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Man muss irgendwann das Zutrauen zu seiner eigenen Sprache finden

Verändert die Pandemie die Arbeit des Komponierens? Aribert Reimann und Miroslav Srnka über geistige Quarantäne, Ruhe für neue Gedanken und die Frage, wann man sich über Grenzen werfen muss.

Interview Benedikt von Bernstorff Illustrationen Juliane Noll Premiere Lear, Uraufführung Singularity

MAX JOSEPH: Herr Reimann, Herr Srnka, Menschen, die keine Opern oder Streichquartette schreiben, stellen sich das Komponieren vielleicht als eine eher einsame Tätigkeit vor oder jedenfalls als einen Prozess, in dem das Alleinsein produktiv gemacht wird. Haben Sie einen Rhythmus zwischen Rückzug und Welterleben?

ARIBERT REIMANN: In der Zeit, als ich noch sehr viele Konzerte als Pianist mit Sängern gespielt habe, sehr viel gereist bin und unterrichtet habe, habe ich mir die Lehrverpflichtung immer kursweise organisiert, um während des Komponierens nicht unterrichten zu müssen. Man lebt tatsächlich total zurückgezogen, wenn man arbeitet, vor allem, wenn man eine Oper schreibt, Miroslav wird das kennen. Die Arbeit an einer Oper erstreckt sich immer mindestens über zwei Jahre. Als ich den Lear oder auch die Medea schrieb, bin ich spätestens im zweiten Jahr nirgendwo mehr hingegangen: kein Theater, kein Konzert, nichts. Jede Reise war furchtbar. Das Interessante ist, dass man auch mit den Figuren lebt. Ich befinde mich beim Komponieren dauernd auf der Bühne, in den Menschen oder unten im Orchestergraben. Gerade wenn man eine Oper schreibt, muss man wirklich jeden Tag dranbleiben.

MIROSLAV SRNKA: Bei mir ist das nicht nur bei einer Oper so. Ich mag es einfach, täglich zu arbeiten, täglich zu komponieren, unabhängig von dem, was ich außerdem zu tun habe. Sonst entsteht bei mir eine Art von Überdruck, und ich kann mich auch auf andere Dinge nicht konzentrieren. Wie Aribert sagt: Bei den größeren Sachen muss man sich total zurückziehen, weil so vieles im Denken gleichzeitig da sein und sich miteinander vermischen können muss. Eine ungeschickte Unterbrechung, da genügen schon Minuten, kann dazu führen, dass man eine ganze Woche verliert. In der Zeit von Handys und E-Mail wird es allerdings immer schwieriger, einen solchen Rückzug überhaupt konsequent durchzuhalten.

MJ:Wie erleben Sie vor diesem Hintergrund die aktuelle Situation, in der von allen Menschen ein radikaler Rückzug aus der sozialen Welt gefordert wird?

AR: Dieser Corona-Zustand verändert die Arbeit des Komponierens eigentlich nicht. Viel schlimmer ist es für unsere Interpreten. Uns Komponisten ist diese Zeit des Rückzugs nicht fremd. Aber auch für uns ist natürlich schrecklich, dass wir keine Aufführungen mehr haben. Mir sind sechs Premieren und ebenso viele Konzertaufführungen durch Corona weggebrochen. Der Arbeitsprozess selbst jedoch spielt sich immer zu Hause am Schreibtisch ab, weit weg von allem anderen.

MS: In einem absurden Sinne entspricht der Lockdown- Zustand tatsächlich einer typischen Komponistenzeit.

MJ: Das Phänomen der Quarantäne war Ihnen also auch schon vor der Pandemie vertraut.

MS: Wir nehmen gelegentlich freiwillig eine Quarantäne, eine geistige Quarantäne, in Anspruch. Beim ersten Lockdown gab es auf einmal diese unglaubliche Ruhe zum intensiven neuen Denken. Plötzlich war klar, dass ein Abschnitt zu Ende ist und wir überlegen müssen, wie es danach sein wird.

