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Christoph Marthaler – ein persönliches Porträt

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SCHÖNE NEUE WELT?

SCHÖNE NEUE WELT?

DER GROSSZÜGIGE

Christoph Marthalers Bühnenwelten bestehen aus Krisen, verfehlten Versuchen, Einsamkeit, Lächerlichkeit und Hysterie. Aber auch aus großer Schönheit.

Unsere Autorin hat den Regisseur jahrelang begleitet und beschreibt, wie er die Dimensionen des Menschseins verhandelt. Ein persönliches Por trät.

Text Stefanie Carp Fotografien Johannes Kuczera Premiere Lear

Als der lange, glückliche Applaus nach der Premiere von Murx an der Berliner Volksbühne im Januar 1993 verebbte, hörte ich einen Zuschauer hinter mir sagen: „Genau so war’s. Woher kann dieser Schweizer das wissen?“ Der Zuschauer war der damals prominente Regisseur aus der ehemaligen DDR, B. K. Tragelehn. Wenn man eine zusammenfassende Eigenschaft als Lebens- und Kunsthaltung für Christoph Marthaler nennen will, wäre sie: Großzügigkeit. Die Großzügigkeit, hinzusehen, zu warten, auf seine Sängerinnen und Sänger, Spielerinnen und Spieler, zu beobachten, das andere und die anderen zu respektieren, hat es Marthaler in seiner Kunst immer wieder ermöglicht, wie ein Seismograph wundersame Kondensate von sozialen Erfahrungen, die nicht seine waren, zu erspüren und zu artikulieren.

Mit Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!, dessen Titel vom Schriftsteller Paul Scheerbart entliehen ist, hatte er mehreren Generationen der endlich mit dem westlichen Deutschland vereinigten Deutschen Demokratischen Republik ins Herz getroffen. Das Personal auf der Bühne waren Schweizer Performer einer aus der regelmäßigen Zusammenarbeit mit dem Regisseur geborenen Urfamilie wie Ueli Jäggi, Jürg Kienberger, Ruedi Häusermann und diejenigen aus dem Ensemble der Volksbühne, die schon lange an diesem Theater engagiert waren und viel Geschichte mitbrachten.

Christoph Marthaler hatte zugehört, sie erfinden lassen. Er hatte die für seine Arbeit typische Grundform eines Liederabends benutzt, in dem die Schicksalsgemeinschaft Vereinzelter an Einzeltischen sitzt in einer Art Asyl, in dem Teebeutel und Kuchen verteilt werden. Material des Abends war nur wenig Sprache, dafür viel Musik: deutsche Kunst- und Volkslieder, Arbeiterlieder, auch sogenannte Klavieranfälle, die in den virtuosesten Wahnsinn rauschten. Ein Satz wie: „Ein kleines Stückchen hätt’ ich gerne noch, nur ein winziges Stückchen“, wirkte da wie ein Emblem für das Lebensgefühl der vergangenen vierzig Jahre.

Der Raum war der mehrdeutige Wartesaal von Bühnenund Kostümbildnerin Anna Viebrock als Zustandsbeschreibung für eine Gesellschaft. Die Kostüme aus Netzhemden, C&A-Pullöverchen, Trainingshosen und Kassenbrillen wurden für die kommenden zehn Jahre als DDR-Retromode stilprägend auf deutschen Bühnen. Wirkmächtig hier der Augenblick, in dem Häusermann als Heizer (in der Volksbühne wurde zu dieser Zeit teilweise tatsächlich noch mit Öfen geheizt) das deutsche Arbeiterlied im Ofen verbrennt, dann erst zögernd, vorsichtig und schließlich überwältigend im ganzen Raum trauriger, euphorischer und extrem energetischer Klezmer erklingt, gespielt von den Darstellern. Es sind diese Bilder, diese Musik, mit denen schockartig die Geschichte aufblitzt, und wodurch es Christoph Marthaler gelingt, noch eine ganz andere Dimension hinter dem Alltag aufzumachen, die uns beunruhigt entlässt.

In Marthalers Inszenierung von Leoš Janáčeks Káťa Kabanová bei den Salzburger Festspielen (1998) gab es einen Moment im dritten Akt, nachdem Káťa ihr Geständnis gemacht hat und bevor sie sich umbringen wird, in dem alle handelnden Personen gleichzeitig auf die Bühnenrampe zugehen. Ein eindringliches Bild, das den Ablauf unterbricht. Es war ein Kollektiv der Toten, das uns Gegenwärtige ansah, als wollten sie uns sagen: So haben wir gelebt, und das Unglück, das jetzt kommt, haben wir nicht gewollt.

