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KAMPF UM DIE MACHT
Was bleibt von der Macht, wenn man sie abgeben muss? Dramatische und melancholische Augenblicke zwischen Machtergreifung, Machtwechsel und Machtverlust von William Shakespeare bis Angela Merkel.
Text Herfried Münkler Plakat Luci Pina Premiere Lear
Demokratie und Verfassung haben der Politikbeschreibung das Pathos des Tragischen genommen. Zumindest für die Augenblicke des Machtwechsels, der sich in vordemokratischen und vorkonstitutionellen Zeiten fast immer unter dramatischen Umständen vollzogen hat. Entweder weil ein Machthaber zu früh verstorben ist oder weil er sich länger an die Macht klammerte, als er ihr gewachsen war; weil er keine Kinder hatte oder aber zu viele; weil die Kinder zerstritten waren oder gemeinsam gegen den Vater (eher selten gegen die Mutter) konspirierten; weil plötzlich illegitime Nachkommen auftauchten, die bei der Machtbeerbung mitmischen wollten – oder weil keines der legitimen Kinder für die anstehenden Aufgaben geeignet war. Das System der Machtweitergabe an die eigenen Nachkommen war heikel und krisenbehaftet, nicht zuletzt deswegen, weil der abgetretene Potentat zu viel oder zu wenig Potenz gehabt und sie zur Unzeit und am falschen Ort ausgelebt hatte. Die Chance, dass sich ein Machtwechsel ohne Verwerfungen vollzog, war überaus gering. Das machte die Sache spannend.
Shakespeare, der wie kein anderer die Dynamik des Machtkampfs auf die Bühne brachte, hat in seinen Stücken mehrfach die Konstellationen des Machtwechsels als dramatische Komprimierung dessen genutzt, was auch im tagtäglichen Machtkampf stattfindet. Freilich sich über lange Zeit hinziehend und auf diverse Räume verteilt, weshalb die oft verzwickte Dramaturgie seiner Dramen zum Lachen wäre, wenn man nicht über die Tragik des Gezeigten heulen müsste. Das ist beim vordemokratischen oder außerkonstitutionellen Machtwechsel anders: Das ganze Drama des Politischen ist hier auf wenige Augenblicke komprimiert, und es tritt alles zutage, was sonst wohlgehütet ist und sich im Verborgenen abspielt. Die Machtweitergabe in autoritären Regimes, die weder durch eine Verfassung gezähmt noch durch das Volk kontrolliert ist, führt ein ums andere Mal dazu, dass man viel von dem erfährt, was sonst hinter den dicken Mauern und unzugänglichen Türen der Regierungspaläste verborgen bleibt. Das hat Shakespeare angezogen; hier wurde er als Machtanalytiker fündig.
Wie gut, möchte man meinen, dass es einstmals solche Konstellationen gegeben und Shakespeare sie dargestellt hat – aber wie gut auch, dass es sie heutzutage, jedenfalls in Westeuropa, nicht mehr gibt und wir diese als potenziell Betroffene nicht erdulden und erleiden müssen, sondern sie uns als wohlplatzierte Theaterbesucher mit gedämpftem Aha-Erlebnis zu Gemüte führen können. Verfassung und Demokratie haben den Politikbetrieb entdramatisiert und den Machtwechsel zu einem sich in regelmäßigen Abständen wiederholenden Routinevorgang gemacht. Außer wenn derjenige, der abtreten muss, Donald Trump heißt und die Macht nicht loslassen will. Aber selbst der hat sich nach dem Fehlschlag seiner Staatsstreichversuche – dem Druck, den er auf Gouverneure und Behördenleiter ausübte, die ihm missfallenden Wahlergebnisse nachträglich zu fälschen, und der Aufforderung an einen aufrührerischen Mob, das Parlamentsgebäude zu stürmen – nach Florida zurückziehen dürfen, ohne zur Verantwortung gezogen zu werden. Von dort aus frondiert er nun gegen die neuen Machthaber in Washington. Die Tragödie der Republikanischen Partei geht als Farce über die Bühne. Wäre man zynisch, ließe sich sagen: Daraus hätte Shakespeare sicher ein schönes Spektakel für die Bühne machen können.
