehmen würden. Außer der Altstimme, die sowohl Großmutter als auch Alte Frau und die Finnenfrau singt, waren es allesamt hohe Stimmen. Dann sprachen wir über die Rolle der Schneekönigin, und uns war sehr wichtig: Sie ist nicht böse. Sie verkörpert die Energie, durch die sich die Kinder Kay und Gerda entwickeln. Barbara sagte: Naheliegend wäre wohl, an einen dramatischen Koloratursopran zu denken, aber sie ist nicht die Königin der Nacht – vielleicht eher ein melodischer Bass? Wie Sarastro, der gegenüber Papageno und Papagena die Weisheit verkörpert. Also wurde die Schneekönigin ein Mann.
Fotos Robert Fischer
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Die Gesprächszeit ist um, vor der Tür warten der Fotograf und die Proben zu Schnee. Doch rasch noch zeigt Hans Abrahamsen auf seinem Handy ein Bild. HA: Dies ist das Gemälde des dänischen Malers Svend Otto S., das meine Tochter Emilie, der The Snow Queen gewidmet ist, als Plakat in ihrem Zimmer hatte, seit wir 2002 in das Haus eingezogen sind, in dem wir leben. Emilie war damals zwei Jahre alt. Das Bild zeigt Gerda mit den zwei Krähen, wie sie durch die Hintertür und die Korridore in das Schloss schleichen. Da sind Schatten an der Wand, und Gerda fürchtet sich. Aber die Krähen sagen: Fürchte dich nicht, das sind nur die Träume von Prinz und Prinzessin und den anderen. Das ist der Beginn der vierten Szene im zweiten Akt – dieses Bild hatte ich permanent vor Augen. Der Abrahamsen’sche Kosmos ist so mannigfaltig, dass noch viel zu entdecken bleibt: die untergründigen Beziehungen zwischen den Figuren des Märchens, die Verknüpfungen zwischen den musikalischen Motiven, die Verbindungen zu seinen anderen Werken, zur Poesie und zur Malerei, zur Welt der Märchen … Wer in diesen Kosmos eintaucht, der wird sich auch zurechtfinden, denn Abrahamsen versichert uns: „Ich erzähle jede Geschichte zweimal.“
Der Kulturwissenschaftler Frank Hilberg betreut beim Westdeutschen Rundfunk u. a. das „Studio Elektronische Musik“. Er publizierte Texte zu John Cage, David Tudor, Helmut Lachenmann, Rolf Riehm, Nicolaus A. Huber und Franz Martin Olbrisch sowie zu Themen wie „Geräusch als musikalisches Material“, „Die Körperlichkeit der Musik“ und „Geschichte der Neuen Musik“.
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„Der erste Schnee, der fällt, ist magisch. Es ist eine Bewegung, die völlig still ist. Wenn die Landschaft ganz und gar weiß ist, dann ist das ein bisschen wie der Tod: als würde sie schlafen, in einer großen Reinheit und Schönheit.“
HANS ABRAHAMSEN – Hans Abrahamsen, Jahrgang 1952, ist eine der originellsten Stimmen der zeitgenössischen Musik. So bescheiden wie beharrlich fügt er Werk an Werk und hat gleichwohl in seinem künstlerischen Leben manche Wendung erlebt, darunter eine schöpferische Pause von fast einem Jahrzehnt, in der er vor allem Stücke älterer Komponisten orchestrierte und bearbeitete. Ihre Namen zeigen an, welchen Musiktraditionen sich der dänische Komponist verpflichtet fühlt: Bach und Ligeti, Nielsen und Schumann, Schönberg und Debussy. Seit den ersten Jahren des neuen Jahrtausends schreibt Abrahamsen wieder eigene Musik, in noch deutlicher hervortretender individueller Klangsprache, inhaltlich aber nahtlos an das frühere Schaffen anknüpfend. Um das einstündige Werk Schnee für Kammerensemble, uraufgeführt 2008, kreist ein inhaltlich und motivisch verbundener Zyklus von Kompositionen, der immer weiter anwächst. Auch sein Klavierkonzert für die linke Hand (Left, alone) und das Monodram Let me tell you gehören dazu – sowie seine erste Oper: The Snow Queen (Die Schneekönigin) nach Hans Christian Andersens gleichnamigem Märchen, die am 13. Oktober als Auftragswerk der Königlichen Oper in Kopenhagen – dort natürlich in dänischer Sprache – uraufgeführt wird. Hans Abrahamsen lebt mit seiner Familie in Kopenhagen.
THE SNOW QUEEN
Oper in drei Akten von Hans Abrahamsen
THEMENKONZERTE – „Der erste Schnee, der fällt, ist magisch. Es ist eine Bewegung, die völlig still ist. Wenn die Landschaft ganz und gar weiß ist, dann ist das ein bisschen wie der Tod: als würde sie schlafen, in einer großen Reinheit und Schönheit. Es gibt auch den Schneesturm, sehr wild und gefährlich. Und wenn es friert, wird alles zu Eis. Der Schnee repräsentiert den Schlaf zwischen Herbst und Frühling, bevor die Dinge neu geschaffen und wiedergeboren werden.“ Das sagt der dänische Komponist Hans Abrahamsen, der im Zentrum der diesjährigen Themenkonzerte steht. Die fünf Abende, die von der Bayerischen Staatsoper und der Max-Planck-Gesellschaft ausgerichtet werden, widmen sich Abrahamsens Oper The Snow Queen: eine Oper über das Erwachsenwerden, über das schmerzhafte Verlieren und mühevolle Wiederfinden zweier Menschen zueinander. In jedem der fünf Themenkonzerte, interpretiert hauptsächlich von Mitgliedern des Bayerischen Staatsorchesters, wird Musik von Hans Abrahamsen zu hören sein, meist kombiniert mit Komponisten, die ihm am Herzen liegen und deren Werke er bearbeitet hat – insbesondere Robert Schumann. Die Vorträge von Experten aus den Max-Planck-Instituten widmen sich verschiedenen Aspekten des Spielzeitthemas KILL YOUR DARLINGS, also der Frage, wovon man sich im Laufe der Zeit trennen muss, um persönlich oder künstlerisch weiterzukommen – seien es alte Überzeugungen, überholte Glaubenssätze, obsolete Verhaltensregeln oder auch private Verstrickungen. Was Jugendliche durchmachen im Prozess des Erwachsenwerdens und welche Logik hinter dieser turbulenten Periode steckt; wie die Nanoforschung unser Verständnis von dem, was die Welt zusammenhält, revolutioniert hat; in welcher Wechselwirkung Erinnern und Vergessen stehen in der Arbeit unseres Gehirns; welche neurobiologischen Ursachen Autismus hat; und wie selbst in Terrorgruppen ein Umdenken angestoßen werden kann und sich Menschen von der Gewalt abwenden können – das sind die Themen, mit denen sich die Forscherinnen und Forscher befassen: mit dem ständigen Wandel, der das Menschsein ausmacht. Wissenschaft und Kunst in korrespondierender und kontrastierender Bereicherung.
Premiere / Erstaufführung der Fassung in englischer Sprache Samstag, 21. Dezember 2019, Nationaltheater STAATSOPER.TV
Live-Stream der Vorstellung am Samstag, 28. Dezember 2019 www.staatsoper.tv
THEMENKONZERTE 2019
Weitere Termine im Spielplan ab S. 102
Termine im Spielplan ab S. 102
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Die Grenzgängerin
Von zu vielen schönen Ideen
Der künstlerische Prozess birgt eine Fülle von Möglichkeiten – und viel Risiko. Hier erzählt die The-Snow-Queen-Sopranistin Barbara Hannigan von körperlicher Erschöpfung auf der Bühne, dem Genuss von Verletzlichkeiten und dem Niemandsland der eigenen Stimme.
Die Redewendung „Kill your Darlings“ ist mir sehr vertraut. Der künstlerische Prozess beginnt mit einer Fülle von Möglichkeiten. Aus ihnen destilliert man den wahren Kern. Während dieses Vorgangs muss man sich bedauerlicherweise von vielen lieb gewonnenen Dingen trennen. Wenn man als Künstler reift, sich weiterentwickelt, erkennt man immer deutlicher, dass weniger mehr ist. Denn durch zu viele schöne Ideen verliert ein Projekt an Stärke. Das ist, wie wenn man einen Rosenstrauch schneidet: Man muss die Zweige stutzen, damit die Pflanze noch schöner wachsen und blühen kann. So ging es mir an einer Stelle in Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Die Soldaten: Dort gab es eine Tänzerin, die mein Double spielte. Ich wollte diese Szene aber selbst gestalten, weil sie so herausfordernd war. In den Proben haben wir es einmal versucht, doch das war körperlich so erschöpfend, dass ich beim Singen hätte Abstriche machen müssen. Also habe ich Andreas zugestimmt und die Tänzerin diese extrem gewalttätige, physisch virtuose Szene spielen lassen – und ich sang meine Passage. Dabei ist ein unglaublicher Moment entstanden: Wir zwei Frauen landeten am Ende in einer herzzerreißenden, taumelnden Umarmung. Dieser außergewöhnliche Augenblick wäre nicht möglich gewesen, wenn ich nicht von meinem ursprünglichen Wunsch abgelassen hätte, alles selbst zu machen.
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Premiere The Snow Queen
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Der Reiz des Risikos unbekannter Klangwelten
Der Lackmustest für gute Musik Wenn man sich die Komponisten ansieht, mit denen ich arbeite, wird klar, dass die Bandbreite schon allein bei der zeitgenössischen Musik so groß ist, dass man sie nicht auf einen Stil festlegen kann. Ich bin nicht ausschließlich an moderner oder serieller Musik interessiert, an Komplexität, Minimalismus oder irgendeiner besonderen Richtung. Was mich reizt, ist die individuelle Stimme, die Originalität. Meist genügt ein Blick in die Noten, und ich weiß, ob jemand aufrichtig mit seiner eigenen Stimme spricht. Das ist eine Kombination aus Emotion und Intellekt – das Gleichgewicht dieser beiden ist bei jedem anders, es wird ständig neu ausbalanciert. Die Musik von Komponisten wie György Ligeti, Bernd Alois Zimmermann, Pierre Boulez, Salvatore Sciarrino, Gerald Barry, John Zorn ist völlig verschieden. Sie klingt anders als jede andere Musik, aber vor allem spricht sie direkt zu meinem Herzen. Das ist für mich der Lackmustest: Spüre ich diese Musik wirklich in meinem Innersten? Erst wenn ich eine körperliche Reaktion habe, weiß ich Bescheid.
Bevor ich anfing, mit Hans Abrahamsen zu arbeiten, hatte er noch nie etwas Größeres für die Stimme geschrieben. Aber es ist immer ein Risiko, auch bei versierten Vokalkomponisten. Es ist nicht so sehr eine Frage von Erfahrung, es kommt auf die Klangwelt an. Was Hans betrifft, hat bei mir ein bestimmtes Stück den Ausschlag gegeben: Schnee. Jeder wollte es auf sein Programm setzen. Schnee hat viel mit Hans zu tun, und die „Schneehaftigkeit“ in seiner Musik sagt einiges über ihn aus. Sie findet sich auch in The Snow Queen und bei Ophelia. Wir kommen beide aus nordischen Ländern und haben ähnliche Erinnerungen daran, wie wir als Kinder den Schnee beim Fallen beobachtet und Schneeflocken untersucht haben. Da geht es um eine Art, wie die Zeit verstreicht, um ein Gefühl von Konzentration, das man nie vergisst, wenn man einfach nur daliegt und den weißen Kristallen zusieht. Mit Schnee hat Hans diese Stimmung in seiner Musik eingefangen – und ich wollte Teil dieser Klangwelt werden. Weil ich meine Stimme ganz unterschiedlich einsetzen kann, war mir klar, dass ich mich an seine Vorstellungen anpassen können würde. Es war eine Kombination aus Neugier, Respekt und tiefer Verbundenheit. Und natürlich der Reiz des Risikos – man weiß nie, aber man hat so ein Gefühl …
Protokolle Sarah-Maria Deckert, Malte Krasting
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Neue Gesangstechniken finden Nachdem Hans und ich beschlossen hatten zusammenzuarbeiten, trafen wir uns in einem Berliner Studio, und ich zeigte ihm, wie meine Stimme funktioniert. Das Treffen wurde zu einem vierstündigen Gesangsunterricht. Ich zeigte ihm, in welchen Lagen sich meine Stimme gern bewegt, wo sie ruhig bleibt, wo sie aufblüht und wo ich mich verletzlich fühle. Wir beschäftigten uns mit Gesangstechniken der Alten Musik, vom Barock bis zur Klassik, haben uns Mahlers vierte Symphonie angeschaut, ein schlichtes Stück, das solch einen starken Eindruck erzeugt, das Schönberg-Quartett mit Sopransolo, das so viele Regeln bricht. Hans hörte sehr intensiv und aufmerksam zu. Er bewies einen einzigartigen Fokus. Nach rund sechs Monaten schickte er mir die fertige Partitur von Let me tell you, in ein Londoner Hotelzimmer. Ich weiß noch genau, wie das Licht und wie warm es war – als ich in diesem Moment die Noten vor mir hatte, dachte ich: Ich sehe meine eigene DNA. Hans hat mich in einer Weise erkannt, in der ich mich vorher noch nie gesehen hatte. Er hat ein Bild von mir gemalt, in dem ich mich wiederfand, obwohl es anders war als alles, was ich bisher von mir gesehen hatte. Let me tell you klingt sehr lyrisch, aber um dahin zu kommen, muss man extrem genau arbeiten. Ich wollte verbergen, wie viel ich üben musste, um die Rhythmen richtig hinzukriegen. Hans wurde wie ein Lehrer für mich, der mich neue Gesangstechniken finden ließ. Die kristalline, reine Schönheit und Zartheit im hohen Register, besonders am Schluss des Stückes, war eine Herausforderung. Aber nachdem er mir diese Möglichkeit gegeben hatte, konnte ich das auch in anderen Werken einsetzen – ein Geschenk.
Gefahrenzone Bühne Eine meiner vokalen Stärken liegt in den Sprüngen. Ich kann mich musikalisch schnell bewegen, verfüge über Koloratur, eine gewisse stimmliche Akrobatik. Ich habe ein recht starkes tiefes Register. George Benjamin mochte diesen mittleren Bereich, die Feinheit des Klangs, das setzte er in Written on Skin ein. Ich genieße aber auch meine Verletzlichkeiten: Wie wohl bei fast jedem Sopran gibt es einen Bereich in meiner Stimme, bevor es richtig hoch wird, das ist eine Art Niemandsland. Darauf konzentrierte sich Hans in The Snow Queen, gleich am Anfang der Oper. Ich war erschrocken, als ich gesehen habe, dass er ausgerechnet mit dem empfindlichsten Stimmbereich beginnen wollte. Warum nicht mit meiner Stärke, mit einem gewissen Selbstbewusstsein starten? Aber es ging ihm um den Charakter. Gerda hat sich noch nicht gefunden. Die Musik muss sich entfalten, auf Gerdas Suche danach, wer sie eigentlich ist. Das ist aufregend. Man muss sich dieser Zerbrechlichkeit hingeben. Das sind die Herausforderungen, die ich so liebe: Wenn ein Komponist mir etwas zu entdecken gibt. Angst spielt dabei keine Rolle. Wenn ich ängstlich wäre, würde sich alles verschließen. Aber
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Foto Elmer de Haas
die Art, wie ich singe, erfordert, dass ich offen bin, durchscheinend. Nicht durchsichtig, nicht opak – etwas dazwischen. Hohe Töne schaffen einen bestimmten Ausdruck. Bei der Königin der Nacht beispielsweise Zorn, Ekstase, Hysterie – immer extreme Emotionen, niemals Frieden. In Let me tell you hat Hans jedoch am Ende hohe Noten benutzt, um Ruhe ausdrücken. Das ist spektakulär. Diese hohen Noten haben eine Zartheit, durch die sich eine neue Ebene öffnet. Das ist sehr poetisch. Ich empfinde sie nie als scharf oder kantig, wie Kristalle oder Diamanten – die sind natürlich hart, aber meistens strebe ich nach weichen Kanten. Ich hatte viel Zeit, meine Grenzen auszuloten. Als Sängerin lebe ich mit meinem Instrument, mit meinem Körper, meinen Gefühlen. Und das Instrument ist jeden Tag anders. Ich spüre, wenn ich in eine Gefahrenzone komme, wo ich auf der Hut sein muss. Manchmal treibe ich es bis zum Äußersten; wenn ich nach der Probe nach Hause gehe, restlos erschöpft, emotional, physisch, vokal. Aber so arbeite ich – immer bis zur Grenze gehen, und dann langsam den Weg zurück in die Sicherheit finden.