Auch in der Arbeit zum deutschen Gedenken Stunde Null oder die Kunst des Servierens von 1995 in Hamburg gab es die Momente, in denen westdeutsche Politiker ihre Reden nur in Wandmikrofone murmeln, aber in selbstmitleidiger Reue öffentlich Tränen vergießen und am Ende des Gedenkens in immer wieder einstürzenden Betten nicht schlafen können. Das Selbstgefällige, auch in Erinnerung an die westdeutsch dominierte neue Bundesrepublik, wurde an der Elbe zur Satire der Anmaßung, während in Berlin die Erinnerung an die zu Ende gegangene DDR eine absurde Tragödie der Vergeblichkeit war.

Es sind diese Bilder, diese Musik, mit denen schockartig die Geschichte aufblitzt, und wodurch es Christoph Marthaler gelingt, noch eine ganz andere Dimension hinter dem Alltag aufzumachen, die uns beunruhigt entlässt.

Mit den erwähnten Arbeiten wurde Christoph Marthaler in den 1990er Jahren als großer europäischer Künstler entdeckt. Über seine spezifische Bühnenwelt, über die große Musikalität und den skurrilen Humor seiner Arbeiten ist viel geschrieben und gesagt worden. Es ist eine Welt, nach der man süchtig werden kann und an der man teilhaben möchte. Dabei besteht sie vorwiegend aus Krisen, verfehlten Versuchen, Einsamkeit, Lächerlichkeit, Ungeschicklichkeiten und Hysterie. Aber sie besteht auch aus großer Schönheit, vor allem indem sie immer Musik wird. Es ist häufig der gemeinsame Gesang, der diese Schönheit und damit eine andere Dimension des Menschseins erzeugt. Denn dann beginnen die sprachlosen Autisten mit ihren Kassengestellen zu schweben, indem sie singen und einander so genau zuhören. Aus dem kollektiven Vorgang des Singens heraus entwickelt sich fast unmerklich Situatives und Szenisches.

Deshalb sind auch da, wo weder gesungen noch ein Instrument gespielt wird, Christoph Marthalers Abende in jeder Sekunde eine musikalische Komposition. Sie zeigen oder intonieren Zustände. Erzählte Handlung gibt es nur selten, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt. Im Laufe der Zeit haben sich naturgemäß die Stoffe und das Personal seiner Arbeiten verändert. Die Komposition – die Partitur aus Bewegungen, Tönen, Abläufen als äußerste Beherrschung von Zeit, Rhythmus und Ausdruck – hat sich perfektioniert, sodass Marthaler immer Musiktheater inszeniert, auch dort, wo das Material keine Oper ist.

Seine Kreationen waren von Anfang an interdisziplinär. Er gehört, zumindest was das deutsche Sprech- und Musik theater angeht, zu den Erfindern des Interdisziplinären. Er hat nie an die Sparte und deren Abgrenzung geglaubt. Er hat das Schauspiel mit Musikern, Sängerinnen und Tänzern unterlaufen. Umgekehrt unterläuft er die Oper mit den Performern und Spezialisten der Bewegung. Als er am Hamburger Schauspielhaus Goethes Faust – Wurzel aus 1+2 (1993) inszenierte, gab es vier Pianisten; sein Traum waren eine an den Wänden entlangführende Tastatur und 14 Pianisten. In den großen Musiktheaterprojekten, in denen er mit Chor, Orchester, Sängern, Performerinnen und unterschiedlichem musikalischen Material arbeiten konnte, ohne der Handlung einer Oper folgen zu müssen, entwickelt dieser Künstler die größte Freiheit des Ausdrucks.

Es gibt immer etwas Entlastendes in den Ausdrucksformen von Christoph Marthaler. Das liegt nicht in der Musikalität allein begründet, sondern in jener großzügigen Haltung zur Welt und den Menschen, die eine feine, subversive Energie in allem birgt, das für wichtig und unumgänglich gehalten wird. Diese heiter-anarchische Widerständigkeit verweigert sich dem Ernst und Ernstgenommenen sowie den Anmaßungen der Hochkultur.