MJ: Herr Srnka, Sie haben eine Kompositionsprofessur in Köln. Wie erleben Sie das Unterrichten in dieser Zeit?

MS: Es ist eine Art von Erfrischung und der permanente Versuch, die Zusammenkunft mit den Studierenden auch in der neuen Zoom-Realität aufrechtzuerhalten. Die Masterstudierenden kommen zum Beispiel nur für zwei Jahre zu uns. Sie erleben jetzt wahrscheinlich mehr als die Hälfte ihrer Studienzeit im Lockdown. Diese Digital Natives haben so viel mehr Grund und auch Gelegenheit, wirklich alle digitalen Medien in ihre Konzepte von Anfang an einzuarbeiten. Es ist, als ob dies schon vorher lange in der Luft lag, aber erst jetzt zu einem schnellen und allgemeinen Paradigmenwechsel im Komponieren führt. Für die Zukunft könnte diese Umstellung eine tiefgreifende Veränderung der Institutionen verursachen.

MJ: Ihre neue Oper Singularity, Herr Srnka, handelt explizit von neuen Kommunikationstechniken und auch von dem Versuch, Kontakt zu weit entfernten Menschen herzustellen. Herr Reimann, Ihr Lear basiert, wie viele Ihrer Opern, auf einem Stoff mit einer langen literarischen Tradition. Ist Ihnen der Bezug zur Gegenwart dennoch wichtig?

AR: Ja, immer. Alle meine Opern haben einen Zeitbezug. Melusine ist die Vorkämpferin der Natur. Bei der Uraufführung 1971 in Schwetzingen wurden mein Librettist Claus Henneberg und ich gefragt: „Wen interessiert denn überhaupt die Natur?“ Das sieht man heute natürlich anders. Bei Troades war es mein Wunsch, einmal eine Oper gegen den Krieg und für das Überleben zu schreiben. Ich musste das einfach machen, weil ich als Kind den Krieg und diese ganze Flüchtlingssituation so hautnah erlebt habe. Das sind immer Themen, die eine geistige und dann auch eine musikalische Auseinandersetzung fordern. Ich kann nicht ohne den Bezug zu heute eine Oper komponieren. Und Figuren wie Lear gibt es natürlich immer. Die Geschichte kann genauso gut heute spielen: jemand, der verjagt und enteignet wird und schließlich überhaupt nichts mehr hat. Gerade das übersteigerte Machtbewusstsein, die Annahme, dass man die Macht ewig halten und man sich immer durchsetzen kann, ist ein Irrtum.

MJ: Herr Srnka, könnten Sie sich auch vorstellen, ein Stück von Shakespeare zu vertonen?

MS: Was mit dem Lear passiert ist, ist ein absoluter Glücksfall. Die Musik ist mit dem Libretto zu einem Stück aus einem Guss geworden, das seine Gültigkeit über die Jahrzehnte bewahrt hat. Durch die regelmäßige Rhythmik und die langen Perioden wird es aus meiner Sicht syntaktisch immer schwieriger, einen originalen Text von Shakespeare in die neue Musik einzuarbeiten. Dagegen ist beispielsweise Emily Dickinson mit ihren oft nur aus wenigen Worten bestehenden Texten zu einer Art Lieblingsdichterin der zeitgenössischen Musik geworden. Inhaltlich jedoch ist Shakespeare ein Autor, der Komponistinnen und Komponisten nicht schlafen lässt. Einen einzelnen Satz von ihm, der in etwa so lang ist wie ein ganzes Gedicht von Dickinson, habe ich vor zwei Jahren in das Stück Speed of Truth eingearbeitet, das ich für das Symphonieorchester und den Chor des Bayerischen Rundfunks, Jörg Widmann und Susanna Mälkki geschrieben habe, mit großer Freude.