Wie man das Scheitern zulässt Menschen, die andere retten wollen, haben meist selbst etwas an sich, das der Rettung bedarf. Wie bei Kay und Gerda in The Snow Queen. Nur warum? Er hat sie verlassen – wozu sucht sie ihn und opfert sich für ihn auf? Was ist Gerdas Schwäche, was ist ihre Verletzlichkeit? Vor zwei Jahren traf ich mich mit Hans Abrahamsen und Andreas Kriegenburg in Hamburg, und Kriegenburg machte uns beide auf sehr berührende Weise mit der Idee vertraut, dass es sich bei dieser Geschichte nicht um ein Kindermärchen handeln muss. Es geht darum, jemanden nicht mehr erreichen zu können. Dabei könnte Kay die ganze Zeit an Gerdas Seite sein – nur ist er ihr auf andere Weise entschwunden, mit seinem Kopf oder seinem Herzen. Wie tief die Verbindung zwischen Kay und Gerda ist, wie groß der Schmerz, wenn diese Verbindung verloren geht, und wie ihr Überleben von dem seinen abhängt – all das verfolgt die Frage von menschlichen Wechselbeziehungen, nach Seelenwanderung. Ich kenne das Gefühl, ich habe einen Zwillingsbruder. Das ist anders als eine normale Geschwisterbeziehung. Es hat etwas von einer Urkraft. Ich habe dabei gelernt, dass wir alle scheitern. Wir müssen das Scheitern aber zulassen. Es gibt nicht den einen richtigen Weg, um einen anderen Menschen zurückzugewinnen. Und es geht zudem nicht nur darum, den anderen zu retten – auch das eigene Ego braucht Erlösung.
Illustrationen Jan Robert Dünnweller
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BARBARA HANNIGAN – Was diese Frau anpackt, macht sie gründlich. Geboren in Kanada, ist Barbara Hannigan weltweit als Sängerin gefragt, mit Titelpartien in Bergs Lulu und Strawinskys Rossignol, Armida in Rinaldo und Donna Anna in Don Giovanni, mehrere Partien in Ligetis Le Grand Macabre und Agnès in George Benjamins Written on Skin. Mit dieser Partie gab sie 2013 ihr Debüt an der Bayerischen Staatsoper, gefolgt von der gefeierten Produktion der Soldaten 2014, in der sie als Marie brillierte. Konzerte sang sie als Gast bei den Berliner Philharmonikern, dem London Symphony Orchestra, dem New York Philharmonic und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Zudem hat Hannigan eine zweite Karriere als Dirigentin vorbereitet, beginnend mit ihrem Pariser Debüt 2010 mit Strawinskys Renard, die Sensation einer dirigierenden Sängerin bzw. singenden Dirigentin virtuos einsetzend. Seitdem dirigierte sie das WDR Symphonieorchester, die Prager Philharmoniker und die Accademia Nazionale di Santa Cecilia. Ein dritter Schwerpunkt ihres Schaffens ist das, was man früher als Muse bezeichnet hätte, heute könnte man es Kuratorin nennen: als fordernde Förderin zeitgenössischer Komponisten, die ihr auf ihre Anregung hin Werke schreiben. Die Welt der Musik, nicht nur der neuen, klingt anders, seit Barbara Hannigan in ihr wirkt.
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Fest im Griff Diese Emotionen. Wahrscheinlich ist es genau das, was so schwer zu verstehen ist. Das fast Zärtliche, der ungemeine Stolz, das wild Entschlossene, aber auch die Selbstverständlichkeit, all das verstört an den Bildern des Fotografen Zed Nelson aus seiner Serie Gun Nation. Dass Kleinkinder mit tödlichen Waffen spielen, Schüler im Gebrauch von Schusswaffen unterrichtet werden, Frauen damit posieren wie mit hübschen Accessoires: Was schier unvorstellbar bei uns ist, gehört in weiten Teilen der USA zum Alltag. So überzeugt die Amerikaner von der vermeintlichen Einzigartigkeit ihres Landes sind, so sehr klammern sie sich an ihre Waffen, die sie seit 1791 mit dem Rückhalt ihrer Verfassung tragen dürfen. Die Erklärungen sind bekannt, und sie werden bei jeder Massenschießerei wiederholt, mögen sie auch noch so aberwitzig klingen: Waffen töten nicht, sondern die Menschen, die sie benutzen. Gibt es viele Opfer, dann nur, weil zu wenige Waffen zur Verteidigung eingesetzt werden konnten. Waffenbesitz garantiert Freiheit, da nur so sichergestellt ist, dass die Bürger sich selbst schützen können, notfalls auch gegen die eigene Regierung. Kurz: Waffen gehören zu Amerikas Identität wie Gott und die Bibel. Wer eine Waffe hat, ist stark, kann mutig, vielleicht sogar ein Held sein. Und Helden – ja, die liebt dieses Land. Dabei bräuchte es Mut, die Realitäten in eben diesem Land anzuerkennen. Dass nämlich allein im August 53 Menschen bei Massenschießereien ums Leben kamen. Dass es bereits 38 solcher Attacken in diesem Jahr gab. Dass 2017 fast 40.000 Amerikaner an Verletzungen durch Schusswaffen gestorben sind, Tendenz steigend. Dass Kinder hier bis zu neunmal häufiger erschossen werden als in anderen entwickelten Ländern. Nicht weil es zu wenige, sondern weil es zu viele Waffen gibt. Diese Fakten müssten doch bei allen ein Umdenken auslösen. Warum fällt dann das Loslassen nur so schwer? Juliane Schäuble berichtet seit Juni 2018 für den Tagesspiegel aus Washington. Zuvor arbeitete sie in der Wirtschaftsredaktion und leitete zuletzt das Politikressort der Zeitung.
Fotoreportage Zed Nelson
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„Ich habe letztes Jahr eine 410er Schrotflinte vom Weihnachtsmann bekommen.“ Sarah Read, 10, im Waffenladen ihres Vaters.
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„Frauen machen einen großen Teil unserer Abnehmer aus. Die Waffen sind klein, effektiv und leicht mitzuführen. Dies ist der kleinste einsatzfähige Revolver auf dem Markt. Er schreckt Männer nicht unbedingt ab, aber ich würde damit nicht erschossen werden wollen. Jedes Jahr bekomme ich ein paar Briefe von Menschen, die mir schreiben, dass sie ihren Angreifer bedauerlicherweise mit einer unserer Waffen getötet haben.“ Sandy Chisholm, Präsident von North American Arms, mit kleiner Handfeuerwaffe.
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Hausfrauen aus Memphis, Tennessee, treffen sich, um die Waffen zu vergleichen, die sie kĂźrzlich gekauft haben.
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Ein Plakat im Schaufenster des Geschäfts Paladin Arms, Longmont. Halbautomatische Sturmgewehre können im Staat Colorado ohne Waffenschein legal erworben werden, von jedem, der über 18 Jahre alt ist.
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Die „wiedergeborenen Christen“ Kaywin und John Lenoue. Der Begriff (engl. „born-again Christians“) bezeichnet vor allem in Nordamerika bekehrte Christen, die beispielsweise nach einem bestimmten Ereignis wie einem schweren Schicksalsschlag zum Glauben (zurück-)gefunden haben.
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„Mit einer Bibel in der einen Hand und einer Waffe in der anderen können wir dieses Land wieder zu einer geeinten Nation unter dem einen Gott zusammenführen.“ Richard Mack, ehemaliger Sheriff in Arizona, auf der Waffenmesse Soldier of Fortune Annual Convention, Las Vegas, Nevada.
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„Wir haben schon so ziemlich alles gesehen. M-16-Sturmgewehre, halbautomatische Schusswaffen vom Typ AR-15, Jagdgewehre mit selbstgebauten Schalldämpfern, sogar ein ArmaLite Maschinengewehr mit 5,56-mm-NATO-Kaliber. Diese Waffen hätten von jedem benutzt werden können, von Kleinkriminellen bis zu mächtigen Drogendealern. Sie hätten bei Raubüberfällen zum Einsatz kommen können, bei häuslicher Gewalt oder Mord.“ Sergeant Michael Rallins im Waffenzentrum der Polizei von Memphis, mit Waffen, die auf der Straße oder in Wohnungen konfisziert wurden.
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„Es ist mein verfassungsmäßiges Recht, eine Waffe zu besitzen und meine Familie zu schützen.“ Mike, Vater und Waffenbesitzer, Dallas, Texas.
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Eine Familie in Los Angeles, Kalifornien, beim Kauf eines AR-15, eines besonders leichten Sturm- und Schnellfeuergewehrs, zum „Schutz ihres Zuhauses“. Das AR-15 ist eine modifizierte Version des M-16, eines Sturmgewehrs, das für den Nahkampf der US-Streitkräfte entwickelt wurde. Eingesetzt wurde es etwa im Vietnamkrieg, um zu töten.
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Camp Nou, © Efe Kurnaz, FUJIFILM X100T, 23.0mm, ƒ/2.0, 1/26s, ISO 800
Update für die Bühne
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Simon Stone mixt in seinen Arbeiten Hoch- und Populärkultur, klassische Fragestellungen mit aktuellem Zeitgeist. In seiner Inszenierung von Erich Wolfgang Korngolds Oper Die tote Stadt sagen sich Sigmund Freud und David Lynch gute Nacht. Dafür wird er gefeiert – aber auch kritisiert. Regiehoffnung oder Störenfried?
Bei der Bauprobe im Herbst vergangenen Jahres schlendert Simon Stone über die Bühne. Gemächlich, nicht hektisch. Flankiert von seiner Entourage umrundet er die kubisch aneinandergrenzenden, weißen Würfelräume, die er hat zusammenzimmern und möblieren lassen und die von Zeit zu Zeit grellfarbig beleuchtet werden. Ein bisschen MidcenturyVintage-Chic trifft auf Kreuzberger Hipsterflair, mit einem Hauch Teeküchen-Charme. Und was der Volksmund Hund und Herrchen nachsagt, trifft mit etwas Fantasie auch auf Simon Stone und sein Bühnenbild zu: Sie ähneln sich irgendwie, je länger man schaut. Stones schmale Jeans legt sich über schwere Lederboots, darüber trägt er Hemd und Sakko – und sein wüstes Haar ist eine Sache für sich. Ein paar Finger stecken in dicken Silberringen, mit denen fährt er sich immer wieder durch die schulterlangen, braunen Strähnen. Würde man Teodor Currentzis mit Jonathan Meese und Jesus morphen, vielleicht käme am Ende Simon Stone raus. Simon Stone bereitet hier sein Debüt an der Bayerischen Staatsoper vor. Er erarbeitet seine Baseler Inszenierung von Erich Wolfgang Korngolds Die tote Stadt neu. Es ist eine Produktion, die auch über die
Premiere Die tote Stadt
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Schweiz hinaus mit Beifall überschüttet wurde. Die erste Opernregie des damals 32-Jährigen – und ein Erfolg mit Schnappatmungseffekt. Von „Regiehoffnung“ und „Regiegenie“ war danach die Rede, von einem „fulminanten“ und „hochemotionalen“ Saisonstart, den die damalige Operndirektorin Laura Berman wohl bereits vorausgesehen hatte: „Bring some Kleenex!“, empfahl sie damals auf Twitter vor der Premiere. Was er selbst an dem Stück großartig findet? „Es hat so unglaublich viel Hoffnung“, sagt Simon Stone, kneift die klaren, blauen Augen zusammen und muss sich ein bisschen in seinem Enthusiasmus bremsen. „Es ist die Konfrontation mit den Leichen, die man im Keller hat. Mit den Sachen, die wir verdrängt haben – damit wir wieder frei sein können.“ Manchmal müsse man durch düstere Zeiten gehen, um am Ende wieder das Licht sehen zu können. Diesem Spannungsverhältnis der „dunklen Wahrheit“ spürt Stone nach. Simon Stone gehört mittlerweile zur ersten Regieliga und wird auf den Bühnen dieser Welt gehandelt wie ein Weltklassetrainer im Fußball. Noch als Schauspielstudent gründete er seine erste Theatergruppe, das „Hayloft Project“, und produzierte mit
ihr Stücke von Seneca bis Wedekind. Daraufhin übernahm er die Leitung des Belvoir Street Theatre in Sydney. Im Alter von 30 Jahren hatte er bereits ebenso viele Inszenierungen realisiert. Bislang war der heute 35-Jährige mit drei Inszenierungen zum renommierten Berliner Theatertreffen eingeladen, und die Kritikerumfrage von Theater heute schmückte seine Inszenierung von Drei Schwestern mit dem Titel „Stück des Jahres“. Sogar in Hollywood hat er den Fuß in der Tür: Für sein Kinodebüt The Turning im Jahr 2013 drehte er gemeinsam mit Cate Blanchett, 2015 adaptierte er mit The Daughter Ibsens Wildente, und sein vor Begeisterung völlig verdatterter Hauptdarsteller Geoffrey Rush brachte die Faszination wie folgt auf den Punkt: „Simon Stone ist ein Klassizist, aber frisch und lebendig.“ Diese frische Lebendigkeit hat paradoxerweise mit einem biographischen Knick zu tun: Der in Basel geborene Simon Stone ist sieben, als er mit seinen Eltern ins englische Cambridge zieht, und zwölf beim Ortswechsel der Familie nach Melbourne. Wenige Monate nach der Ankunft dort stirbt sein Vater an einem Herzinfarkt, und der junge Simon wächst fortan mit seiner Mutter, Großmutter und zwei Schwestern
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auf. Seither wuchert in ihm das Gefühl der Verpflichtung, der begrenzten Zeit auf Erden so viel wie möglich abzutrotzen. Früher bedeutete das, regelmäßig die Schule zu schwänzen, um stattdessen bändeweise Shakespeare zu inhalieren. Heute bedeutet es: inszenieren, inszenieren, inszenieren. Simon Stone führte Regie in den Niederlanden (Medea, 2014), England (Yerma, 2016), Norwegen (Pelléas et Mélisande, 2017) und Frankreich (La Trilogie de la vengeance, 2019), sein Schaffensdrang ist enorm. Dabei ist er Wiederholungstäter. Immer wieder beschäftigt er sich mit denselben Stoffen. Das ist ungewöhnlich für einen so umtriebigen Regisseur und könnte leicht redundant wirken. Aber wie bei seinem Münchner Bühnenrundgang: Stone hastet nicht. Stattdessen bleibt er an den Themen dran, bohrt tiefer und tiefer. Er widmet sich den universalen Fragen, die er bei Ikonen der griechischen Antike (Euripides, Aristophanes, Aischylos) ebenso findet wie bei den neueren Spezialisten menschlicher Tragik (Tschechow, Strindberg, Ibsen), mit drängender, ja obsessiver Neugier: Warum bringt jemand seine Kinder um (Medea)? Welche Verblendungszusammenhänge treiben einen Menschen in die Enge (Hotel Strindberg)?
Wie bekämpft man das Empfinden von Verlorenheit, das Minderwertigkeitsgefühl und das Lächerliche (Drei Schwestern)? Und schließlich: Wie überlebt man den Tod eines geliebten Menschen (Die tote Stadt)? In dem Komponisten Erich Wolfgang Korngold hat Simon Stone einen künstlerischen Verwandten gefunden. Im jungen Alter von 19 Jahren begann Korngold, seine Oper rund um Paul, der gefangen in der Trauer über den Tod seiner Frau lebt, zu komponieren. Ebenso ein Shootingstar wie Stone. Und auch das Dilemma zwischen Festhalten und Loslassen kennt der Regisseur. Unmittelbar nach dem Tod seines Vaters habe er viel von seiner Kindheitsstadt Basel geträumt, sagt Stone. In diesen Träumen spazierte er an der Hand seines Vaters durch die Straßen. Das ist das Tröstliche wie Tragische an Träumen: Sie machen Tote zwar wieder lebendig, aber eben nur bis zu dem Moment, in dem man die Augen aufmacht. Zurück in der Wirklichkeit wirkt der Verlust dann umso grausamer. So sagen sich bei Simon Stones Toter Stadt Sigmund Freud und David Lynch gute Nacht. Ein idealer Fall. „Das ganze Stück ist für die Hauptfigur eine Konfrontation mit seinen Schuldgefühlen“, erklärt Stone
mit seinem leicht australisch eingefärbten Deutsch. „Er verabschiedet sich von seiner toten Frau, aber auch von der Frau, in die er sich neu verliebt hat. Er ist darauf vorbereitet, allein zu leben, wirklich zu trauern.“ Diesem Oszillieren zwischen Psychoanalyse und Psychodrama, zwischen Trauer, Vision und Wahn begegnet Stone, wie er auch den übrigen Stoffen begegnet, mit denen er liebäugelt: Er überträgt sie ohne falsche Ehrfurcht ins Hier und Jetzt. Das nennt er „Überschreibung“: Ibsens Ehefrauen shoppen online, Tschechows Schwestern tindern und whatsappen. Und bei Korngolds trauerndem Paul hängen Filmplakate von Michelangelo Antonionis Blow Up und Jean-Luc Godards Pierrot le fou an den Wänden. Luigi Cherubinis Médée setzte er dagegen jüngst bei den Salzburger Festspielen in den Kontext der Migrationsdebatte und arbeitete das Motiv der Zurückweisung heraus. Nur landete Medea eben nicht in Korinth, sondern in Wien-Schwechat. Stone mixt Hoch- und Populärkultur, klassische Fragestellungen mit aktuellem Zeitgeist, verbindet konträre Welten ganz unverkrampft mit lässigen Referenzen und füllt damit eine Lücke, die im Gegenwartstheater immer noch zu klaffen scheint. Dabei
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© Gabe Rebra, RICOH GR III, 18.3mm, ƒ/2.8, 1/250s, ISO 5000
Text Margarete Affenzeller, Sarah-Maria Deckert
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aufgewachsen in Cambridge und Melbourne, studierte an der Universität von Melbourne am Victorian College of the Arts. Mit seiner 2007 gegründeten Theatergruppe „The Hayloft Project“ adaptierte er Dramen, u. a. von Tschechow. Am Belvoir Street Theatre in Sydney realisierte er nach der Vorlage von Ibsen die Produktion The Wild Duck, die 2012 beim Ibsen-Festival in Oslo und 2013 bei den Wiener Festwochen sowie beim Holland Festival Amsterdam gastierte. 2015 drehte er auf der Grundlage desselben Dramas den Kinofilm The Daughter. Es folgten Inszenierungen am Theater Basel, an den Münchner Kammerspielen, am Burgtheater Wien und am Berliner Ensemble. Mit Die tote Stadt inszenierte er am Theater Basel 2016 das erste Mal Oper, 2017 folgte Aribert Reimanns Lear bei den Salzburger Festspielen, in diesem Sommer ebendort Médée von Luigi Cherubini.