Ein Teil der Ästhetik und des Menschendaseins bei Christoph Marthaler hat immer damit zu tun, wie man Auswege finden könnte, um sich den Ansprüchen einer Aufgabe, eines Textes, eines Intendanten zu entziehen. Da ist immer ein bisschen Schulerinnerung mit im Spiel mit Schummeln und Schwänzen. Dementsprechend sind Marthalers Figuren meistens Verlierer voller nach innen gewandter und von Zeit zu Zeit explodierender Anarchie, die große Wünsche und Sehnsüchte haben, aber bei einem Annäherungsversuch an einen anderen Menschen kläglich scheitern, hinfallen oder einen ganz peinlichen Witz erzählen. Diese Schicksalsgemeinschaften der Verweigerer und Versager waren in den beginnenden 1990er Jahren eine wichtige Antwort auf die neoliberalen Erfolgsdiktate.

Als Christoph Marthaler als Regisseur entdeckt wurde, hatten Werte wie Stärke, Geschwindigkeit, Konkurrenz, Wachstum und Konsum das Denken erfasst und wurden wenig hinterfragte Ansprüche. Wer wollte schon ein Loser sein? Da waren die in Asyl, Wartehallen oder Kneipen wohnenden Exzentriker, die unermüdlich etwas versuchten, das nicht gelang, eine entlastende und auch provozierende Antwort. Ein Faust, der nur noch die Vokale seiner Texte stottert und sich mit Mephisto zusammen an seine Geschichte erinnern muss oder Anton Tschechows in die Jahre gekommenen drei Schwestern, die eine Treppe immer nur hinuntergehen, waren nicht die Bühnenfiguren, die man erwartete in einer Zeit, in der Theater und Oper noch als bildungsbürgerliche Institutionen des Guten und Schönen galten. Die Inhalte und Texte des Repertoires zu dekonstruieren oder ein sogenanntes Projekt frei zu erfinden, waren damals neue Haltungen, die manchmal auch Unmut auslösten. Ich erinnere mich an einige wenige, aber dafür hasserfüllte Buhrufe bei der Premiere von Stunde Null, weil die Verbindung eines ernsten Themas wie das der deutschen Nachkriegspolitik und der Schuldverdrängung mit Satire und Komik manchen zu respektlos erschien. Unsere Wahrnehmungen und unser Theaterbegriff haben sich erweitert. Der inzwischen mit Preisen und Auszeichnungen überhäufte Christoph Marthaler ist sich über die Jahrzehnte treu geblieben. Die resignierten Verliererinnen und Verlierer einer Post-DDR-Gesellschaft, die einem Aufbruch hinterhersingen, dessen utopischer Gehalt schon zerstört war, bevor er begann, die glatt gebügelten westdeutschen Nachkriegspolitiker, die andauernd etwas einweihen, die in einem Sanatorium stillgestellten, sich langweilenden Europa- Politikerinnen und -Politiker (Il viaggio a Reims, Opernhaus Zürich, 2015), die arbeitslosen deutschen Cowboys, die einen stillgelegten Vergnügungspark nach den Nuller Jahren wiederzubeleben versuchen (Hallelujah [Ein Reservat], Volksbühne Berlin, 2016), die brutal prekären Angestellten einer Pariser Freizeitzone in Wozzeck (Opéra national de Paris, 2017) oder die hilflosen Beamten einer Einbürgerungsbehörde (Tiefer Schweb, Münchner Kammerspiele, 2017): Sie alle sind vom Ende der 1980er Jahre bis heute die gleichen Vergeblichkeitshelden, in ihrer Hingabe an das Leben, das immer ein Missgeschick ist, unendlich komisch und berührend. Zusammen sind sie in der Musik. Deshalb bleiben die Sprachversuche, die abgebrochenen Sätze, die verunglückten Gesten, die unbeantworteten Sprechanfälle oder hysterischen Wutausbrüche so lange unerlöst, bis sie Gesang oder ein musikalischer Zustand werden dürfen.

In den 1980er Jahren komponierte und arrangierte Christoph Marthaler für andere Regisseure an vielen großen Häusern des deutschsprachigen Theaters Musik, für die ein schwebender Zustand und außergewöhnliche Instrumentierungen charakteristisch waren. Nebenher war er auch damals schon in der Freien Szene der Schweiz Regisseur, der mit Schauspielerinnen, Sängern wie Dodo Hug, Musikern und anderen Spezialistinnen seine von Kurt Schwitters (Ribble, Bobble Pimlico) und von Erik Satie (Indeed. Ein Interieur sowie Blanc et Immobile) inspirierten, immer anarchischen Projekte erfand. Die dadaistische Haltung, die damals in den Zürcher Jugendrevolten weit verbreitet war, ist als spezielle Sub version in Marthalers Arbeiten bis heute präsent.