MJ: Vor dem Hintergrund der Pandemie kommen einem andererseits Stoffe, die man vor zwei Jahren behandelt hat, historisch vor und dann auf ganz erstaunliche Weise auch wieder aktuell, wie es bei Singularity der Fall ist.

MS: Wir hatten da großes Glück. Wir wollten eine Oper über das Thema der digitalen Kommunikation schreiben, die eine ganz neue Art von Aufmerksamkeit und Kontakt ermöglicht. Wir wollten diese Art des Doppelgängerischen zwischen dem physischen, dem herkömmlichen, unmittelbar verbalen Austausch und dem digitalen Austausch zu einem Opernthema machen. Als wir die Entscheidung trafen, ahnten wir noch überhaupt nicht, wie aktuell das Thema durch die Pandemie werden würde und dass diese Art einer von physischer Präsenz entkoppelten Kommunikation jetzt eigentlich in der ganzen Welt gang und gäbe ist.

MJ: Wie fängt man an, wenn man einen so gewaltigen Stoff wie den Lear vertont? Braucht man so etwas wie eine Klangvision, bevor man beginnen kann?

„In einem absurden Sinne entspricht der Lockdown-Zustand einer typischen Komponistenzeit. Wir nehmen gelegentlich freiwillig eine Quarantäne in Anspruch, eine geistige.“ Miroslav Srnka

AR: Man braucht eher einen Schlüssel zu der Frage, warum ein Stück überhaupt nach Musik verlangt. Und diese Frage habe ich mir bei diesem Riesenwerk von Shakespeare sofort gestellt. Wie fange ich mit dem Stück an? Die Oper beginnt ohne Orchester. Lear sagt den Satz, der ihm dann zum Verhängnis wird: „Wir haben euch hierher befohlen, um unser Reich vor euren Augen unter unseren Töchtern aufzuteilen.“ Sofort danach setzt das Orchester ein, und seine Reaktion darauf ist: „Ach, dieses Verlangen nach Schlaf“. Er hat den ersten Satz in einer Art Absence gesagt und nicht gewusst, was er mit ihm anrichtet. Dann baut sich die Musik um ihn herum wie ein Gitter und entlässt ihn nicht mehr. Das war für mich der Schlüssel.

MJ: Herr Srnka, gab es eine ähnliche Initialzündung für Singularity?

MS: Der Ursprung für die Musik liegt in einer langjährigen Recherche über das Modulartige in der digitalen Konversation. Es handelt sich um ganz kurze, in sich geschlossene Einheiten, die man durch die Aneinanderreihung zu einer größeren musikalischen Form machen kann. Das heißt aber auch, dass das Zeitgefühl für eine Phrase eigentlich immer an diesem Modul hängt und dann ausgetauscht wird durch etwas vollkommen anderes. In Singularity gibt es vier Charaktere, die jeweils durch zwei Sänger dargestellt werden, von denen der eine Sänger im „normalen“ akustischen und der zweite im digitalen Sinne kommuniziert. Zwischen diesen Figuren findet ein rasender Austausch von Mitteilungen statt, die untereinander zunächst eigentlich keinen Bezug haben. Das ist ein Bild für die Isolation in der Digitalisierung, wie in einem Chat, in dem jeder in seinem eigenen Duktus bleibt und es zu keinem wahren Austausch in der Konversation kommt. Dem entspricht zu Beginn die Form der Oper. In der Zeit, in der die Personen gemeinsam im „Lockdown“ sind, verschmelzen nach und nach die unterschiedlichen Ebenen der digitalen und akustischen Kommunikation, bis sie zu einem gemeinsamen Ausdruck kommen.

MJ: Herr Reimann, haben Sie, nachdem Sie den Anfang gefunden hatten, ohne Unterbrechung weiterkomponieren können, oder gab es im Entstehungsprozess Krisen?