bringt er nicht einfach nur einen neuen Realismus auf die Bühne. Seine Inszenierungen gehen über reine Abbildungen hinaus, sie erzeugen Traumund Angsträume, oft determiniert durch abstrakte Bühnenbilder wie etwa jenes von John Gabriel Borkman am Akademietheater Wien, das den maroden Haushalt der Bankiersfamilie in eine dicke, die unterkühlten Verhältnisse sichtbar machende Kunstschneelandschaft hüllte. Geisterhafte Bilder voll abgründiger Anschauung schuf er auch für Aribert Reimanns Lear in Salzburg 2017, den er in der Sturmnacht auf dem freien Feld, dem Wahnsinn nahe, einem flächendeckenden Sprühregen aussetzte. Und dann ist da noch die Sache mit der Sprache: Kaum ein Regisseur macht sich zugleich als Autor derart radikal über Theaterliteratur her. Stones Umgang mit dem Sprachmaterial ist so frei wie seine wehende Mähne. Manchmal bleibt vom Ursprungstext kaum ein Satz erhalten. Mit diesem Modus der freien Übertragung beziehungsweise Überschreibung polarisiert Stone. Die einen feiern ihn, weil er die Stücke von ihrer Patina befreit, sprechen von seiner Arbeit als „Produkt eines unheimlichen Muts“ (NZZ), sie gehe „unter die Haut“ (Deutschlandfunk), und so
kehre das Drama auf die Bühne zurück (taz). Andere rümpfen angesichts der rigorosen Updatepraxis die Nase, sprechen von „wie hingerotzt wirkenden Dialogen“ (Der Standard), von „dümmlichen Wortspielen und vielen, viel zu vielen Kraftausdrücken“ (FAZ), von einem „verharmlosten und trivialisierten“ Stoff: Da hätte man „genauso gut ein x-beliebiges ZDF-Fernsehspiel einschalten können“ (Welt). Auf die Frage, warum er nicht konventioneller an die Sache herangehe, antwortet Stone mit einem nonchalanten Grinsen im Gesicht: „Andere Menschen machen das.“ So einfach. Und weiter: „Es interessiert mich nicht, wie etwas außerhalb bewertet wird. Die Zuschauer kommen und genießen, dass sie unterhalten und herausgefordert werden, über ihr Leben nachzudenken – das ist das Ziel der Kunst.“ Wie wertvoll das dann sei, könne jemand anderes entscheiden, in 100 oder 200 Jahren vielleicht. Simon Stone, der Regisseur der Generation Netflix. Derzeit dreht er ein Projekt für den Streamingdienst, Näheres dazu ist streng geheim, wie nicht anders zu erwarten, wenn man publikumswirksam einen Mythos schaffen will, noch bevor er da ist. Doch bei aller Populärkulturliebe gibt es im Theater etwas, das Netflix nicht
Foto Sima Dehgani
SIMON STONE – Simon Stone, geboren in Basel,
hat, räumt Simon Stone ein: „Dass wir zusammensitzen. Dass wir gemeinsam Zeugen sind, was in unserer Gesellschaft stattfindet.“ Die soziale Komponente, das Moralische, erschließe sich erst in der Gemeinschaft. „Wir müssen kommunizieren“, sagt Stone. „Das fehlt uns im Moment, in Europa, in Amerika, überall auf der Welt – die Begegnung mit anderen Menschen.“ Und weil heute sowieso kein Mensch mehr in die Kirche gehe, hat Simon Stone eine Vision: das Theater, die Oper, die Bühne zum Tempel zu machen. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Margarete Affenzeller ist Theaterredakteurin und lebt in Wien. Nach dem Studium der Germanistik, Geschichte und Theaterwissenschaft arbeitet sie seit 1997 im Kulturressort der Tageszeitung Der Standard. Sarah-Maria Deckert leitet die Redaktion von Max Joseph.
DIE TOTE STADT
Oper in drei Bildern von Erich Wolfgang Korngold Premiere am Montag, 18. November 2019, Nationaltheater Weitere Termine im Spielplan ab S. 102
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P er ma ne n t M a k e - U p D an i el a G rob Ü be r 25 J ahre Erf ahrung i m Premi um-Se gme nt Di e e rs t e Ad re sse i n M ünchen
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Tote Städte, tote Frauen
Mit Die tote Stadt schrieb der Komponist Erich Wolfgang Korngold seine erfolgreichste Oper. Was ihn an diesem Stoff so anzog? Ein Blick auf die Liebesbeziehung zu seiner eigenen Frau – und auf Alfred Hitchcock.
ullstein bild – Rudolph Dührkoop
Porträt von Erich Wolfgang Korngold, 1916. Der Komponist wurde 1897 in Brünn geboren; 1957 starb er in Los Angeles.
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Premiere Die tote Stadt
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© DR – RMN-Grand Palais (Musée d'Orsay) / Hervé Lewandowski, Getty Images, Fernand Khnopff
Georges Rodenbachs Roman Bruges-la-Morte erschien 1892 mit einem Frontispiz von Fernand Khnopff, das eine offenbar tote Frau zeigt. Sie erinnert an Ophelia.
Khnopff war ein Bekannter Rodenbachs. Der Romanstoff inspirierte den Maler zu mehreren Zeichnungen, wie Une ville morte. Avec Georges Rodenbach.
Die Erstausgabe von Bruges-la-Morte zieren 35 Fotografien Lucien LévyDhurmers; sie zeigen Brügge, hier mit Autor Rodenbach im Vordergrund.
Text Thomas Macho
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„Auch Statuen sterben“, Les statues meurent aussi, so heißt ein halbstündiger Dokumentarfilm, den Chris Marker gemeinsam mit Alain Resnais und dem belgischen Kameramann Ghislain Cloquet gedreht hat. Der Film wurde 1953, nach seiner Uraufführung in Cannes, wegen seiner scharfen Kritik an der französischen Kolonialpolitik verboten; in Paris wurde er erstmals im November 1968 gezeigt. Doch nicht nur Statuen, auch Städte können sterben. Sie veröden, werden verlassen und aufgegeben; erst vor wenigen Jahren hat die Zeitschrift Bauwelt dem Thema der „Geisterstädte“ eine eigene Ausgabe gewidmet. Das Motiv des Städtetods hat der symbolistische Schriftsteller Georges Rodenbach, ein Freund Stéphane Mallarmés, mehrfach verfolgt, etwa in einem vierteiligen Essay über Agonies de villes, der 1889 im Figaro veröffentlicht wurde, und drei Jahre später in seinem berühmten Roman Brugesla-Morte, ebenfalls zunächst im Figaro, kurz danach bei Flammarion, mit einem Frontispiz von Fernand Khnopff. Dieses Frontispiz zeigt eine junge, offenbar tote Frau, sie erinnert an Ophelia, vor einer Brücke. Bruges-la-Morte erzählt von Hugues Viane, einem jungen und wohlhabenden Mann, dessen geliebte Ehefrau gestorben ist. Er übersiedelt nach Brügge, in ein Haus am Rozenhoedkaai; dort richtet er für die junge Tote Gedenkräume ein, die nicht einmal die fromme Haushälterin betreten darf. In diesen Gedenkräumen hängen Porträts, und in einem Schrein verwahrt er gar eine Haarlocke der Toten. Zufällig begegnet er eines Tages der Tänzerin Jane Scott, die seiner verstorbenen Frau extrem ähnlich sieht. Er verfällt dieser Tänzerin, die er dem Erscheinungsbild seiner toten Frau immer weiter anzugleichen versucht. Sie reagiert erst geschmeichelt, beginnt dann aber zunehmend, den reichen Liebhaber auszunutzen, der ihr teure Geschenke macht und ein eigenes Haus für sie mietet. Zugleich will Jane ihre Freiheit, auch für Abenteuer mit anderen Männern, nicht aufgeben; es kommt zu heftigen Konflikten. Am Ende bricht sie in die Gedenkräume für die tote Frau ein, verspottet Hugues und ergreift seine Reliquie, die Haarlocke. Hugues erwürgt sie im Zorn, eben mit dieser Locke, und „die Tote war noch toter. […] Die beiden Frauen waren zu einer geworden. So ähnlich im Leben, noch ähnlicher im Tod.“ Rodenbachs Erzählung verbindet einige typische Motive der Schwarzen Romantik – etwa den Gegensatz zwischen der Heiligen und der Femme fatale, der Belle Dame sans Merci, oder die Faszination für die schöne Leiche einer jungen Frau – mit ausführlichen Stadtbeschreibungen. In seiner Vorbemerkung erklärt Rodenbach die Stadt Brügge geradezu zur Hauptperson, die eng verbunden sei mit den geschilderten Seelenzuständen; sie erteile Ratschläge, warne und treibe zum Handeln. Die Erstausgabe wurde mit 35 Fotografien Lucien Lévy-Dhurmers ausgestattet; sie zeigen Ansichten der Stadt Brügge, beinahe immer menschenleer und düster. Was mag Erich Wolfgang Korngold an diesem Stoff fasziniert
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Sie war die Frau seines Lebens: Erich Wolfgang Korngold mit Luzi von Sonnenthal in Altaussee im steirischen Salzkammergut in Österreich.
Am 4. Dezember 1920 wurde Korngolds Die tote Stadt zeitgleich in Hamburg und Köln uraufgeführt. Der Opernsänger Karl Aagaard Oestvig sang die Partie 1921.
Den Ersten Weltkrieg überlebt Korngold – untauglich für den Fronteinsatz – im Dienst der Militärmusik. Im Frühjahr 1917 begegnet er bei einem Abendessen, zu dem Otto Seligmann eingeladen hatte, der Frau seines Lebens: Luzi von Sonnenthal. Bald entspinnt sich ein lebhafter Briefwechsel, mit zahlreichen Kosenamen, anfangs auch im Wechsel zwischen „Du“ und „Sie“, denn Luzis Mutter hatte die vertraute Anrede verboten. Also schreiben sie einander sogar in einer geheimen Notenschrift. Wie sich aus späteren Briefen erschließen lässt, waren auch die Eltern des Komponisten seiner Geliebten nicht freundlich gesinnt; noch mehr als 20 Jahre später beklagt sich Korngold – kurz vor Weihnachten, in einem Brief an seine Eltern – über ungezählte „fuerchterliche Szenen, Verdaechtigungen, Beschimpfungen“; und er fährt fort: „War sie schon vom ersten Jahr ab hintereinander ‚keine Dame’, ‚keine Frau’, ‚keine Hausfrau’, ‚keine Mutter’ genannt worden, so avancierte sie spaeter […] zur Ehebrecherin, […] zur mich nicht nur kuenstlerisch sondern jetzt auch noch materiell ruinierenden ‚Vergnuegungssuechtigen’.“ Offenbar sahen die Eltern in der jungen Frau – einer begabten Pianistin, Sängerin und Schauspielerin – eine höchst unerwünschte Konkurrentin um die Zuneigung des Wunderkinds. Korngold hat an seiner Frau, die er 1924 heiratete, ein Leben lang festgehalten. Doch lassen die Widerstände gegen seine Liebesbeziehung erste Umrisse einer Antwort auf die Frage erahnen, was Korngold am Stoff der Erzählung Rodenbachs angezogen haben mag. Denn just in den ersten Jahren der jungen Liebe arbeitet er – zusammen mit dem Vater, wenngleich der unter dem Pseudonym Paul Schott in Erscheinung trat – am Libretto seiner erfolgreichsten Oper, die am 4. Dezember 1920 unter dem Titel Die tote Stadt zeitgleich in den Stadttheatern von Hamburg und Köln uraufgeführt wurde; in Hamburg dirigierte Egon Pollack, in Köln Otto Klemperer. In Korngolds Oper, auch sie spielt in Brügge, heißt Hugues Paul, seine tote Frau – in Rodenbachs Erzählung wird ihr Name nicht genannt – Marie, und die Tänzerin Jane heißt
Getty Images / IMAGNO / Photoarchiv Setzer-Tschiedel, ullstein bild / Ludwig Boedecker, Getty Images / Imagno / Austrian Archives
Der junge Korngold, der mit sieben Jahren anfing zu komponieren, galt als Wunderkind. Auf der Fotografie von 1910 ist er 13 Jahre alt.
haben? Korngold wird am 29. Mai 1897, mehr als ein Jahr vor dem überraschend frühen Tod Rodenbachs am Weihnachtstag des Jahres 1898, in Brünn geboren. Schon 1901 übersiedelt die Familie nach Wien. Im Alter von sieben Jahren beginnt der Junge zu komponieren; er erhält Klavier- und Musikunterricht, ab 1907 bei Alexander von Zemlinsky. Nach der Aufführung seiner ersten Komposition, des Balletts Der Schneemann, an der Wiener Hofoper avanciert der junge Korngold rasch zum umjubelten Wunderkind; am 3. Januar 1910 schreibt der damals 45-jährige Richard Strauss an den Vater Julius Korngold, einen Musikkritiker, „das erste Gefühl, das Einen überkommt, wenn man hört, dass dies ein 11jähriger Junge geschrieben hat, ist Schrecken u. Furcht, dass ein so frühreifes Genie auch die normale Entwicklung nehmen möge, die ihm so innig zu wünschen wäre … diese Sicherheit im Styl, diese Harmonik, es ist wirklich staunenswert.“
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Das Grabmal für Georges Rodenbach auf dem Pariser Cimetière du Père-Lachaise. Der Schriftsteller erhebt sich mit einer Rose in der Hand aus dem Stein.
Getty Images / Hulton Archive, Alamy
Korngold musste Wien wegen antisemitischer Anfeindungen verlassen; 1934 ging er nach Hollywood. Der Zusatz „land“ des berühmten Schriftzugs wurde in den 1940er Jahren entfernt.
Marietta; die visuelle Ähnlichkeit der beiden Frauen wird also auch durch den Namen betont. Die Oper forciert das Motiv der Konkurrenz zwischen den konträren Frauenbildern; in der zweiten Szene des dritten Akts singt Marietta: „Und wieder die Tote – O, wie du mich erniedrigst! Sie schläft doch und fühlt ja nicht Untreu, nicht Liebe. Ich aber lebe, fühl die Kränkung.“ Bemerkenswert ist, dass Korngold dem Stück eine Art von „Wiener Schluss“ gegeben hat, ein Happy End im Sinne Josephs II., der den Wiener Theatern einen glücklichen Ausgang selbst für Shakespeares Romeo und Julia oder Hamlet verordnete. In der letzten Szene erwacht Paul und erkennt, dass er die Ermordung Mariettas bloß geträumt hat. Er trennt sich danach aber nicht nur von Marietta, sondern auch von der Toten, vom Museum seiner Trauer und zuletzt von Brügge, dieser „Stadt des Todes“. Denn die „Toten schicken solche Träume, wenn wir zuviel mit und in ihnen leben.“ Er fragt: „Wie weit soll unsre Trauer gehen, wie weit darf sie es, ohn’ uns zu entwurzeln? Schmerzlicher Zwiespalt des Gefühls!“ und schließt resigniert: „Hier gibt es kein Auferstehn“, wie es noch das Grabmal für Georges Rodenbach auf dem Pariser Cimetière du Père-Lachaise, gestaltet von Charlotte Besnard, zu versprechen scheint. Denn da erhebt sich der Schriftsteller mit einer Rose in der Hand aus dem Grab. Auch Korngold musste Wien schließlich verlassen. Antisemitische Anfeindungen hatte er bereits 1922 erlebt, als die Münchner Premiere seiner Oper von randalierenden Nazis gestört wurde; für die Unterstützung durch den Dirigenten Hans Knappertsbusch bedankte er sich in einem Brief, in dem es heißt: „Ihr Handschlag und Ihre spontane Umarmung vor dem Vorhang hat viele Kränkungen, die ich Jahre hindurch als Künstler auf meinem (Haken)=Kreuzwege zu erdulden hatte (und weiter erdulden muss) gut gemacht.“ 1934, im Jahr des österreichischen Bürgerkriegs und der Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuß, folgte Korngold einer Einladung Max Reinhardts nach Hollywood, wo er nun Filmmusiken, insgesamt zu mehr als 20 Filmen, komponierte. Seine Arbeit wurde mit mehreren Oscar-Nominierungen und zwei Oscars (1937 für Anthony Adverse von Mervyn LeRoy, 1939 für The Adventures of Robin Hood von Michael Curtiz und William Keighley) ausgezeichnet. Jahrelang pendelte Korngold zwischen Hollywood und Wien; offenbar fiel es ihm schwer, Wien ganz aufzugeben. Während des sogenannten „Anschlusses Österreichs“ an die NS-Diktatur im März 1938 war er gerade in Los Angeles; mit Hilfe seiner Kontakte zu Warner Brothers gelang es ihm, seiner Familie zur Emigration in die USA zu verhelfen. Wien avancierte nun zu seiner „toten Stadt“, in die er nach Kriegsende nur mehr selten zurückkehrte. Nach 1946 vernachlässigte Korngold zunehmend die Komposition für den Film; in gewisser Hinsicht hat aber gerade Die tote Stadt einen Einfluss auch auf die Filmgeschichte ausgeübt. Das berühmteste Beispiel ist Alfred Hitchcocks Vertigo; dieser Film, den die Zeitschrift Sight & Sound des
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Diese Wiederbegegnung zwischen Judy und dem ehemaligen Polizisten prägt die Dynamik und den Suspense der zweiten Filmhälfte, die geradezu wie ein Spiegelbild der ersten Hälfte inszeniert ist. Früher als der männliche Held weiß das Publikum, dass Judy identisch ist mit der scheinbar vom Kirchturm gesprungenen Madeleine aus dem ersten Teil – und verfolgt mit zunehmender Spannung die allmähliche Rückverwandlung Judys in die verlorene Geliebte Madeleine. Die mit manischer Energie forcierte Transformation erreicht ihren Höhepunkt, als die Schauspielerin – endlich im richtigen Kostüm und mit der erwünschten Frisur – den Raum betritt, umspielt von grünem Neonlicht, das ihre „Auferstehung“, ihre Wiederkehr aus dem Totenreich ankündigt. Als moderner Pygmalion triumphiert der Protagonist in diesem Moment, doch versagt er als Orpheus, denn er durchschaut das Mordkomplott; der Film endet bekanntlich mit einem zweiten tödlichen Sturz vom Kirchturm. San Francisco erscheint als neue „tote Stadt“; emblematisch inszeniert wird etwa die Golden Gate Bridge, Anziehungsort für zahllose Suizide. Und abermals stirbt die Schauspielerin, die Femme fatale, die der idealisierten Toten nur ähnlich sieht.