Aufgewachsen ist Christoph Marthaler in Erlenbach am Zürichsee. Er hat in Zürich Oboe und Blockflöte studiert.

Einige Jahre lebte er in Paris, wo er die vom Theaterpädagogen Jacques Lecoq gegründete École internationale de théâtre besuchte. Die französische Hauptstadt ist dem Schweizer Regisseur immer eine Sehnsucht geblieben, die er sich viel später im Leben dann auch für einige Jahre erfüllt hat. Als Ende der 1980er Jahre der Direktor Frank Baumbauer und sein Team ihn einluden, am Theater Basel zu arbeiten, zog er von Zürich nach Basel in eine kleine Wohnung, die über dem Rhein, sehr nah am Wasser schwebte, und in der sich in langen, frohen Nächten viel schöner Unsinn ausgedacht wurde.

Ankunft Badischer Bahnhof hieß die erschütternde und zugleich schöne szenisch-musikalische Installation, die Marthaler im November 1988, am Jahrestag der Nazipogrome realisierte, um der jüdischen Geflüchteten zu gedenken, die an dem Grenzbahnhof häufig von den Schweizer Behörden wieder nach Nazideutschland zurückgeschickt wurden. Aus den Gepäckfächern wisperten Texte, aus den Lautsprechern auf den Bahnsteigen erklangen Bruchstücke von Schuberts Winterreise, an den Wänden kauerten verlorene Menschen, die Botschaften auf die Kacheln kritzelten, und irgendwann kam das Geschehen in einer unmerklichen Gesamtbewegung im Bahnhofsbuffet zusammen und wurde Musik.

Als Christoph Marthaler gefragt wurde, am Theater Basel Die Affäre Rue de Lourcine von Eugène Labiche zu inszenieren, zögerte er. Es wurde der Beginn der Zusammenarbeit mit Anna Viebrock, die für ihn seitdem eine enge und inspirierende künstlerische Partnerin ist. Viebrocks Bühnen enthalten immer mehr als nur eine Wirklichkeit. Sie sind geträumte Realräume, in denen es Architekturen, Mechaniken, elektrische Geräte gibt, die ein irritierendes Eigenleben führen: Heizungen, Signale, Fahrstühle, Leitungen. In der Affäre Rue de Lourcine war es ein Wasserboiler, aus dem ein Männerchor sang, den aber nur die beiden im Restalkohol der vergangenen Nacht verirrten männlichen Protagonisten hörten. Und in der Inszenierung des Faust-Fragments von Fernando Pessoa (1992), in dem mehrere Pessoa-gleiche Melancholiker in einem Kontor und einer Bar ihr Leben verträumten, unter ihnen André Jung und Josef Ostendorf, die neben den

Die Sprachversuche, die abgebrochenen Sätze, die unbeantworteten Sprechanfälle oder hysterischen Wutausbrüche bleiben so lange unerlöst, bis sie Gesang oder ein musikalischer Zustand werden dürfen.

Schweizern Ueli Jäggi und Jürg Kienberger zu zentralen Spielern der sogenannten Marthaler-Familie wurden, klimpert ein Klavier irgendwo in einem entfernen anderen Raum eine Fado-Melodie. Diese Männermaschinen, die immer etwas infantil sind, sich immer etwas fürchten, besonders vor Frauen, wurden ein wichtiges, mit viel Empirie aufgeladenes Element.

„Bald wird die Oper ihn entdecken, und dann haben wir ihn für immer verloren“, befürchtete Frank Baumbauer. Die Oper kam schon 1994 in Gestalt des Dirigenten und damaligen musikalischen Leiters der Oper Frankfurt: Sylvain Cambreling. Debussys Pelléas et Mélisande schien wie für Christoph Marthaler und Anna Viebrock geschrieben zu sein. Mit Cambreling und dem Klangforum Wien erfand Christoph Marthaler außerdem die Operette neu. Pariser Leben (1998) von Jacques Offenbach war musikalischer, sinnlicher und überbordend schöner Wahnsinn. Gérard Mortier, der für viele Jahre enger Freund und künstlerischer Partner wurde, lud Marthaler an die Brüsseler Oper La Monnaie und zu den Salzburger Festspielen ein. Für Salzburg hatte Mortier ihm Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire und Olivier Messiaens Quatuor pour la fin du temps vorgeschlagen. Eine Gruppe von Pierrots tun alltägliche Dinge, räumen auf, reparieren dies und jenes, müssen ihre Bedürfnisse verbergen und hören im zweiten Teil des Abends der Musik von Messiaen zu, so ausdrucksstark, dass man es nicht vergisst. Besonders im Musiktheater ist Marthaler und Viebrock der Kontrast gelungen zwischen dem „Kraftwerk der Gefühle“, wie Alexander Kluge das Ereignis Oper bezeichnete, der Dramatik der Musik und der Geschichte sowie der Schäbigkeit einer Realität, auf deren empirischen Boden sie die Oper stellen. Sie zeigten Fidelio in Frankfurt (1997) in einer deutschen Behörde, die mindestens so bedrückend war wie ein Kerker, die bereits erwähnte Salzburger Inszenierung von Káťa Kabanová im Ambiente einer Plattenbausiedlung, sie verlegten in der Opéra Garnier in Paris die Festszene bei Violetta aus La traviata in die Zuschauergarderobe, in der Garderobenmarken statt Champagnergläser in die Luft gehalten wurden.