AR: Es gibt im Lear die Szene mit dem Sturm, die für mich zu einem großen Problem wurde. Ich hatte mir Skizzen gemacht, aber als ich schließlich zu der Szene kam, passten sie überhaupt nicht mehr. Da war die Frage: Wie komme ich in diesen Sturm hinein? Der Sturm ist im Lear ja kein Naturereignis. Er kommt aus dem Inneren Lears, geht in die Natur und kommt wieder auf ihn zurück. Alles, was ich vorher gemacht hatte, funktionierte nicht mehr. Das waren drei furchtbare Wochen, in denen ich das Gefühl hatte, nicht mehr weiterzukommen. Dann kam ich auf die Idee, dass ich den Sturm wieder in einer Reaktion suchen muss, und mir fiel der Satz ein, den Lear zu seinem Gefolge sagt: „Was steht ihr da und glotzt.“ In dem Moment hörte ich den tiefsten Ton des Sturms. Das war der Auslöser, denn Lear hat jetzt niemanden mehr, der an seiner Seite steht. Zu meiner Konzeption gehörte vorher bereits eine zwei mal 24-tönige Reihe. Aus ihr baute ich den Sturm auf.

MJ: In der Uraufführung des Lear verkörperte Dietrich Fischer-Dieskau die Hauptfigur, in der Neuproduktion an der Bayerischen Staatsoper wird Christian Gerhaher die Partie übernehmen. In der Uraufführung Ihrer Oper South Pole, Herr Srnka, war Thomas Hampson zu erleben. Es ist doch auffällig, dass es sich in all diesen Fällen um bedeutende Liedsänger handelt.

MS: Es ist kein Zufall, dass Liedsänger sehr oft diejenigen sind, die auf den Opernbühnen die neuen Werke besonders eindrücklich zur Uraufführung bringen. Die aktuelle Musik fordert eine Intimität in der Arbeit mit der Stimme, die im Lied ihre Quelle hat und gleichzeitig in dem zeitgenössischen Gestus und der zeitgenössischen Technik zum Vorschein kommt.

MJ: Andererseits hat man in der Musikgeschichte lange eine Polarität zwischen der kleinen Form des Liedes und der großen Form der Oper gesehen. Die großen Opernkomponisten waren im 19. Jahrhundert im Regelfall keine bedeutenden Liedkomponisten und umgekehrt. Herr Reimann, hat für Sie dieser Gegensatz nie eine Rolle gespielt?

AR: Eigentlich nicht. Ich habe bereits als Kind 1946 im Jasager von Bertolt Brecht und Kurt Weill auf der Opernbühne gestanden. Und dann hatte ich das Gefühl: Irgendwann kommst du dorthin zurück, entweder als Sänger oder als Komponist. Durch die Arbeit mit den Studenten meiner Mutter, die eine Gesangsklasse an der Hochschule hatte, habe ich sehr viel Opern gespielt. Und am Tag nach meinem Abitur wurde ich Korrepetitor am damals neu eröffneten Studio der Deutschen Oper Berlin. Andererseits habe ich von früh an als Liedbegleiter mit unzähligen Sängern gearbeitet.

MJ: Gab es bei Ihnen, Herr Srnka, auch eine so frühe Prägung?

MS: Im Vergleich zu Aribert komme ich aus einer absolut unmusikalischen Familie. Ich habe zu Hause von meinen Eltern nie einen Ton gehört. Es hat sich irgendwie ergeben, dass ich, seit ich mich erinnern kann, trotzdem eine gewisse Affinität für die Musik entwickelt habe.

MJ: Ich habe gelesen, dass Sie eigentlich ausschließlich mit tschechischer Musik aufgewachsen sind.

MS: Das habe ich nicht als eine Begrenzung empfunden, weil ich ja nicht wusste, dass es etwas anderes gibt. Damals gab es auch eine gewisse kulturelle Blockade, die sehr schwer zu durchdringen war, wenn man nicht durch Kontakte oder den familiären Hintergrund einen Zugang hatte. Ich habe meine freie Zeit als Schüler in der Bibliothek verbracht und dort massenweise Schallplatten angehört. Ob Leoš Janáček oder die tschechische Avantgarde der 1960er Jahre, ich habe alles ohne einen Wegweiser und unsortiert verschlungen. Deswegen war mein Weg zum Komponieren viel länger als der von Aribert.