DIE TOTE STADT Oper in drei Bildern von Erich Wolfgang Korngold Premiere am Montag, 18. November 2019 Nationaltheater Weitere Termine im Spielplan ab S. 102
Auf Korngolds Spuren: James Stewart als Detektiv Scottie Ferguson rettet Kim Novak alias Madeleine Elster in Hitchcocks Meisterwerk Vertigo, 1958.
Thomas Macho leitet seit 2016 das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien. 1976 wurde er mit einer Dissertation zur Musikphilosophie promoviert; 1984 habilitierte er sich mit einer Schrift über Todesmetaphern. 2019 erhielt er den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
DIE TOTE STADT – Die Grenze zwischen Traum und Realität löst sich zunehmend auf, als der um seine verstorbene Frau Marie trauernde Paul auf die Tänzerin Marietta trifft. Aufgrund ihrer äußerlichen Ähnlichkeit zu Marie wird Marietta zur Projektionsfläche für die erotischen Wünsche Pauls, dessen Trauer kultische Züge trägt: Die sorgsam aufbewahrte Haarsträhne der Verstorbenen wird wie eine Reliquie verwahrt. Nach einer nervenaufreibenden „Vision“ mit kathartischer Wirkung wird Paul schließlich in der Wirklichkeit geerdet. Er kann die Stadt Brügge als den Ort für seinen Totenkult verlassen. Der ursprüngliche Werktitel „Triumph des Lebens“ ist für die persönliche Entwicklung des Protagonisten bezeichnend. Wenige Wochen vor der Uraufführung von Die tote Stadt im Jahr 1920 und dem darauf folgenden immensen Erfolg des Komponisten bezeichnete kein Geringerer als Giacomo Puccini den damals 23-jährigen Erich Wolfgang Korngold als „die stärkste Hoffnung der neuen deutschen Musik“. Arien wie „Glück, das mir verblieb“ und „Mein Sehnen, mein Wähnen“ gehören wegen ihrer melodischen Eindringlichkeit zum Konzertrepertoire zahlreicher Opernsänger und strahlen weit über die Bekanntheit der Toten Stadt hinaus.
2. AKADEMIEKONZERT 2. und 3. Dezember 2019, Nationaltheater Musikalische Leitung Thomas Søndergård, Violine Vilde Frang Thomas Adès Three Dances aus „Powder Her Face“ Erich Wolfgang Korngold Violinkonzert D-Dur op. 35 Jean Sibelius Symphonie Nr. 1 e-Moll op. 39
Getty Images / Photo by Paramount Pictures / Archive Photos
British Film Institute seit 2012 an erster Stelle ihrer alle zehn Jahre erneuerten Liste der „Greatest Films of All Time“ nennt, wurde am 9. Mai 1958 in San Francisco uraufgeführt, rund fünf Monate nach dem Tod Korngolds am 29. November 1957. Der Plot des Films ist bekannt: Eine schauspielerisch begabte junge Frau namens Judy (gespielt von Kim Novak) wird engagiert, um die Rolle einer Ehefrau namens Madeleine zu verkörpern, die dem Bann ihrer toten Urgroßmutter Carlotta Valdes, die sich vor vielen Jahren umgebracht hat, zu erliegen scheint. Sie begeht zuletzt ebenfalls Suizid. Erfolgreich vertuscht wird in diesem Spiel die Ermordung der tatsächlichen, im Film gar nicht auftretenden Ehefrau. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des pensionierten Polizeibeamten Scottie Ferguson (James Stewart), der unter Höhenangst leidet, weshalb er den inszenierten Scheinsuizid Madeleines – den Sprung vom Kirchturm einer kleinen Missionsstation – nicht verhindern kann. Der Mordplan sah allerdings nicht vor, dass sich der ehemalige Polizist und die Schauspielerin ineinander verlieben; ungeplant war auch, dass sie einander nach dem Verbrechen wieder begegnen.
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Die Fotoreportage Artificial Reality von Fotografin Lena Kunz zeigt Beziehungen von Frauen und ihren Puppen. Der Bausatz fĂźr die Babys aus Vinyl besteht aus wenigen Teilen; bevor sie an die Kundinnen gehen, werden Haut-, Haar- und Augenfarbe bestimmt.
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Premiere CoppĂŠlia
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Wie neu geboren
Puppen zum Leben erwecken – darum geht es nicht nur in der Ballettpremiere von Coppélia. In Zeiten von digitalen Assistenten, Sexrobotern und Künstlicher Intelligenz leben immer mehr Frauen mit lebensechten „Reborn-Babys“. Eine Reportage über Tabus und Wunschgeschöpfe.
Text Lisa Frieda Cossham
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Sie sind die einzigen, die an diesem Nachmittag einen Kinderwagen durch die Räume schieben. Langsam gehen sie, zwei erwachsene Frauen, eine rundlich, die andere schmal, es sind Mutter und Tochter. Ab und an beugt sich jemand über den Wagen. Dann wird das Verdeck runtergedrückt, damit zwei Babys bewundert werden können, die auf einem Lammfell liegen. Schnuller bedecken ihre Gesichter, eines hat die Augen geschlossen. Bisschen eng liegen sie da. Aber daran stört sich niemand: Die Babys sind aus Vinyl, gefüllt mit Granulat. „Wie schön ihre Haare sind“, sagt eine ältere Dame und streicht ihnen über die Köpfe. Mutter und Tochter lächeln. Für Momente wie diesen haben sie den Kinderwagen der Nachbarn ausgeliehen und sind zwei Stunden mit dem Auto gefahren. Babys zeigen und vergleichen, darum geht es ihnen. Puppenmutter sein, ohne verurteilt zu werden, hier auf der Puppenmesse in Bad Wörishofen, 86 Kilometer westlich von München. In ihrem Heimatdorf würden Linda und Bettina (Namen von der Redaktion geändert, Anm. d. Red.) niemals Babys aus Vinyl spazieren fahren. Jemand könnte sie für verrückt halten, und das sind sie nicht, sagen sie. Alt ist die Beziehung zwischen Mensch und Puppe, so alt wie die Unheimlichkeit, die sie begleitet. Kindern wird das Spiel mit ihnen zugestanden, sie dürfen sich im So-tun-als-ob verlieren, Alltag nachspielen, Fürsorge und Verantwortung üben. Fast jedes Vorschulkind sucht sich einen Gefährten, den es herumträgt, liebkost, mit dem es spricht, schimpft und lacht. Einmal erwachsen, befremdet uns die Hingabe an künstliche Geschöpfe. Menschen, die jetzt noch eine innige Beziehung mit einer Puppe führen, wecken unser Misstrauen: Haben sie verlernt, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden? Kompensieren sie Leere, Einsamkeit oder Verlust? Ihre Nähe zu menschenähnlicher Materie verstört und fasziniert uns gleichermaßen, ein Phänomen seit Beginn des Christentums. Ovid war einer der ersten, der es in Versen festhielt. Pygmalion nannte er seine Figur, einen Künstler, der, von den Frauen enttäuscht, seine eigene schuf, eine Statue aus Elfenbein. Pygmalion verliebte sich in sie und bat die Göttin Venus, sie zu verlebendigen. Sie kam seiner Bitte nach. Seither zieht sich der Pygmalion-Mythos durch Gesellschaften aller Zeiten, durch Literatur und Kunst. Bis heute werden Frauenfiguren
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Sorge um das Künstliche: Der Umgang mit den sogenannten Reborn-Babys gibt Frauen die Möglichkeit, ihre Gefühle und Bedürfnisse zu reflektieren. Nicht selten steckt ein Trauma hinter Beziehungen wie diesen.
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Fotos Lena Kunz
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nach männlichen Vorstellungen angefertigt, Figuren, die nicht verletzen, die treu sind, die sich fügen oder trösten, wie die lebensgroße Puppe, die der österreichische Maler Oskar Kokoschka in Auftrag gab: Sie sollte aussehen wie seine Geliebte Alma Mahler, die ihn verlassen hatte. Es sind Wunschgeschöpfe, Göttin und Fetisch zugleich. Verrückt sind diese Menschen nicht, sagt die Psychologin und Puppenexpertin Insa Fooken. Sie ist Professorin im Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und Mitherausgeberin der multidisziplinären Zeitschrift für Mensch-Puppen-Diskurse denkste: puppe / just a bit of: doll (de:do). Zunächst sei es eine menschliche Kompetenz, tote Materie quasi beseelen zu können. Solange Frauen wie Männer wüssten, dass sie mit Puppen zusammenleben, sei diese Beziehung nicht als pathologisch zu bewerten. Erst wer sie als menschliches Gegenüber wahrnehme, laufe Gefahr, die Tatsache der Projektion auf sie abzuspalten und nicht mehr zwischen „echt“ und „eigentlich“ unterscheiden zu können: „Dann setzt der Prozess der Derealisation und der Depersonalisation ein“, sagt die Wissenschaftlerin – ein Prozess, der meist heimlich stattfindet. Materie zum Leben zu erwecken ist ein Wunsch, so alt wie die Puppen selbst. Von der Gesellschaft wird er tabuisiert. Wer seine Puppe behandelt wie ein echtes Baby oder sie als Partnerin betrachtet und sie echten Menschen vorzieht, wie es zum Beispiel in Japan immer häufiger geschieht, der behält es für sich: Das Befremden der anderen wäre groß. Verschwindend schmal ist die Grenze manchmal, die Spiel und Wahn trennt. Jede der Frauen, die ihren Alltag mit lebensechten Puppen, den sogenannten Reborn-Babys, auf Youtube, Facebook und Instagram teilen, würde versichern, ganz genau zu wissen, dass es sich um Kinder aus Vinyl handelt – nur beobachten lässt sich das nicht wirklich. Maggies Reborn Welt oder Little Reborn Nursery heißen die Videoblogs, in denen sie regelmäßig zeigen, wie sie ihre Puppen wickeln, stillen und ankleiden. Manche füttern sie mit Babybrei. Sie erzählen von der Krippeneingewöhnung, die nie stattgefunden hat, aber eben genauso hätte stattfinden können. Von Spaziergängen und Einkäufen. Eine von ihnen ist die Kanadierin Taylor Kellie, Mutter von zwei echten Kindern, die sich nach einer Tot-
Materie zum Leben zu erwecken ist ein Wunsch, so alt wie die Puppen selbst. Von der Gesellschaft wird er tabuisiert. Wer seine Puppe behandelt wie ein echtes Baby, behält es für sich.
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geburt ihren Sohn nachbauen ließ. Das Video, in dem sie zeigt, wie sie Jaxx aus dem Karton holt, wurde knapp vier Millionen Mal angeklickt. Sie weint darin. In einem solchen Fall, sagt Insa Fooken, repräsentiert die Puppe das verlorene Kind, sie ist ein „Übergangsobjekt“: Mit der Trauerpuppe kann sowohl die Bindung zur abwesenden Person als auch die Loslösung von ihr durchlebt werden. Die Puppe hat einen heilenden Effekt. Seit mehr als hundert Jahren werden Puppen und Stofftiere systematisch zu Therapiezwecken eingesetzt, besonders in der Heilpädagogik und in der Psychotherapie mit Kindern. Hier gilt das So-tun-als-ob als eigentliche Sprache des Kindes, und die ist im Spiel mit Puppen gut zu beobachten. Doch nur wenige Puppenmütter haben einen Verlust zu verarbeiten. Nicht alle überspielen einen Mangel an Sozialkontakten oder Kinderlosigkeit: Dass diesen Frauen etwas fehle, ist eines der häufigsten Vorurteile. Und deshalb versichert Puppenmutter Bettina immer wieder, dass sie eine bodenständige Frau sei. Sie ist 55 Jahre alt und Mutter von vier erwachsenen Kindern, arbeitet als Strahlenschutzbeauftragte in einer Arztpraxis. Ab und an betreut sie zusammen mit ihrer Tochter Linda Babys und Kleinkinder. Sie muss nichts kompensieren. So wie die meisten Mädchen ist sie mit Puppen aufgewachsen, nur hat sie sich nie recht von ihnen verabschiedet und später ihren Kindern beigebracht, was eine gute Puppenmutter ausmacht. Bettina würde ihre Puppen zum Beispiel nie nackt herumliegen oder achtlos fallen lassen. Es quält sie, wenn sie Kinder beobachtet, die ihre Puppen mit Filzstiften anmalen. Im Grunde hält sie sich an die Pflegeanweisung der Hersteller: Sie raten den Kunden, die Produkte wie echte Menschen zu behandeln, um Schäden zu vermeiden. Schließlich sind sie auch so etwas wie eine Wertanlage, findet Bettina: Insgesamt 700 Euro haben Rosalie und Emily gekostet, die Bettina im Kurhaus von Bad Wörishofen von Stand zu Stand schiebt. Linda hat etwas von ihrem Taschengeld dazugegeben. An jedem Stand wechseln Mutter und Tochter Worte mit den Herstellerinnen, die einen professionellen Blick auf Rosalie und Emily werfen. Besonderes Qualitätsmerkmal ist das „Rooting“, das Einsetzen der Haare. Sie sind aus Mohair,
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Alpaka- oder Echthaar, jedes muss einzeln mit der Nadel eingezogen werden. Die Herstellerinnen, die sich als Künstlerinnen verstehen, arbeiten mit unterschiedlichen Bausätzen, die sie färben und bemalen. Erfahrene Sammler stehen diesem Trend etwas ratlos gegenüber. Eine eigene Welt sei das, findet Suzan Wolters aus den Niederlanden, die zusammen mit ihrem Mann Paul die internationale Puppen- und Bärenmesse in Brügge ausrichtet. Dieser Kosmos unterscheidet sich von den Sammlern, die sich für antike Puppen oder Künstlerpuppen interessieren. „Sammler von Reborn-Puppen sind meist emotional stark involviert – aus welchen Gründen auch immer“, antwortet Wolters auf Anfrage in einer E-Mail. Wie Bettina ist die 61-Jährige mit Puppen aufgewachsen, ihre Eltern haben Künstlerpuppen hergestellt und Bücher über Puppen und Teddys geschrieben. Wolters hat antike Porzellanpuppen nachgebaut, da war sie Anfang 20. Sie modelliert bis heute, inzwischen sind es Babypuppen aus Cernit. Auch wenn sie als Sammlerin andere Vorlieben hat als Reborn-Mütter, möchte sie die Frauen nicht verurteilen: Es sei eine Gemeinschaft, die sich gefunden habe und den Echtheitsbezug der Puppen eben brauche. Bettina und Linda haben das Kurhaus verlassen und laufen mit dem Kinderwagen ins gegenüberliegende Café. Eine Mullwindel soll die Puppen vor der Sonne schützen, vielleicht auch vor Blicken. Linda hat Emilys Decke zurechtgezupft und dafür gesorgt, dass ihr Knie nicht gegen eine Schraube des Verdecks stößt. Routiniert sind ihre Handgriffe, etwas verlegen ist sie trotzdem. Im September beginnt sie ihr Anerkennungsjahr als Erzieherin. Wie ihre Mutter hat die 21-Jährige ein Faible für alles Kleine, ob Puppe oder Lamm: Ab und an nimmt Lindas Familie auch Tiere auf und zieht sie mit der Flasche groß. Am liebsten aber hält sie Babys im Arm: „Sobald ich eines halte, vergesse ich alles um mich herum“, sagt die junge Frau, mehr ein Mädchen noch. Manchmal fährt sie mit ihrer Mutter zur Babymesse nach München, um sich Kinderwagen anzuschauen, sie kennt alle Firmen und Modelle. Zu Hause liegen die Puppen der Familie in einem Stubenwagen auf dem Speicher. Sie werden geholt, wenn Bettinas Enkel zu Besuch sind. Oder wenn sie wieder etwas strickt und Maß nehmen will. Bettina sagt: „Ich erfreue mich an ihrem Anblick
wie jemand, der seinen Oldtimer betrachtet. Oder seinem Fußballverein zuschaut.“ Also ist das Puppenmuttersein ein Hobby? Linda und Bettina schweigen, das trifft es nicht. Fürsorgliche Puppenmutter ist man anscheinend nicht nur in seiner Freizeit – sondern immer. Einmal, erzählt Bettina, haben sie Rosalie mit zum Einkaufen genommen und wurden im Supermarkt ausgerufen, weil jemand dachte, es säße ein echtes Baby im Auto und verdurste. Mutter und Tochter finden das lustig, war ja bloß eine Puppe. Also ein Gegenstand? Wieder Schweigen. Linda findet: „Puppen sind mehr als das.“ Nur was? Sie kommen aus der Kunst, sagt Leokadia Wolfers, seit 28 Jahren Veranstalterin des Puppen- und Bärenmarktes in Bad Wörishofen. Als Kind hat sie die Schildkröt-Puppen aus Celluloid polieren müssen, die ihre Großeltern im Spielwarengeschäft verkauften. Und auch wenn das eine mühevolle Aufgabe war, hat Wolfers, die im Rollstuhl sitzt und mit tiefer, ruhiger Stimme spricht, die Puppen früh ins Herz geschlossen. Vor allem die handgefertigten Künstlerpuppen von Käthe Kruse, drei davon besitzt sie. Eine Puppe zu machen, das sei mal der Einstieg in die Kunstszene gewesen, in der Zeit vor den Plastikbausätzen habe das Schöpferische im Vordergrund gestanden, sagt Wolfers. Die Puppe als Übung, als Vorstufe zur Skulptur – für die Reborner gelte das eher nicht, findet die Sammlerin. Ihnen gehe es vor allem um ein perfektes Abbild der Wirklichkeit. Als der Trend aufkam, Frühgeborene herzustellen, die dünne Adern hatten und an Schläuchen hingen, hat Wolfers eine Grenze gezogen. Sie durften auf ihren Messen nicht verkauft werden, aus ethischen und moralischen Gründen. Junge Paare hat sie beobachtet, Männer, die auf Anweisung ihrer Frau zum Auto liefen, um der Puppe eine Mütze zu holen. Die Sammlerin staunt, dass mit diesen Puppen tatsächlich ein Lebensgefühl verbunden wird. Trotzdem werde sich der Hype irgendwann legen, vermutet sie, so wie auch das Interesse an Künstlerpuppen nachgelassen hat. Der Bundesverband deutscher Puppenkünstler hat sich aufgelöst, und Wolfers, die früher 30 Messen in Deutschland veranstaltet hat, fährt nur mehr zu 15. Die Besucher, die an diesem Tag nach Bad Wörishofen gekommen sind, sind meist älter als 60, Kinder sind nicht unter ihnen.