Marthalers Großzügigkeit machte auch andere großzügig. Jede und jeder durfte sich die Zeit nehmen, Fehler zu machen, eigenen Ausdruck zu behaupten. Es entstand eine künstlerisch intensive Gemeinschaft mit dem Ensemble und den bemerkenswerten jungen Künstlern Stefan Pucher und Falk Richter sowie der Tänzerin Meg Stuart und den vorbeikommenden Gästen Frank Castorf und Christoph Schlingensief. Dem alten Schauspielhaus Zürich wurde eine ehemalige Industriehalle hinzugefügt, die „Schiffbau“ getauft und ein eigenes neues Reich der Freiheit wurde. Trotz vieler Auszeichnungen für die Kunst passte den Zürcher Politikern die neue und anarchische Ausrichtung des Hauses nicht. Der Streitigkeiten müde brach Christoph Marthaler diese lustigste aller Intendanzen vorzeitig ab. Nach dem Zürcher Abenteuer veränderte sich die sogenannte Marthaler-Familie, die sich in Wirklichkeit kontinuierlich erneuert hat. Einige gingen ihre eigenen Wege, einige sind gestorben, einige wollten in der Schweiz bleiben. Christoph Marthaler ging nach Paris, wurde Vater, heiratete und arbeitete weiter.

Hat sich die Marthaler-Welt verändert? Die Innenräume sind jetzt häufiger ein Sanatorium und kein Asyl. Aber auch in der gebrochenen Eleganz sind die Menschen meist sozial angeschlagen und selten selbstbewusst. Ein ziemlich belebtes Zwischenreich zwischen Lebenden und schon Toten zeigte uns Christoph Marthaler in seiner jüngsten Arbeit am Opernhaus Zürich in Orphée et Euridice. Das Personal der Unterwelt bilden gut gekleidete Angestellte und schöne Frauen, die unmerklichen Zeichen folgend eine rätselhafte Welt herstellen. Wenn Christoph Marthaler als Nächstes an der Bayerischen Staatsoper Lear von Aribert Reimann inszeniert, wird er sich auf den inneren Zustand des Lear, von dem die Musik erzählt, konzentrieren, statt auf die Intrigen der Handlung. Ihn werden das Widersprüchliche und die Ängste eines Lear stärker interessieren als das Machtaffine. Der Zustand von König Lear ist nicht der Aufstieg, sondern der Abstieg von der Macht und der Tod. Er wird sich also den Fehlern von Lear widmen, den Schwächen und allem Verlorenen. Als großzügiger Beobachter.

CHRISTOPH MARTHALER, geboren in Erlenbach bei Zürich, wurde 1993 mit seiner Inszenierung Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! auf den deutschen Bühnen bekannt. Am Theater Basel folgten die Musiktheaterprojekte The Unanswered Question und 20th Century Blues. Von 2002 bis 2004 war er Intendant des Schauspielhauses Zürich, das in dieser Zeit zweimal zum Theater des Jahres gewählt wurde. Neben vielen weiteren seiner Inszenierungen wurden die Abende Das Theater mit dem Waldhaus und Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Marthaler inszenierte u. a. Tristan und Isolde bei den Bayreuther Festspielen, Les Contes d’Hoffmann am Teatro Real in Madrid und Lulu an der Hamburgischen Staatsoper. Letztere Produktion erhielt die Auszeichnung „Performance of the Year“ und den Theaterpreis Der Faust. Bei der Ruhrtriennale widmete er sich 2018 Charles Ives’ Universe, Incomplete. Zuletzt inszenierte er Orphée et Euridice am Opernhaus Zürich. An der Bayerischen Staatsoper folgt nun sein Hausdebüt mit Aribert Reimanns Lear.

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