MJ: Herr Reimann, als Sie mit dem Komponieren begannen, gab es Strömungen wie den Serialismus, die in bestimmten musikalischen Milieus sehr dominant waren. Musste man sich innerhalb dieser Strömungen als junger Komponist positionieren, oder hatten Sie immer das Gefühl, machen zu können, was Sie wollten?

AR: Es gab damals natürlich eine gewisse Gegenströmung. Ich war in meinem ersten Semester 1956 vier Wochen bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik. Die dort präsentierten Formen haben mich alle wahnsinnig interessiert. Aber ich kam zurück und dachte: Ich kann mir keine fremden Hüte aufsetzen. Ich kann nur so komponieren, wie ich will, und nicht so, wie die anderen wollen. Dieses Negativerlebnis war also für mich eigentlich sehr positiv. Und dann hatte ich das große Glück, mit Boris Blacher einen fantastischen Kompositionslehrer zu haben. Er hat mir immer wieder gesagt: „Sie müssen Ihre eigene Sprache entwickeln, um sich durchzusetzen. Diese eigene Sprache gehört nur Ihnen, und die müssen Sie sprechen. Von allem anderen darf man sich nicht irritieren lassen.“ Das war das Geheimnis von seinem pädagogischen Talent, dass er immer genau wusste, welchen Weg der Student einmal gehen wird. Er hat jeden anders unterrichtet. Man muss einfach irgendwann das Zutrauen zu seiner eigenen Sprache finden. Das dauert, das ging auch bei mir nicht von heute auf morgen, und da gab es auch Unsicherheiten.

MS: Es wäre mein Traum, so unterrichten zu können, wie Aribert es über Boris Blacher sagt. Ich sehe bei den Studierenden heutzutage eine absolute Offenheit, alles liegt auf dem Tisch. Manchmal ist es sogar zu viel, als dass man überhaupt wählen könnte. Vielleicht fehlt auch eine Gegenkraft, gegen die man sich durchsetzen muss. Diese Gegenkraft kann bei dem Prozess helfen, in dem man sich als junge Komponistin oder als junger Komponist selbst erkennt. Manche Studierende von heute gehen mit dem Eigenen schon sehr souverän und selbstbewusst um. Aber zugleich erfahren sie aus erster Hand, was alles in den sozialen Medien gerade die meisten Klicks und Likes bringt. Diese Geschwindigkeitsveränderung der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit steht in einem starken Kontrast zu der Langsamkeit einer kompositorischen Entwicklung.

MJ: Aber wie war das bei Ihnen selbst, Herr Srnka? War es vielleicht auch ein Vorteil, dass Sie aus einem nicht so stark musikalisch geprägten Umfeld kamen?

MS: In gewisser Weise schon. Wenn man naiv und von der Umgebung geschützt ist, weil sie politisch und kulturell abgetrennt ist, gibt es auch einen freien Raum für die eigene Entwicklung. Doch am Ende meines Studiums in Prag hatte ich das Gefühl, mit jedem in der tschechischen Szene in einem gewissen Konflikt zu stehen. Ich habe den Raum, in dem ich mich hätte bewegen können, überhaupt nicht mehr gesehen. Das war auch der Grund, weshalb ich mich dann über die Grenze geworfen habe, um diesen Raum zu finden und neue Luft einzuatmen.

MJ: Gab es, als Sie Prag verlassen hatten, einen Kulturschock?

MS: Ich würde das nicht als Kulturschock bezeichnen. Meine Generation ist mit der langsamen, immer stärkeren Öffnung des Kulturaustauschs aufgewachsen. Das begann mit der Möglichkeit, am Wochenende irgendwo hinzufahren, um sich dort Aufführungen anzuhören. Nur mit dem Unterschied, dass wir die Nächte eher in Bussen verbracht haben, als mit Billigfliegern zu reisen. Man darf auch nie vergessen zu wiederholen, wie viel einfacher alles durch den Beitritt zur EU im Jahr 2004 wurde.