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Eine Puppe zu machen war mal der Einstieg in die Kunstszene, wobei das Schöpferische im Vordergrund stand. Die Puppe als Vorstufe zur Skulptur – für Reborner gilt das nicht. Ihnen geht es um ein perfektes Abbild der Wirklichkeit.
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Manche sehen in den Puppen Kunstwerke, andere erleben sie als echte Gefährten. Die Grenze zwischen Spiel und Wahn – sie ist verschwindend schmal.
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Sie spielen eher mit Kuscheltieren, das haben Bettina, aber auch Insa Fooken beobachtet. „Die Bedeutung der Puppe hat sich verschoben, sie beschäftigt uns in Form von Androiden und Robotern und wirft neue ethische Fragen auf, zum Beispiel im Umgang mit Assistenzrobotern“, sagt Fooken. Nachdem sich das Aussehen der Puppe der Lebensrealität angenähert hat, entwickelt sie sich zum smarten Zeitgenossen. Menschenähnliche Roboter übernehmen die gesellschaftliche Kontrolle in Serien, Filmen und Romanen. Welchen Platz werden Menschen künftig einnehmen? Fragt der britische Schriftsteller Ian McEwan in seinem aktuellen Bestseller Maschinen wie ich. Wie wird Künstliche Intelligenz unsere zwischenmenschlichen Beziehungen verändern? Diskutiert ein Film wie Her, in dem sich Joaquin Phoenix alias Theodore Twombly in Samatha, eine Computerstimme, verliebt. Das Verhältnis Mensch-Puppe will neu definiert werden, glaubt Fooken: „Wir befinden uns in einer Umbruchsituation, in der es um die Frage geht: Wer bestimmt wen, wann und unter welchen Umständen? Das ist ein alter Diskurs aus dem 18. Jahrhundert, aus der Zeit des ersten lebensechten Automaten, der hier fortgeführt wird.“ Auch wenn eine so hochentwickelte Maschine wie Samantha noch nicht auf dem Markt ist und bisher nur Systeme programmiert wurden, die einfache Dialoge zulassen, sind Menschen schnell dazu bereit, ihnen menschliche Eigenschaften zuzuschreiben. Sie antworten, so das Forschungsergebnis der Kommunikationspsychologin Nicole Krämer an der Universität Duisburg-Essen, mit ihrem gesamten sozioemotionalen Arsenal. Sie danken dem Automaten. Sie reagieren verlegen. Schämen sich. Lachen. Was diese Interaktion vom kindlichen Puppenspiel unterscheidet, ist das programmierte Gegenüber: Wir werden nicht mehr dazu aufgefordert, es zu verlebendigen. Und damit, sagt Insa Fooken, verlören unsere Fantasien ihren spielerischen Charakter. Mit Blick auf Sexpuppen wie Frigid Farrah, die auf vorschnelle Berührungen ablehnend reagiert, um ihre Besitzer zu bremsen, wie die Hersteller schreiben, oder um ihre Vergewaltigungsfantasien anzuregen, wie Kritiker behaupten, ist der neue Ernst in der Interaktion beunruhigend: Was passiert, wenn dieses sexuelle Erleben als normal erlebt wird? Inzwischen gibt es Bor-
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delle, die Sexpuppen anbieten – sie ermöglichen hygienischen Sex, das Ausleben von gewalttätigen Praktiken, und ja, neben dem positiven Aspekt, dass es sich dabei um eine Triebregelung handele, bei der niemand zu Schaden komme, bestehe auch die Gefahr der Schwellensenkung, der Übertragung diverser Formen (sexueller) Gewalt in den realen zwischenmenschlichen Bereich, so Fooken. „Ich bin eine der Letzten“, sagt Leokadia Wolfers nachdenklich, und das ist an diesem Nachmittag im Kurhaus in Bad Wörishofen ganz umfassend zu verstehen: Ihre Puppenmesse wirkt wie eine nostalgische Zusammenkunft, eine gemeinsame Erinnerung an analoge Sammlerzeiten. Wäre es still, könnte man die antiken und historischen Puppen und Bären raunen hören. Sie waren Gefährten, Kummerkasten, Aggressionsobjekt und Statussymbol, sie waren identitätsrelevant für Menschen, die abwesend sind. Ihre Mechanik ist überschaubar, sie funktionieren ohne neues Betriebssystem und sind als Lieblingsobjekte langlebiger als ihre smarten Nachfolger. Bettina wird Rosalie und Emily vielleicht eines Tages ihren Enkeln vererben, wenn sie nicht vorher kaputtgehen. Aber es sieht gut aus, Bettina hat eines der beiden Reborn-Babys aus Spaß geröntgt. Die Aufnahme ist in ihrem Telefon gespeichert: Ein Metallskelett, schlicht wie ein Strichmännchen mit zwei Augen. Sie wird gut darauf aufpassen und ihren Enkeln zeigen, wie man Rosalie und Emily hochhebt, wie echte Babys nämlich. Ewig echte Babys, sie bleiben ja in der Familie. Mehr über die Autorin auf S. 8
COPPÉLIA Ballett in drei Akten Musik von Léo Delibes, Choreographie Roland Petit Premiere am Sonntag, 20. Oktober 2019 Nationaltheater Weitere Termine im Spielplan ab S. 102
COPPÉLIA – Ein Mann erschafft sich eine Frau. Nicht aus einer Rippe, nicht aus Elfenbein wie Pygmalion seine Galatea, sondern eine automatisierte Holzpuppe soll zum Leben erweckt werden. Dr. Coppélius heißt der einsame Schöpfer, eine Art Magier, ein eleganter Hexenmeister fortgeschrittenen Alters. In unbescheidener Eitelkeit nennt er sie Coppélia. Der junge Franz, der eigentlich mit Swanilda verlobt ist, erkennt die Täuschung nicht und verliebt sich in Coppélia, die tagaus, tagein in vornehmer Passivität im Fenster sitzt. Aber kann man sich quasi blind in jemanden verlieben, in ein Bild von einem Menschen? Was ist das für eine Liebe, die über Wunschträume, Idealisierung und Projektion funktioniert? Roland Petits Choreographie von 1975 stellt sich diesen Fragen mit Humor und Augenzwinkern. Das Ballett basiert auf der literarischen Vorlage Der Sandmann von E. T. A. Hoffmann und wurde 1870 mit Musik von Léo Delibes uraufgeführt. In Petits Version spielt es in einer Garnison Ende des 19. Jahrhunderts. Coppélia ist eine Metapher für den Traum, dem wir seit Ewigkeiten hinterherjagen: der perfekte Mensch. Es bleibt die Frage, ob es die Sehnsucht nach Perfektion ist, die uns träumen lässt, oder die Angst vor der unbeugsamen Individualität des anderen.
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Die Kosenamen, die man sich im Laufe einer Beziehung gibt, können Bände sprechen. Aber ist das Gesäusel einer von sich selbst beschwipsten Liebe womöglich schon der Anfang vom Ende? 88
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Getty Images / Collage Bureau Borsche
Zum Beispiel Hamlet, in einem Brief an Ophelia: „An die Himmlische und Abgöttin meiner Seele, an ihren trefflich zarten Busen diese Zeilen.“ Oder Othello zu Desdemona: „O meine holde Kriegerin, o mein Entzücken! Liebchen, dich wird man hoch in Ehren halten. O süßes Herz!“ Oder Romeo zu Julia: „Geh auf, du holde Sonne, meine Göttin. Meine Liebe! O sprich noch einmal, holder Engel, teure Heilige!“ – Ist das nicht hinreißend? Geht einem nicht direkt das Herz auf wie eine Mohnblüte im Zeitraffer? Denkt nicht jeder sogleich sehnsüchtig zurück an eine längst verwelkte, einst jedoch taufrische Liebe, an Tage voller Gurren und Turteln, Tuscheln und Zwitschern, an Geigen, Harfen, Nachtigallen? Einschränkend sei hier lediglich vermerkt, dass keine der erwähnten Damen die Flötentöne nennenswert lange überlebt hat (und die Herren, wenn man es streng betrachtet, auch nicht). Was die erbarmungslose Frage aufwirft: Ist das Gesäusel einer von sich selbst beschwipsten Liebe inklusive Kosenamen-Wettrüsten womöglich schon der Anfang vom Ende? Von Wolke sieben geht es zwangsläufig erst mal in tiefere Wetterlagen, nicht nur Meteorologen können das bestätigen. Und das an Harfen und Nachtigallen ohnehin beklagenswert arme Beziehungsgeschäft: Erscheint es nicht noch grauer und dissonanter, wenn man erst einmal „du holde Sonne“ zueinander gesagt hat? Alles, was nach der „holden Sonne“ kommen kann, ist ja nur noch die Verfinsterung. Die Haare im Waschbecken und die herumliegenden Unterhosen, das nicht eingeräumte Frühstücksgeschirr und das für überflüssigen Bullshit rausgeschmissene Geld, das NichtZuhören, die Gleichgültigkeit und die Langeweile und der zum dritten Mal hintereinander vergessene Kennenlerntag. Und schon ist aus der „holden Sonne“ die Erika geworden und aus dem „Abgott meiner Seele“ der Werner, was soll man dazu sagen, es ist perspektivisch einfach nur trostlos.
Text Tanja Rest
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Umgekehrt wäre es natürlich viel vernünftiger. Man finge ganz prosaisch mit den Namen an, die im Personalausweis stehen, und wirft sie sich bei jeder noch so nichtigen Gelegenheit im Streit an den Kopf, angereichert mit genereller Lieb- und Rücksichtslosigkeit in großzügigen Portionen. Im zweiten Jahr schaltet man hier und da eine Harfe zu, der im dritten Jahr eine sporadisch trällernde Nachtigall assistiert. Im vierten Jahr redet man manchmal miteinander, im fünften Jahr hört man unter Umständen sogar zu, im sechsten Jahr tut man womöglich Dinge für den anderen, von denen man selbst nichts hat. Im verwunschenen siebten Jahr hat man schließlich Sex. Und so weiter, und so weiter, bis man am Ende einer lebenslang nach oben sausenden Beziehungskurve schließlich eng umschlungen auf Wolke sieben angekommen ist und einander ins Ohr gurrt: „O du meine holde Sonne!“ – „O du Abgott meiner Seele!“ Unverständliches Wispern, Schlabbergeräusche. Und Vorhang. Das wäre schön. Aber so ist es ja nun nicht, leider. Was also folgt daraus? Shakespeare, der alte Halunke, hat sich natürlich um die Haare im Abfluss und die quer durch die Wohnung verstreuten Stinkesocken elegant herumgedrückt und seine Turteltäubchen lieber gleich um die Ecke gebracht. Diese Lösung aber mag man frisch Verliebten eigentlich nicht zumuten. Auch wäre es Irrsinn, den Zustand amouröser Blindheit zu überspringen und bereits sehenden Auges in die Beziehung zu starten. Woran soll man sich auf dem Weg zum Paartherapeuten zurückerinnern, wenn nicht an diese ersten Monate wollüstigen Wahns? Also genießt es, ihr ahnungslosen Zuckerschnuten. Flüstert, säuselt, raspelt Süßholz klafterweise. Gebt einander Kosenamen, sagt „Täubchen“, „Darling“, „Lieblingsschatz“ zueinander, solange ihr noch könnt! Was danach kommt, findet sich bei Shakespeare zumindest andeutungsweise.
Hamlet zu Ophelia: „Geh in ein Kloster! Lebe wohl! Oder willst du durchaus heiraten, nimm einen Narren.“ Othello zu Desdemona: „Schweig und sei still! Denk deiner Sünde!“ Oder Romeo zu Julia – nun, das muss leider ausfallen, sie haben sich am Ende bekanntlich so tragisch wie endgültig verpasst. Wenn sie nicht gestorben wären, es hätte aber ohnehin kein gutes Ende genommen mit den beiden. Allein das Aufeinandertreffen der Schwiegereltern bei Taufen, Geburtstagen und sonstigen Familienfeiern stellt man sich unerfreulich vor. Aber wenn sie dann hinterher im King-Size-Bett gelegen und auf den Balkon hinausgestarrt hätten, auf dem er sie damals „Engel“ und sie ihn „mein Herz“ genannt hat, „Liebster“, „Götterbild meiner Anbetung“: Das wäre die Hölle geworden. Tanja Rest, Redakteurin der Süddeutschen Zeitung, nennt ihren Liebsten in überschwänglichen Gefühlszuständen „Schätzel“, ihren elfjährigen Sohn „Tiger“ und ihre beiden über die Maßen gut genährten Graupapageien „Möpschen“. Sie ist sich der Peinlichkeit dieser Kosenamen in klaren Momenten schmerzhaft bewusst.
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Hinternational Was heißt das – Heimat und Vaterland? Was bedeutete es damals, was heute? Steht es für eine Utopie? Für Idealisierung? Für einen nicht erfüllten Traum? Oder ist es doch nur eine große Lüge? Gedanken zu Bedřich Smetanas Zyklus Má vlast.
Alte Heimat, neue Heimat. In der Fotoserie Die Erinnerungen der Anderen geht Yvonne Most ihren Wurzeln, der sudetendeutschen Herkunft ihrer Familie, nach. Links im Bild: ein Mann in Tracht aus dem Egerland.
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Dieses Kino in Kryry im Landkreis Žatec ist nicht mehr in Betrieb. Im Geburtsort der Großmutter der Fotografin begann die Reise für diese Serie.