MJ: Herr Reimann, gibt es da nicht vielleicht eine Parallele zum Leben in Berlin, als geteilte und von Westdeutschland abgeschnittene Stadt, in der man sich mit mehr Zeit entwickeln konnte?

AR: Es war in dieser Hinsicht sicherlich ein Vorteil, dass ich in Berlin gelebt habe. Wir waren in Westberlin eben ein bisschen abgeschnitten von den Dingen, die sich vor allem in Köln, in Darmstadt oder in Donaueschingen abspielten. Das hatte den Vorteil, dass man viel stärker so denken und arbeiten konnte, wie man wollte. Westberlin war doch eine ganz andere Welt als die restliche Bundesrepublik. Und ich habe mich merkwürdigerweise überall im Ausland, wo immer ich auch war, wohler gefühlt als in Westdeutschland. Weil in Berlin so viele Dinge passierten, von denen man in der Bundesrepublik gar nicht so viel wusste. Es war eine geteilte Stadt, und man hatte natürlich auch, soweit das möglich war, seine Kontakte nach Ostberlin. Ich bin sehr glücklich darüber, dass wir mitten im politischen Geschehen waren. Das färbt natürlich auf die eigene Arbeit ab.

Der Berliner Literatur- und Musikwissenschaftler Benedikt von Bernstorff war als Dramaturg und Regisseur an verschiedenen Theater- und Operninszenierungen beteiligt, arbeitete als Redakteur für Fernsehproduktionen und verfasst als Journalist und Autor zahlreiche Artikel, u. a. für den Tagesspiegel, das Kunstfest Weimar und die Stiftung Berliner Philharmoniker.

MIROSLAV SRNKA hat gerade die Komposition von Singularity beendet, der dritten Oper, die er gemeinsam mit dem Librettisten Tom Holloway für die Bayerische Staatsoper geschrieben hat. Vorangegangen waren die Kammeroper Make No Noise (2011) und die Oper South Pole (2016). Nach seinem Studium der Musikwissenschaft und Komposition in seiner Heimatstadt Prag sowie in Berlin und Paris wurden bald international renommierte Ensembles auf ihn aufmerksam wie das Ensemble intercontemporain, das Ensemble Modern, das Klangforum Wien, das BBC Philharmonic Orchestra, das ORF Radio-Symphonieorchester Wien und das Quatuor Diotima, und seine Werke wurden bei den wesentlichen Festivals für Neue Musik vorgestellt. 2017 präsentierten die Dialoge Salzburg ein umfangreiches Komponistenporträt mit seiner Musik. 2019 wurde er zum Professor für Komposition an die Hochschule für Musik und Tanz in Köln berufen.

ARIBERT REIMANN wuchs in einer von Musik geprägten Familie in Berlin auf. Mit zehn Jahren komponierte er erste Klavierlieder. Nach dem Abitur 1955 arbeitete er als Korrepetitor am Studio der Städtischen Oper in Berlin und studierte zugleich an der Berliner Musikhochschule Komposition bei Boris Blacher und Ernst Pepping. Er ist einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts und komponierte sowohl zahlreiche Opern sowie Orchesterwerke als auch Kammer- und Vokalmusik. Drei seiner neun Opern wurden in München uraufgeführt, darunter 1978 Lear, der zu seinen wichtigsten Werken gehört und sich seitdem als fester Bestandteil des zeitgenössischen Opernrepertoires etabliert hat. Nun, über 40 Jahre später, wird Lear wieder an der Bayerischen Staatsoper gespielt. Aribert Reimann hat viele Preise erhalten, zuletzt 2018 den Deutschen Theaterpreis Der Faust für sein Lebenswerk.

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