Die Geschichte beginnt mit der Suche nach der Quelle. Die Moldau hat gleich zwei Quellflüsse: Die Warme Moldau, die in der Nähe von Kvilda in Böhmen entspringt, und die Kalte Moldau, die bei Haidmühle in Bayern zur Welt kommt. Die Moldau, die als der urtschechische Fluss gilt, ist also von Anfang an eine böhmisch-bayerische, eine tschechischdeutsche, eine mitteleuropäische Erscheinung. So als möchte dieser Fluss sagen: Seht her, ich lasse mich nicht vereinnahmen, ich bin nicht nur ein böhmischer Fluss, nicht nur ein Teil der böhmischen Geschichte. An meinen Ufern haben nicht nur Tschechen, sondern jahrhundertelang auch Deutsche, Juden, Sinti und Roma zusammengelebt. Und dazu kommt noch der Name, der die ganze Angelegenheit nicht einfacher macht. Denn die Tschechen nennen den längsten und wohl bekanntesten Fluss im Land Vltava. Vltava bezieht sich nicht auf ein tschechisches Wort, sondern auf den altgermanischen Ausdruck „Wilth-ahwa“, was „wildes Wasser“ bedeutet. Das war der Fluss einst tatsächlich, mit tiefen Schluchten, spitzen Felsen und Stromschnellen, bevor man nach dem Zweiten Weltkrieg die schäumende Strömung mit vielen Talsperren und hohen Staudämmen zähmte. Heute ist die Moldau ein ganz anderer Fluss als 1874, als ihm der Komponist Bedřich Smetana ein musikalisches Denkmal setzte, in seinem Zyklus Má vlast – Mein Vaterland. Nicht nur der Fluss, sondern auch das Land, die Landschaft und die Bevölkerung haben sich seither deutlich verändert. Die Warme und Kalte Moldau treffen in der Toten Au in der Nähe der Ortschaft Chlum aufeinander. Hier, hoch oben im ruhigen Böhmerwald, im Wald und Bergmoor, nimmt auch die symphonische Dichtung von Smetana ihren Lauf. In einer Gegend, die man aus den Erzählungen von Adalbert Stifter kennt. Und von Karel Klostermann. Der eine schrieb auf Deutsch, der andere auch auf Tschechisch. Stifter wuchs ein paar Kilometer flussabwärts in Oberplan auf, heute Horní Planá. Immer noch steht hier sein Geburtshaus, das jetzt ein Museum ist. Stifter und Smetana würden die Moldau nicht so wiederfinden, wie sie sie im seichten, breiten Tal kennengelernt hatten. Heute verschlingt der riesige Lipno-Stausee bei Horní Planá den natürlichen Lauf. Ganze Dörfer, Bauernhöfe und Stadtteile liegen mit ihren Geschichten darunter wie in einem
1. Akademiekonzert
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nassen Grab für ewig verschlossen. Manche sagen, mit dem brachialen Bau des Stausees erfüllte sich die Sehnsucht der Tschechen nach einem eigenen Böhmischen Meer. Proteste gab es damals keine. Die Gegend war fast menschenleer. Die Sudetendeutschen, die hier vor allem lebten, wurden aus der wiedergegründeten Tschechoslowakei nach dem Kriegsende 1945 vertrieben. Nur die wenigsten durften bleiben. Viele Orte im Grenzgebiet, im Böhmerwald, aber auch im Erz-, Riesenund im Altvatergebirge wurden nie nachbesiedelt. Nur langsam erholt sich die Landschaft von den Folgen der Vertreibung. Ziemlich genau kann man bis heute eine unsichtbare Grenze sehen, die das innere, mehrheitlich von Tschechen besiedelte Böhmen von den Bergen trennt, wo vorwiegend Deutsche lebten. Daher kommt ein tschechischer Spitzname für die Sudetendeutschen: Skopčáci – die vom Hügel. Entlang der beiden Arme der Moldau konnte man lange nicht wandern, denn überall lauerten Grenzsoldaten am Eisernen Vorhang, der Europa im Kalten Krieg teilte. Heute ist es wieder möglich, sich frei von Böhmen nach Bayern zu bewegen. Lipno ist zu einem sehr beliebten Reiseziel für Sommerurlauber aus ganz Mitteleuropa geworden. Auch an anderen Stellen hat sich der Strom der Moldau verändert, vor allem in Mittelböhmen. Vor Prag bilden gleich mehrere Talsperren und Kraftwerke die sogenannte Moldau-Kaskade. Die wunderschönen, aber für kleine Schiffe auch gefährlichen Johannisstromschnellen, die Smetana inspirierten, verschwanden im Dunkeln unter der Wasseroberfläche. Nur in Smetanas musikalischen Bildern leben die wilden Stromschnellen weiter.
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Eine Frau in Tracht aus der Wischauer Sprachinsel. Yvonne Most entdeckte Verbindungen von kollektiven Erfahrungen aus Spuren der Erinnerung und historischen Recherchen.
Wenn man am Damm der Talsperre steht und ins stille Wasser schaut, fragt man sich, wie Smetanas Moldau klingen würde, wenn er sie heute bei diesem Anblick komponieren würde. Und wie würde er wohl das Atomkraftwerk Temelín musikalisch umsetzen, dessen zwei Reaktorblöcke mit dem Moldauwasser gekühlt werden? Als postromantisches Experiment mit Techno-Basslines und Industrial-Sound? Wie würde er über die Atomenergie, an die die Tschechen so fest glauben, denken? Wie über Umweltpolitik? Über das ganze Land? Was geblieben ist, ist die Kraft des Flusses, die sich in geballter Form auch hin und wieder in einem Hochwasser zeigt. Immer noch bildet die Moldau die natürliche Achse des Landes, die die geschichtsträchtigen Städte wie Hohenfurth, Krummau, Budweis mit der weltberühmten Brauerei, Prag und Mělník, wo die Moldau nach ihren 430 Kilometern in der Elbe mündet, miteinander verbindet – allesamt Städte, die sich auch in Smetanas Moldau widerspiegeln. Bedřich Smetana schloss sich im 19. Jahrhundert der tschechischen Nationalbewegung an, die sich wie überall in Europa zu dieser Zeit verbreitet. Sein sechsteiliger Zyklus Mein Vaterland ist eine dramatische Reise zu den Gründungsmythen der tschechischen Nation: zu den aufständischen Hussiten, die im 15. Jahrhundert einen Religionskrieg gegen die katholischen Kreuzritter führten und – das spart Smetana aus – das ganze Land verwüsteten. Hinauf zum Berg Blaník, zu einer eher unscheinbaren Anhöhe, wo der Legende nach die tschechischen Ritter mit dem heiligen Wenzel, dem böhmischen Landespatron wachen,
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um das Land vor einem möglichen Untergang zu retten. Einige spotten darüber, dass das Heer zu viel Bier getrunken haben muss, als es die wahren Angriffe verschlafen hat, und fragen sich, wo die böhmischen Krieger waren, als 1939 die Wehrmacht in Prag einmarschierte oder als 1968 die Sowjets die Stadt mit ihren Panzern überfielen. Smetana führt uns aber auch in den Mägdekrieg der Amazonenkönigin Šárka, den man auch auf aktuelle Debatten um die Rolle und Selbstbestimmung der Frau beziehen kann. Und auf die alte Prager Burg Vyšehrad, die heute weniger bekannt ist als der von Touristen belagerte Hradschin. Smetana lässt seine Musik durch die Felder und tiefen Wälder laufen, die heute wegen der Trockenheit vom Aussterben bedroht sind. Auch der Vltava mangelt es manchmal an Wasser. Mit Ursprungserzählungen und Legenden ist es schwierig. Oft werden sie politisch instrumentalisiert. Oft führen sie in Sackgassen. Und lassen vieles aus. Und vor allem eins fehlt bei Mein Vaterland: der tschechische Humor. Die Selbstironie, die man in den Gasthäusern beim Biertrinken als Teil der tschechischen Seele pflegt. Doch Humor und Ironie scheinen sich mit dem Pathos der Nationalmythen nicht zu vertragen. Smetana schrieb Mein Vaterland in einer Zeit, als sich in den Straßen von Krummau oder Prag die Sprachen wie selbstverständlich ergänzten. Man beeinflusste sich gegenseitig. Fast 400 Jahre war Böhmen ein Teil von Österreich, einem kulturell und sprachlich sehr vielfältigen Land. Man braucht sich nur die alten Friedhöfe anzuschauen, auf denen sich die tschechischen und deutschen Namen abwechseln. Oder sich die melodische tschechische Sprache anzuhören, in der man immer noch über so viele deutsche Wörter stolpert. Oder ein Glas Pilsner Urquell hochzuheben. Denn der Braumeister Groll, der 1842 in Pilsen das Bier neu erfunden hat, kam aus Niederbayern. So hat das Pilsner Bier auch zwei Quellflüsse, wie die Moldau: einen böhmischen und einen bayerischen. So wird das Bier auch zu einer Versöhnungsgeschichte wie die Musik von Smetana, die heute nicht nur Tschechen, sondern auch Deutsche lieben und verehren. Manche sagen sogar, dass Pilsner Bier Smetana beim Komponieren von Mein Vaterland inspiriert habe. Das Zusammenleben entlang der Moldau führte auch zu vielen Konflikten zwischen Deutschen und Tschechen. Die
Text Jaroslav Rudiš
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Das Zusammenleben entlang der Moldau führte zu vielen Konflikten zwischen Deutschen und Tschechen. Die einen wollten den anderen zeigen, wir sind besser, erfolgreicher und größer, und davon abgesehen ist das unser Land, unser Vaterland. Heute hören wir es bei den Populisten wieder.
Die Bilder der Fotografin werfen Fragen nach der eigenen Biographie auf und ermöglichen den Betrachtenden, jenes Bedürfnis nach alter und neuer Heimat zu reflektieren. Wie bei der Begegnung mit Christl (rechts) bei einem deutsch-tschechischen Versöhnungstreffen.
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Wenn man über die Kultur von Böhmen und Tschechien nachdenkt, wenn man durch die Städte und Landschaften spaziert, sollte man nicht ausblenden, dass die Tschechen nie so einsam und verlassen waren wie jetzt und dass das Land zu keiner Zeit so homogen war wie heute.
Das Naturbad in Mikulášovice. Im Fokus der Fotoserie stehen das Unfertige, die Fehlstellen und das, was am Rand passiert – oder auch nicht passiert.
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Die Erinnerungen der Anderen eröffnet einen neuen Blick auf eine Gegend mit verwachsenen Narben, die sich stetig weiterentwickelt.
einen wollten den anderen zeigen, wir sind besser, erfolgreicher und größer, und davon abgesehen ist das unser Land, unser Vaterland. Heute hören wir es bei den Populisten wieder. Über Nationalismus kann man nur lachen. Denn jeder zweite Tscheche hat in seiner Familie deutsche Vorfahren, und für die Sudetendeutschen gilt das umgekehrt genauso. Wenn man über die Kultur von Böhmen und Tschechien nachdenkt, wenn man durch die Städte und Landschaften spaziert, wenn man die Bücher liest und Musik hört, die hier entstanden sind, sollte man nicht ausblenden, dass die Tschechen nie so einsam und verlassen waren wie jetzt und dass das Land zu keiner Zeit so homogen war wie heute. Das war übrigens auch die Erzählung der Nation vor der Wende – die gemeinsame tschechisch-deutsch-jüdische Geschichte des Landes wurde verdrängt. Von Franz Kafka wusste man fast nichts. Ebenso wenig über seine Freunde Max Brod und Johannes Urzidil. Noch weniger war bekannt, dass sie zweisprachig waren und Deutsch und Tschechisch zu ihrem Alltag gehörte, dass sie „hinternational“ waren, wie Urzidil immer wieder sagte und damit die ihm wiederholt gestellte Frage nach der Zugehörigkeit ablehnte. Als hinternational kann man auch Bedřich Smetana bezeichnen, den viele Tschechen für einen „urtschechischen Tschechen“ halten. Getauft unter dem Namen Friedrich führte er sein Tagebuch in deutscher Sprache. Josef Wenzig schrieb die Libretti zu Smetanas Opern Dalibor und Libuše auf Deutsch, die dann erst ins Tschechische übersetzt wurden. Über Heimat und Vaterland im heutigen Tschechien nachzudenken, wirft zwangsläufig Fragen auf, die vielleicht nicht immer angenehm sind. Woher kommt eigentlich die Vorstellung, dass das Land nur einigen Auserwählten gehören darf? Haben wir uns mit der Vertreibung der Sudetendeutschen nicht auch selbst bestraft? Mit diesem Verlust der kulturellen Vielfalt? Was heißt das überhaupt – Heimat und Vaterland? Was bedeutete es damals, was heißt es heute? Steht es für eine Utopie? Für eine Idealisierung? Für einen nicht erfüllten Traum? Oder doch nur für eine große Lüge und einen Selbstbetrug? Denn die Sehnsucht nach einer Heimat und Zugehörigkeit zu einem Vaterland kann zu Vereinfachungen und Ausblendungen führen, wie es die Nationalisten immer
Fotos Yvonne Most
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wieder zeigen. Und auch zum Verdrängen und zur Ausgrenzung von allen anderen, die zu einem Heimatbild nicht passen, obwohl sie vielleicht nur eine Straße entfernt wohnen und Lieder in einer anderen Sprache singen. Letztlich heißt Heimat auch Isolation und Einsamkeit. Doch wer an der Moldau wandert und in den Strom irgendwo bei Krummau unter dem alten Schloss schaut, ist nie einsam. Man lauscht dem Rauschen des Flusses, aus dem die wunderschöne Musik von Bedřich Smetana emporsteigt, und man bekommt eine Geschichte erzählt, mit vielen Zwischentönen, die nicht zu überhören sind. Mehr über den Autor auf S. 8
1. AKADEMIEKONZERT Bayerisches Staatsorchester Musikalische Leitung Kirill Petrenko Bedřich Smetana (1824–1884) Má vlast (Mein Vaterland) Zyklus von symphonischen Dichtungen
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Rolle vorwärts
Lucia Lucas versteht trans Frauen, die die männliche Performance im Alltag nicht mehr ertragen können. Aber solange die Sängerin nur noch auf der Bühne eine Rolle spielen muss – und nicht mehr im echten Leben –, ist das in Ordnung für sie.
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Lucia Lucas ist eine Frau, die als Bariton auftritt, Adrian Angelico ein männlicher Mezzosopranist. Ungewöhnlich? Eine Geschichte über Perspektiven, Stereotypen und Geschlechterrollen in der Oper. Ein Dienstagnachmittag in London. Lucia Lucas lächelt in die Kamera ihres Smartphones. Die Verbindung im WLAN-Netz ihrer Airbnb-Wohnung ist schlecht, aber Lucas gut gelaunt. Die Sängerin aus Karlsruhe steckt gerade mitten in den Proben zu Orpheus in der Unterwelt an der English National Opera. Im Mai sang sie an der Tulsa Opera in Oklahoma die Titelrolle in Mozarts Don Giovanni, und ein US-Medium titelte: „Eine trans Frau schreibt Operngeschichte.“ Lucas erklärt: „Ich möchte kein Sternchen neben meinem Namen, das deutlich macht: ‚trans Sängerin‘. Wenn Leute zu meinen Vorstellungen kommen, weil sie an meiner Identität interessiert sind oder an den persönlichen Kämpfen, die ich durchgemacht habe, gut. Aber ich hoffe, dass sie bleiben und erkennen, dass da vor allem auch Talent ist.“ Lucas ist eine trans Frau. Eine, die als Bariton auf der Bühne steht. In der Welt der Oper mit ihren festgeschriebenen und nach Geschlechter getrennten Stimmfächern ist das ungewöhnlich und steht deshalb häufig im Fokus, wenn über sie gesprochen wird. Aber warum ist das so?
Eigentlich sagt die Fixiertheit auf diesen Umstand mehr über die Gesellschaft aus, in der wir leben, als über die Künstler_innen selbst. Was als gewöhnlich oder ungewöhnlich gilt, ist eine Sache der Perspektive. Der dominierende Teil unserer Gesellschaft identifiziert sich mit dem Geschlecht, das einem bei der Geburt zugewiesen wird. Mit diesem cis-Sein, so der Fachausdruck, geht eine Sichtweise einher, die annimmt, dass das Geschlecht biologisch festgelegt ist. Welches Geschlecht eine Person hat, ist dann abhängig von den primären körperlichen Merkmalen. Diese Annahme durchdringt unsere Gesellschaft. Auch die Institution Oper. Eine Frau? Singt entweder Alt, Mezzosopran oder Sopran. Ein Mann? Bass, Bariton, Tenor oder Countertenor. Diese Vorstellungen bestimmen, wie Menschen wie Lucia Lucas wahrgenommen werden. Wenn über trans Personen geschrieben wird, dann tauchen immer wieder dieselben Stereotype auf. Es geht darum, „im falschen Körper geboren zu sein“, um das Gefühl, dass „etwas nicht stimmt“, es geht um Jungs, die schon als Kind lieber Kleider trugen, und um burschikose
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Mädchen. Diese Klischees können nicht nur verletzend sein, sie geben auch eine Gleichförmigkeit in der Lebensgeschichte von trans Personen vor, die nicht der Wirklichkeit entspricht. Weshalb dies ein Versuch ist, eine andere Geschichte zu erzählen. Eine, die sich nicht auf Operationen und intime Details fixiert, sondern darauf, was es bedeutetet, eine trans Person in der Oper zu sein. Lucia Lucas wird 1980 in Sacramento, Kalifornien, geboren. An der California State University studiert sie Waldhorn und Gesang. Für ihr weiterführendes Studium geht sie 2005 nach Chicago und hält vier Jahre später einen Masterabschluss und ihr künstlerisches Diplom in Händen. Damit geht sie 2009 an die Deutsche Oper Berlin – und singt 64 Aufführungen in einer einzigen Spielzeit. Lucas arbeitet hart und viel. Die Karriere steht im Zentrum, was ihr das Coming-out umso schwerer macht. 2013 ist sie für ein Gastspiel in Südkorea. Es ist drei oder vier Uhr morgens, als sie mit ihrer Frau Ariana telefoniert. Lucas hat ihre Partnerin, ebenfalls Opernsängerin, bereits während ihrer Studienzeit in Sacramento kennengelernt. Geheiratet hatten die beiden, kurz bevor Lucas nach Deutschland ging. Am Telefon in der südkoreanischen Nacht ist es schließlich ihre Frau, die Lucas den finalen Mut zuspricht. „Vielleicht solltest du mal mit einem Arzt darüber reden?“, rät sie. Damit fällt eine Entscheidung. „Meine Karriere lief zu diesem Zeitpunkt ganz okay“, sagt Lucas, „nicht schlecht, aber auch nicht unglaublich gut.“ Sie dachte damals: Wenn sie eine arme, hungernde Künstlerin bleiben müsse, aber dabei nicht sie selbst sein könne, was bringe ihr das dann? „Heute bin ich immer noch eine arme, hungernde Künstlerin“, sagt Lucas mit einer gewissen Ironie, „aber ich bin glücklich.“ Adrian Angelico findet ganz ähnliche Worte. Der Sänger, der in der Spielzeit 2020 / 21 mit der Uraufführung einer neuen Oper sein Debüt an der Bayerischen Staatsoper geben wird, sitzt in einem Raum der Oper Göteborg. Gleich ist Kostümanprobe für die Neuinszenierung von Le nozze di Figaro später am Abend. Ein stressiger Tag, aber Angelico hat sich trotzdem Zeit für ein Gespräch genommen. Als trans Mann kennt auch er die klassischen Erzählmuster. Als Angelico 2017 den Komponisten in Ariadne auf Naxos gab, sprach das norwegische Fernsehen von „seinem ersten Auftritt als Mann“. Seine Karriere lief gut, als er sich entschied, sich zu outen. Damals dachte er: „Wenn sie dadurch den Bach runtergeht, dann geht sie halt den Bach runter. Und wenn es okay ist, dann ist es okay.“ Angelico, Jahrgang 1981, kommt aus Norwegen, die Hälfte seiner Familie gehört zu den Sámi, einem indigenen Volk aus dem Norden Skandinaviens. Zwei Jahre lang besucht er das Royal College of Music in London, dann geht er ans Opernhaus Zürich. 2009 gewinnt er den Troldhaugen-Grieg-Preis im Internationalen KöniginSonja-Musikwettbewerb. Seitdem arbeitet er freischaffend.
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„Ich wollte abseits der Bühne keine Frau mehr spielen müssen“, sagt Angelico. „Auf der Bühne ist es mir aber egal, da spiele ich jedes Geschlecht.“ Und dort hat sich für Angelico – wie auch für Lucas – kaum etwas geändert. In seinem Fach als Mezzosopranist habe er schon immer auch männliche Charaktere dargeboten. „Die Leute sagen, dass ich das überzeugend spiele. Ich fühle mich wohl damit, das bin ich.“ Lucas gibt auf der Bühne immer wieder Männer. Singt die Heldenbaritone bei Wagner, Strauss, Verdi. In Magdeburg gab sie im vergangenen Jahr den Wotan. Mächtige, starke Stimmen sind das. Große, hypermaskuline Performances. Angelico und Lucas halten auf der Bühne an ihren alten Rollen fest. Weil sie genau das sind: Rollen. Ob es belastend für sie sei, auf der Bühne in eine Persona zu schlüpfen, die sie in ihrem Privatleben so lange selbst spielen mussten? „Solange ich nur noch auf der Bühne spielen muss und nicht mehr in meinem echten Leben, ist das in Ordnung für mich“, sagt Lucas, und erinnert sich an einen ihrer ersten Auftritte nach ihrem Coming-out, im Mai 2014. „Ich kam mit einem Kleid in die Oper, schminkte mein Tages-Make-up ab, und die Maskenbildnerin trug mein Alter-Mann-Make-up für die Aufführung auf.“ Lucas ging auf die Bühne und sang. Nach der Vorstellung schminkte sie sich abermals ab, trug Lippenstift auf und ging nach Hause. „Ich verstehe trans Frauen, die sagen, dass sie diese männliche Performance nicht mehr ertragen können. Aber ich habe für mich beschlossen, dass ich das machen kann. Ich denke nicht mehr darüber nach.“ Damals in Karlsruhe verbrachte sie den ersten Monat nach ihrem Coming-out damit, mit ihren Kolleg_innen zu sprechen, sie zu beruhigen und ihnen dabei verstehen zu helfen, was da gerade passiert. „Die meisten von ihnen hatten davor noch nie eine trans Person getroffen“, sagt Lucas. Die Stimme ist in diesem Zusammenhang ein heikles Thema. Bei Lucas und Angelico steht sie im Zentrum ihrer Kunst, sie ist die Kunst. Lucas wird weiterhin für Baritonpartien engagiert, weil die Hormontherapie ihre Stimme nicht verändert hat. Bei trans Männern hingegen kommt es bei der Einnahme von Testosteron meist zu einer Stimmsenkung. Weshalb sich Angelico bewusst gegen eine solche Therapie entschieden hat. Die Stimme kann für viele trans Personen Auslöser für leidvolle Erfahrungen werden, weil sie durch sie in manchen Fällen nicht als das Geschlecht wahrgenommen werden, das sie sind. Lucas erzählt, wie sie kürzlich am Frankfurter Flughafen von einem Grenzbeamten nach dem Grund für ihren Aufenthalt in Großbritannien befragt wurde. Der Mann sei von ihrer dunklen Stimme sichtlich irritiert gewesen, sagt Lucas. Dieses Beispiel illustriert, wie wirkmächtig unsere gesellschaftlichen Vorstellungen von Geschlecht und dem damit verbundenen Auftreten immer noch sind – und wie tief Rollenbilder und -erwartungen in unserem
Text Julian Dörr
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„Ich möchte mit meiner Geschichte zeigen, dass ein Mensch wie ich tun kann, was er wirklich will – und zwar mit Erfolg“, sagt der Sänger Adrian Angelico. Dem Mezzosopranisten ist wichtig, dass die Menschen darüber reden, was er macht – und nicht wer er ist.
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Bewusstsein verankert. Lucas und Angelico arbeiten daran, das aufzubrechen und aufzulösen. „Normalerweise sind es die Frauen, die auf der Opernbühne gerettet werden müssen“, sagt Angelico, „aber so ist es nicht immer. In Le nozze di Figaro zum Beispiel sind es nämlich eigentlich die Frauen, die alles lenken und beherrschen.“ Dann gibt es da noch die lange Tradition des sogenannten gender bendings, also des Dehnens von Geschlechterrollen, wie beispielsweise in der Hosenrolle, also einer männlichen Figur, die meist von einer Frau dargestellt wird. Octavian in Richard Strauss’ Der Rosenkavalier ist genau deshalb eine von Angelicos Lieblingsrollen, weil er sich in dieser Komplexität wiederfindet. Nicht zu vergessen das Phänomen des Countertenors, bei dem seit Jahrhunderten Geschlecht und Stimmtyp voneinander abweichen. In der Barockzeit wurden Kastraten verstümmelt, um hoch singen zu können – heute feiern die Ausnahmesänger ein überaus erfolgreiches Comeback in der Oper, das sicher auch mit den genderbezogenen Entwicklungen rund um die Bühne zusammenhängt. Opernhäuser existieren nicht losgelöst vom Kontext der Gesellschaft. Sie sind Institutionen wie andere auch. Mit Hierarchien, Strukturen und Praktiken, die diskriminierend sein können. Nur lassen sich Benachteiligungen im Zweifel schwerer nachweisen. „Nach einem Vorsingen kann es immer heißen: Es hat einfach nicht gepasst. Oder: Wir haben jemand Besseren gefunden“, sagt Angelico. „Ob ich wegen meines trans-Seins diskriminiert werde, kann ich dann nicht sagen.“ Als Angehörige einer Minderheit müsse sie immer 100 Prozent geben, erzählt Lucas. Bis heute sieht sie sich mit Vorurteilen konfrontiert. Zum Beispiel bei Opernschaffenden, die zwar ihre Kunst schätzen, sie aber dennoch nicht engagieren – aus Angst vor den Reaktionen des Publikums. „Du musst perfekt sein, die ganze Zeit. Das ist traurig, aber so ist es – zumindest so lange, bis sich die Gesellschaft gewandelt hat.“ Die Zukunft sehen beide dennoch optimistisch. Lucas glaubt fest an eine neue Generation von Kreativen, die langsam, aber sicher Vielfalt und andere Perspektiven in die Oper bringen. So wie der Regisseur Tobias Kratzer, der in diesem Jahr den Tannhäuser in Bayreuth inszenierte – Regenbogenflagge auf der Bühne inklusive. In der ersten Pause sang die schwarze Dragqueen Le Gateau Chocolat ein Intermezzo im Park am Fuß des Festspielhügels, während die Mezzosopranistin und Venus-Interpretin Elena Zhidkova am anderen Ufer ein Transparent mit der Wagner-Parole „Frei im Wollen, frei im Tun, frei im Genießen“ beschriftete. „Das war eine Invasion von queeren Menschen mit queeren Idealen“, sagt Lucas. An den Münchner Kammerspielen fand im vergangenen Jahr eine Podiumsdiskussion zum Thema „Transidentität im Theater“ statt, die der Frage nachging, warum es auf der Bühne noch immer so viele diskriminierende
Klischees und Stereotype zu sehen gibt. Die Performancekünstlerin Alex Alvina Chamberland sagte damals: „Der Mainstream will nur, dass du über deine Identität sprichst – und das in einer nicht komplexen Form.“ Simon(è) Paetau, Regisseur_in und Theatermacher_in, entgegnete: „Wenn unsere Geschichten nicht existieren, muss sich jede Generation aufs Neue auf die Suche begeben.“ In der Gegenüberstellung dieser beiden Aussagen offenbart sich eine zentrale Frage: Ist man als trans Person auf der Bühne nur eine Quotenfigur, die in die immer gleichen stereotypen Erzählungen gepresst wird und die – überspitzt gesagt – nur dafür da ist, dass das Haus sich mit einem möglichst diversen Cast präsentieren kann? Oder schafft man durch die Präsenz auf der Bühne Sichtbarkeit und Repräsentation für eine marginalisierte Gruppe, die letztlich zu echtem sozialen Wandel führen werden? Lucas und Angelico glauben an die Kraft der Repräsentation. Sie sehen sich als Vorbilder, wenn auch die Handlungen, die sie daraus ableiten, unterschiedlich ausfallen. Lucas macht Privates öffentlich, sie gibt viele Interviews und führte auch einen Blog, auf dem sie ihre Transition begleitete. „Ich rede mit jedem“, sagt sie, „meine Mailadresse steht auf meiner Website, jeder kann mir schreiben.“ Besonders viel Zeit schenkt sie dabei anderen trans Künstler_innen, gibt Tipps für Vorsingen und Karriereratschläge. Ihr Credo: Sei die Person, die du gebraucht hast, als du jünger warst. Angelico pflegt einen etwas zurückhaltenderen Umgang mit dem Thema, wenngleich seine Botschaft dieselbe ist. Ihm ist wichtig, dass die Leute darüber reden, was er macht, nicht wer er ist. „Ich möchte mit meiner Geschichte zeigen, dass ein Mensch wie ich tun kann, was er wirklich will – und zwar mit Erfolg.“
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Fotos Emily Stein, Patricia Varela
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Julian Dörr lebt und arbeitet als freier Journalist und Autor in Berlin. Er schreibt über Pop, gegen Sexismus, Rassismus und Diskriminierung und für soziale Gerechtigkeit. Die Arbeit an diesem Text hat ihm vor Augen geführt, wie tief diskriminierende Stereotype und Klischees in unserer Gesellschaft sitzen. Und dass sich das auch in der Art und Weise niederschlägt, wie Journalist_innen ihre Geschichten erzählen.
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MOZARTWOCHE 2020 23. JÄNNER – 2. FEBRUAR INTENDANT ROLANDO VILLAZÓN
LE NOZZE DI FIGARO
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Karten Tageskasse der Bayerischen Staatsoper Marstallplatz 5 80539 München T 089 – 21 85 19 20 tickets@staatsoper.de www.staatsoper.de
14.10. 2019 – 24.01. 2020
Sofern nicht anders angegeben, finden alle Veranstaltungen im Nationaltheater statt.
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Oper Jacques Offenbach LES CONTES D´HOFFMANN Musikalische Leitung Constantin Trinks Inszenierung Richard Jones Nina Minasyan, Sarah-Jane Brandon, Simona Mihai, Kevin Conners, Alex Esposito, Michèle Losier, Noa Beinart, Michael Spyres, Ulrich Reß, Manuel Günther, Boris Prýgl, Christian Rieger, George Vîrban, Martin Snell
Giacomo Puccini TOSCA Musikalische Leitung Andrea Battistoni Inszenierung Luc Bondy Anja Harteros, Stefano La Colla, Željko Lučić, Markus Suihkonen, Martin Snell, Kevin Conners, Christian Rieger, Christian Valle, Solist des Tölzer Knabenchors Mo 28.10.19 19.00 Uhr Do 31.10.19 19.00 Uhr So 03.11.19 19.00 Uhr gefördert durch
Di 15.10.19 19.00 Uhr Koproduktion mit der English National Opera, London Giuseppe Verdi RIGOLETTO Musikalische Leitung Paolo Carignani Inszenierung Árpád Schilling
Ernst Krenek KARL V. Musikalische Leitung Erik Nielsen Inszenierung Carlus Padrissa - La Fura dels Baus Bo Skovhus, Christa Mayer, Gun-Brit Barkmin, Dean Power, Anne Schwanewilms, Janus Torp, Daniel Kirch, Kevin Conners, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Markus Eiche, Peter Lobert, Mirjam Mesak, Sarah Gilford, Yulia Sokolik, Noa Beinart, Mechthild Großmann
Benjamin Bernheim, Ludovic Tézier, Erin Morley, Ante Jerkunica, Marina Viotti, Tim Kuypers, Andres Agudelo, Sean Michael Plumb, Daria Proszek, Christian Valle, Juliana Zara Do 07.11.19 19.30 Uhr So 10.11.19 18.00 Uhr Mi 13.11.19 19.00 Uhr
Mi 16.10.19 19.00 Uhr Sa 19.10.19 20.00 Uhr Mo 21.10.19 19.30 Uhr Karin und Roland Berger Avantgarde Partner
Alban Berg WOZZECK Musikalische Leitung Hartmut Haenchen Inszenierung Andreas Kriegenburg
Ludwig van Beethoven FIDELIO Musikalische Leitung Stefan Soltesz Inszenierung Calixto Bieito Edwin Crossley-Mercer, Michael Kupfer-Radecky, Klaus Florian Vogt, Adrianne Pieczonka, Günther Groissböck, Louise Alder, Dean Power, Caspar Singh, Markus Suihkonen Do So Mi Sa
24.10.19 27.10.19 30.10.19 02.11.19
19.00 19.00 19.00 19.00
Christian Gerhaher, John Daszak, Kevin Conners, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Jens Larsen, Peter Lobert, Boris Prýgl, Ulrich Reß, Gun-Brit Barkmin, Heike Grötzinger, Solist des Kinderchors So 17.11.19 20.00 Uhr Mi 20.11.19 19.00 Uhr Sa 23.11.19 19.00 Uhr Auch im Live-Stream auf www.staatsoper.tv Mo 25.11.19 19.00 Uhr
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Erich Wolfgang Korngold DIE TOTE STADT
Giacomo Puccini LA BOHÈME
Musikalische Leitung Kirill Petrenko Inszenierung Simon Stone
Musikalische Leitung Daniele Callegari Inszenierung Otto Schenk
Jonas Kaufmann, Marlis Petersen, Andrzej Filonczyk, Jennifer Johnston, Mirjam Mesak, Corinna Scheurle, Manuel Günther, Dean Power
Selene Zanetti, Elsa Benoit, Wookyung Kim, Rodion Pogossov, Sean Michael Plumb, Callum Thorpe, Andres Agudelo, Christian Rieger, Peter Lobert, Christian Valle, Oğulcan Yılmaz
Mo Fr Di So Fr Mi
18.11.19 22.11.19 26.11.19 01.12.19 06.12.19 11.12.19
19.00 19.00 19.00 18.00 19.00 19.00
Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr
Premiere Mi So Fr Mi
18.12.19 22.12.19 27.12.19 01.01.20
19.30 18.00 19.00 17.00
Uhr Uhr Uhr Uhr
In Kooperation mit dem Theater Basel sponsored by
Hans Abrahamsen THE SNOW QUEEN Musikalische Leitung Cornelius Meister Inszenierung Andreas Kriegenburg Barbara Hannigan, Rachael Wilson, Peter Rose, Caroline Wettergreen, Dean Power, Kevin Conners, Owen Willetts
Richard Wagner LOHENGRIN Musikalische Leitung Lothar Koenigs Inszenierung Richard Jones Christof Fischesser, Klaus Florian Vogt, Anja Harteros, Wolfgang Koch, Karita Mattila, Martin Gantner, Caspar Singh, George Vîrban, Oğulcan Yılmaz, Markus Suihkonen, Solisten des Tölzer Knabenchors
Sa 21.12.19 18.00 Uhr Premiere Do 26.12.19 18.00 Uhr Sa 28.12.19 19.30 Uhr Auch als Live-Stream auf www.staatsoper.tv Mo 30.12.19 18.00 Uhr Sa 04.01.20 18.00 Uhr Mo 06.01.20 17.00 Uhr Karin und Roland Berger Avantgarde Partner
Do 21.11.19 18.00 Uhr So 24.11.19 16.00 Uhr Sa 30.11.19 16.00 Uhr gefördert durch Johann Strauß DIE FLEDERMAUS Musikalische Leitung Friedrich Haider Nach einer Inszenierung von Leander Haußmann Engelbert Humperdinck HÄNSEL UND GRETEL Musikalische Leitung Patrick Lange Inszenierung Richard Jones Milan Siljanov, Katja Pieweck, Samantha Hankey / Tara Erraught, Christina Gansch / Elsa Benoit, John Daszak / Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Sarah Gilford, Mirjam Mesak Sa So So Sa Sa
07.12.19 08.12.19 08.12.19 14.12.19 14.12.19
19.00 11.00 18.00 11.00 18.00
Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr
Johannes Martin Kränzle, Annette Dasch, Franz Hawlata, Okka von der Damerau, Galeano Salas, Michael Nagy, Ulrich Reß, Sofia Fomina, Gerhard Polt, Eva Patricia Klosowski, Well-Brüder aus'm Biermoos, Jurij Diez Di Fr So Di Sa
31.12.19 03.01.20 05.01.20 07.01.20 11.01.20
18.00 18.00 18.00 19.00 19.00
Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr
In Kooperation mit der Welsh National Opera, Cardiff
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Bedřich Smetana DIE VERKAUFTE BRAUT Musikalische Leitung Tomáš Hanus Inszenierung David Bösch
Oliver Zwarg, Helena Zubanovich, Selene Zanetti, Kristof Klorek, Irmgard Vilsmaier, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Pavol Breslik, Günther Groissböck, Ulrich Reß, Mirjam Mesak, Oğulcan Yılmaz Fr So Mi Sa
10.01.20 12.01.20 15.01.20 18.01.20
19.00 18.00 19.00 19.00
Uhr Uhr Uhr Uhr
Ballett Partner des Bayerischen Staatsballetts
Roland Petit COPPÉLIA
Mit freundlicher Unterstützung
Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele e.V.
Georges Bizet CARMEN
Musik Léo Delibes Musikalische Leitung Anton Grishanin So Di Fr Sa
20.10.19 22.10.19 25.10.19 26.10.19
19.30 19.30 19.30 19.30
Uhr Premiere Uhr Uhr Uhr
Musikalische Leitung Asher Fisch Nach einer Produktion von Lina Wertmüller Callum Thorpe, Boris Prýgl, Matthew Polenzani, Alexander Vinogradov, Dean Power, Manuel Günther, Juliana Zara, Samantha Hankey, Varduhi Abrahamyan, Golda Schultz Fr 17.01.20 19.00 Uhr Mo 20.01.20 19.00 Uhr Fr 24.01.20 19.00 Uhr
MATINEE DER HEINZ-BOSL-STIFTUNG So 27.10.19 11.00 Uhr So 03.11.19 11.00 Uhr
Christopher Wheeldon ALICE IM WUNDERLAND Musikalische Leitung Myron Romanul Musik Joby Talbot Fr Mo Sa Di Sa
01.11.19 04.11.19 09.11.19 12.11.19 16.11.19
19.30 19.30 19.30 19.30 19.00
Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr
Koproduktion mit dem National Ballet of Canada beim Royal Ballet im Royal Opera House, London
Yuri Grigorovich SPARTACUS Musikalische Leitung Karen Durgaryan Musik Aram Chatschaturjan Fr 29.11.19 19.30 Uhr Mi 04.12.19 19.00 Uhr So 19.01.20 18.00 Uhr
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John Neumeier DER NUSSKNACKER Musikalische Leitung Robertas Šervenikas Musik Peter I. Tschaikowsky So Di Mi Fr Mo Mi So So Do
15.12.19 17.12.19 18.12.19 20.12.19 23.12.19 25.12.19 29.12.19 29.12.19 02.01.20
19.00 19.00 11.00 19.30 19.30 18.00 15.00 19.30 19.30
Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr
Konzert
THEMENKONZERTE Konzerte und Vorträge in Kooperation mit der Max-Planck-Gesellschaft
À JOUR - ZEITGENÖSSISCHE CHOREOGRAPHIEN (2019) CECIL HOTEL Choreographie Andrey Kaydanovskiy Soundtrack Dmitry Cheglakov DER TOD UND DAS MÄDCHEN Choreographie Edwaard Liang Musik Franz Schubert
1. THEMENKONZERT: JUGENDLICHER LEICHTSINN. WARUM SIND TEENAGER, WIE SIE SIND? Vortrag Prof. Dr. Ralph Hertwig (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin) Musik Carl Nielsen / Robert Schumann / Hans Abrahamsen Do 05.12.19 19.00 Uhr Verkehrszentrum des Deutschen Museums
SACRÉ Choreographie Yuka Oishi Musik Igor Strawinsky Fr 10.01.20 19.30 Uhr Prinzregententheater Sa 11.01.20 19.30 Uhr Prinzregententheater So 12.01.20 19.30 Uhr Prinzregententheater
2. THEMENKONZERT: VON QUANTEN UND ZWERGEN. EIN AUSFLUG IN DIE NANOWELT Vortrag Prof. Dr. Bettina Valeska Lotsch (Max-Planck-Institut für Festkörperforschung, Stuttgart) Musik Salvatore Sciarrino / Johann Sebastian Bach / Hans Abrahamsen So 08.12.19 19.00 Uhr Foyer der Versicherungskammer Bayern
3. THEMENKONZERT: WIE WIR LERNEN. NEUE EINBLICKE INS GEHIRN Vortrag Prof. Dr. Tobias Bonhoeffer (Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried) Musik Robert Schumann / Hans Abrahamsen Mo 09.12.19 19.00 Uhr Stiftung Internationale Jugendbibliothek in der Blutenburg
4. THEMENKONZERT: WENN NERVENZELLEN SICH MISSVERSTEHEN – BIOLOGISCHE URSACHEN VON AUTISMUS Vortrag Prof. Dr. Nils Brose (Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin, Göttingen) Musik Robert Schumann / Hans Abrahamsen Mi 11.12.19 19.00 Uhr Säulenhalle in der Alten Münze
5. THEMENKONZERT: WEGE AUS DER GEWALT – HOW TERRORISTS LEARN Vortrag Dr. Carolin Görzig (Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle/Saale) Musik Wolfgang Amadeus Mozart / Ernest Bloch / Hans Abrahamsen / Robert Schumann
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Fr 13.12.19 19.00 Uhr Akademie der Schönen Künste
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1. KAMMERKONZERT: 25 JAHRE SCHUMANN-QUARTETT MÜNCHEN So 27.10.19 11.00 Uhr Allerheiligen Hofkirche
Campus
2. KAMMERKONZERT: KAMMERMUSIK MIT HORN SPIELOPER / SPIELBALLETT So 24.11.19 11.00 Uhr Allerheiligen Hofkirche MIT ALICE INS WUNDERLAND
2. AKADEMIEKONZERT: THOMAS SØNDERGÅRD Musikalische Leitung Thomas Søndergård Violine Vilde Frang Mo 02.12.19 20.00 Uhr Di 03.12.19 20.00 Uhr
So 20.10.19 14.00 Uhr Gr. Ballettsaal So 27.10.19 14.00 Uhr Gr. Ballettsaal DER NUSSKNACKER So 01.12.19 14.00 Uhr Ballettprobenhaus So 15.12.19 14.00 Uhr Ballettprobenhaus HÄNSEL UND GRETEL
WEIHNACHTEN MIT OPERABRASS – LOBT GOTT, IHR CHRISTEN, ALLZUGLEICH
Sa 23.11.19 10.00 Uhr Gr. Probebühne Sa 30.11.19 10.00 Uhr Gr. Probebühne So 01.12.19 11.00 Uhr Gr. Probebühne
Sa 14.12.19 20.00 Uhr St. Michael
DIE VERKAUFTE BRAUT Mo 06.01.20 11.00 Uhr Gr. Probebühne
3. AKADEMIEKONZERT: VLADIMIR JUROWSKI
DIE ZAUBERFLÖTE
Musikalische Leitung Vladimir Jurowski Violine Isabelle Faust Viola Antoine Tamestit
Sa 18.01.20 10.00 Uhr Gr. Probebühne So 19.01.20 11.00 Uhr Gr. Probebühne
So 12.01.20 11.00 Uhr Mo 13.01.20 20.00 Uhr Di 14.01.20 20.00 Uhr
OPER.ÜBER.LEBEN Mi 18.12.19 18.45 Uhr Königssaal im Nationaltheater Mi 15.01.20 18.15 Uhr Königssaal im Nationaltheater
3. KAMMERKONZERT: GROSSE STREICHQUARTETTE So 19.01.20 11.00 Uhr Allerheiligen Hofkirche
SITZKISSENKONZERTE Mit freundlicher Unterstützung des Inner Circle der Bayerischen Staatsoper
Lied
DIE SPIELZEUGSCHACHTEL Sa 16.11.19 14.30 Uhr Parkett, Garderobe Sa 23.11.19 14.30 Uhr Parkett, Garderobe
PORTRÄTKONZERTE DES OPERNSTUDIOS
Mit freundlicher Unterstützung der Freunde des Nationaltheaters e.V.
Noa Beinart / Caspar Singh
FRANZISKA UND DIE WÖLFE
Fr 29.11.19 19.30 Uhr Künstlerhaus
Sa 18.01.20 14.30 Uhr Parkett, Garderobe Sa 25.01.20 14.30 Uhr Parkett, Garderobe
Juliana Zara / Markus Suihkonen So 15.12.19 18.00 Uhr Künstlerhaus Daria Proszek / Andres Agudelo Fr 24.01.20 19.30 Uhr Künstlerhaus
ENSEMBLE-LIEDERABEND Corinna Scheurle, Kevin Conners, Milan Siljanov Fr 10.01.20 19.00 Uhr Wernicke-Saal
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ARIENABEND DES OPERNSTUDIOS Musikalische Leitung Sarah Gilford Mirjam Mesak, Juliana Zara, Noa Beinart, Daria Proszek, Caspar Singh, Oğulcan Yılmaz, Markus Suihkonen, Andres Agudelo, George Vîrban, Christian Valle, Ewa Danilewska, Michael Pandya Sa 16.11.19 19.30 Uhr Cuvilliés-Theater
Extras PREMIERENMATINEEN DIE TOTE STADT So 10.11.19 11.00 Uhr
ATTACCA KONZERT
THE SNOW QUEEN So 15.12.19 11.00 Uhr
Musikalische Leitung Allan Bergius Solisten Sophie Neeb, Vincent Neeb
OPERNDIALOG
Sa 30.11.19 11.00 Uhr Prinzregententheater
DIE TOTE STADT So 01.12.19 10.00 Uhr Capriccio-Saal Mo 02.12.19 20.00 Uhr Capriccio-Saal
1. KAMMERKONZERT DER ORCHESTERAKADEMIE: UN:ERHÖRT III MONTAGSRUNDE Mo 20.01.20 19.30 Uhr Alte Pinakothek Hauptsponsor der Orchesterakademie
DIE TOTE STADT Mo 16.12.19 20.00 Uhr Capriccio-Saal THE SNOW QUEEN Mo 13.01.20 20.00 Uhr Capriccio-Saal
DIE UNMÖGLICHE ENZYKLOPÄDIE Nr. 49 Do 12.12.19 20.00 Uhr Wernicke-Saal Nr. 50 Do 16.01.20 20.00 Uhr Freunde-Foyer
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Klassik entspannt! Über 150 inspirierende Sender & Themenwelten zum Entspannen & Genießen. Mit dem Musikdienst Klassik Radio Select.
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02.10.19 11:47
Rßtzel rät Das Leben ist bekanntlich leichter, wenn einem ein Ratgeber sagt, was man tun soll. Deshalb schickt Max Joseph in dieser Spielzeit vom Schicksal geplagte Opernfiguren mit ihren Fragen zum Coach.
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Illustration Dr Julian Gravy
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Folge 1: die Ex-Freundin „Mein neuer Freund hängt noch an seiner Ex. Seine ganze Wohnung ist voll von altem Zeug von ihr. Ich habe das Gefühl, dass er sich gar nicht wirklich auf mich einlässt. Hat unsere Liebe überhaupt eine Chance?" Marietta, Brügge Liebe zweite Geige, ich kann gut verstehen, dass Sie unter der Situation leiden. Wer ist schon gern der Gurkensalat, an dem anstandshalber und langzahnig herumgenibbelt wird, während der Verspeiser in Wahrheit nach einem Leberwurstbrot lechzt? Je nach dem Füllstand Ihres Geduldsilos würde ich zwei unterschiedliche Vorgehensweisen empfehlen: Variante „Gänseflaum“ oder Variante „Abrissbirne“. Sind Sie trotz fortwährender Kränkung immer noch duldsam genug, diesen Mann unbedingt halten zu wollen, können Sie es mit schonender Umkonditionierung versuchen. Es kann ja dem niedlichsten Gänseküken passieren, dass es sich in der entscheidenden Liebesvergabe-Phase versehentlich an einen Laubsauger statt an seine Mutter bindet. Also könnte man, ein entsprechend pralles Sanftmutreservoir vorausgesetzt, auch einem Mann zugestehen, dass er sich in entscheidenden Liebesdingen ein bisschen verprägt hat. Schieben Sie ihn sachte in die richtige Richtung, indem Sie schrittweise alle Fotos, die er noch von seiner Ex hortet oder gar keck sichtbar aufgehängt hat, durch im Therapiesinn bearbeitete Exemplare austauschen. Sie benötigen dazu nur mittlere Photoshop-Skills, notfalls hilft die Volkshochschule: Morphen Sie mit dem Bildbearbeitungsprogramm ein Foto der Verflossenen, aber noch Beschmachteten mit einem von Ihnen zusammen, und drucken Sie alle Zwischenstufen aus. Tauschen Sie die Bilder nun im Wochenrhythmus, sodass Ihnen das Antlitz der Ex immer ähnlicher wird, aber gerade so
Text Anja Rützel
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langsam, dass dem Umzuprägenden die schleichende Veränderung gar nicht auffällt – wie bei einem sachgemäß durchgeführten Giftmord, bei dem über einen langen Zeitraum nur kleine Dosen verabreicht werden. Haben Sie stattdessen die Faxen dicke, keine Lust mehr, Ihren Freund regelmäßig bei seinem kalbsäugigen Schmachten zu überraschen, und schlicht keine Nerven mehr für langwierige Schonbehandlung, empfiehlt sich die Variante „Abrissbirne“. Bringen Sie sich dafür in Stimmung, indem Sie sich ein bis zwei Stunden lang das Video zu Wrecking Ball von Miley Cyrus in Dauerschleife anschauen. Zwicken Sie sich fest in den Bauch, um sich zusätzlich wild zu machen. Auch wenn die im Video gezeigten Demolage-Schaukeleien große Lust darauf machen, solchermaßen zerstörungswütig gepuscht endlich mit einer satten Wrestler-Arschbombe auf das windschiefe Ikea-Nachtkästchen zu springen, das Ihr Freund immer noch in sentimentalem Krämerreflex hütet, weil SIE darin früher mal Schneuztücher und Schrundensalbe aufbewahrte – tun Sie es nicht! Werden Sie nicht wirklich physisch handgreiflich. Lassen Sie Ihren aufgestachelten Zorn dafür in eine scheppernde Wutrede fließen, der dem Schmachtmolch nach all den verständnisvollen, in gewaltfreier Wispersprache formulierten Paargesprächen endlich einmal sagt, wo der Vorschlaghammer hängt. Stellen Sie ihn knallhart vor die „Sie-oder-ich!“-Wahl, bevor der Miley-Effekt langsam abklingt. Und fragen Sie sich in der Zwischenzeit, falls er herumlaviert und sich windet wie ein agiler Aal, einmal aufrichtig und
schonungslos selbst, ob es möglicherweise sein könnte, dass nicht nur Ihr Freund für eine andere schwärmt. Sondern ob nicht auch Sie seit geraumer Zeit Ihr Herz an einen Menschen hängen, der ein ganz anderer ist als der, mit dem Sie Tisch und Bett teilen. Weil Sie mit einem geschmirgelten Traumbild zusammen sind statt mit einem augenscheinlich hoffnungslos zauderigen Halbherzmann, der sich höchstwahrscheinlich nicht mehr ändern und niemals vorbehaltlos und taumelnd vor Leidenschaft für Sie entscheiden wird. Dann lassen Sie endlich Ihre Hoffnungen fahren, die schon so lange abreisebereit auf gepackten Koffern sitzen. Helfen Sie ihm vielleicht freundlicherweise noch, seinen Kram zusammenzupacken. Und passen Sie um Himmels Willen auf, dass er auch wirklich diesen ollen Nachttisch mitnimmt!
Anja Rützel lebt als freie Autorin in Berlin, schreibt für Spiegel Online über die Abgründe im deutschen Fernsehen und für Die Zeit über das Reisen. Im Oktober erscheint ihr nächstes Buch: eine Liebeserklärung an Take That. Mehr über den Illustrator auf S. 8
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02.10.19 11:48
Vorschau KILL YOUR DARLINGS № 2: Kämpfen Oksana Lyniv und Katie Mitchell Premiere Judith: Konzert für Orchester / Herzog Blaubarts Burg Michele Mariotti und Johannes Erath Premiere I masnadieri Ost vs. West: Das große Streitgespräch zwischen Frank Castorf und Hans Neuenfels
Hinter der Abbildung verbirgt sich ein Video! Mit ARTIVIVE kostenlos anschauen: itunes.apple.com/de/app und play.google.com/store/apps
Max Joseph № 2 der Spielzeit 2019 / 20 erscheint am 24. Januar 2020.
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Unverbindliche Darstellung aus Sicht des Illustrators
NEUE PROJEKTE IN VORBEREITUNG BOGENHAUSEN – HERZOGPARK – NEUHAUSEN – NYMPHENBURG – STARNBERGER SEE
WOHNEN, WO MÜNCHEN AM SCHÖNSTEN IST H-I-M VILLENBAU GMBH TEL. 089 600 88 700 WWW.HIM-VILLENBAU.DE
JOHANNIS 3 BERLIN REFERENZ
NONKONFORM SEIT 1999 EUROBODEN.DE
EUROBODEN ARCHITEKTURKULTUR