Dass der demokratische Machtwechsel zu einem Routinevorgang geworden ist, mag er nun, wie in den USA und Frankreich, mit einem pompösen, oder aber, wie in Deutschland, mit einem bescheidenen, fast unterkühlten Zeremoniell verbunden sein, ist ein Problem für alle, die einen Machtwechsel zum Systemwechsel machen wollen. Man kann das an der Goebbels’schen Inszenierung studieren, mit der die im Rahmen der Weimarer Verfassung erfolgte Ernennung des NSDAPPolitikers Adolf Hitler zum Kanzler eines Kabinetts, in dem die Nazis in der Minderheit waren, in den „Tag der Machtergreifung“ verwandelt wurde. Das wiederholte sich zwei Monate später in und vor der – zurzeit übrigens im Wiederaufbau begriffenen – Potsdamer Garnisonkirche, wo ein Sakralitätstransfer vom alten Preußen auf das neue Regime vollzogen wurde. Beides, der Fackelzug von SA-Männern durchs Brandenburger Tor und der Handschlag des in die Uniform des kaiserlichen Feldmarschalls gekleideten Hindenburg mit dem zivil gewandeten Hitler, sollten die Reversibilität des demokratischen Machtwechsels konterkarieren. Auf der Ebene des Symbolischen wurde gegen die Routine des Demokratischen angearbeitet. Es wurde der Eintritt in eine neue Zeit vorgeführt und gleichzeitig eine Legitimation des Regimes aus der Vergangenheit geholt, die an die preußische Geschichte der Hohenzollern, des großen Friedrichs und von anderen erinnert. Es ging darum, Hitler eine quasihereditäre Legitimität zu verleihen, indem man ihn in eine Traditionslinie von Friedrich dem Großen bis Hindenburg hineininszenierte, um das Bündnis seiner kleinbürgerlich-plebejischen Bewegung mit den konservativen Eliten zu festigen. Die tiefen politischen Zerwürfnisse sollten durch die Vorführung der Einheit unsichtbar gemacht werden.
Was am 30. Januar 1933 formal eine Machtübertragung auf Zeit war, wurde durch die Zurschaustellung von Machtergreifung und Sakralitätstransfer zu einer Mehrfachlegitimation, in deren Folge aus einem Reichskanzler „der Führer“ wurde. Dabei knüpfte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels bewusst an vordemokratische Traditionen an, die insbesondere in den letzten Tagen des Regimes nochmals zum Tragen kamen, als Hitler nach Belieben ihm missliebig gewordene „zweite Leute“ absetzte und andere zu deren Nachfolgern ernannte. Der willkürliche Umgang mit den Personalien erinnert an die Ausgangslage von King Lear, wo die überschwängliche Bekundung von Liebe zum Vater über die Weitergabe der Macht entscheidet – mit dem Unterschied, dass es im April 1945 nicht um Liebe, sondern um Treue ging. Treue spielte in der NS-Ideologie eine zentrale Rolle; der Zerfall der Führungsclique kurz vor Ende des Regimes zeigt indes, wie viel Heuchelei und Verstellung dabei im Spiel waren. In der Welt des entfesselten Machtkampfs, die Shakespeares King Lear zeigt, gibt es nichts, worauf man sich verlassen kann, weil alles Lug und Trug oder Idiosynkrasie sein kann. Und am Ende gibt es nicht einmal den Trost einer schließlich doch obsiegenden Gerechtigkeit: Die Bösewichte sind tot, ebenso aber auch die Guten, und der nun an die Macht gelangte Edgar, ein Guter, ist eine zutiefst melancholische Gestalt. Da ist es den Deutschen mit den Strafgerichten der Siegermächte letzten Endes besser ergangen. Die Verurteilung der Verbrecher ermöglichte einen symbolischen Neuanfang. Den gibt es für Edgar nicht. Er kommt an die Macht als Taufkind Lears und legitimer Erbe Glosters: Der Kampf geht also weiter.
Vom Ende des Geschehens zurück zu seinem Anfang, zu der Frage, wie ein Machtwechsel geregelt und formalisiert werden kann. Das demokratische Verfahren der zeitlich begrenzten Machtübertragung qua Wahl durch das Volk ist schließlich nur eine Antwort darauf – und womöglich ist es auch nur ein Teil der Antwort, bei der offenbleibt, wo diejenigen herkommen, zwischen denen das Volk die Wahl hat. Der Soziologe Max Weber hat von einer der Wahl vorhergehenden Auswahl durch Bewährung im Machtkampf gesprochen, in dem sich die Bewerber hervortun, um in die eigentliche Wahl zu kommen. Das hat Weber als den spezifisch demokratischen Selektionsprozess begriffen: Nur wer aus diesem nach Regeln ausgetragenen Machtkampf „gestählt“ hervorgegangen ist, kann an die Spitze des Staates treten. Darin sah Weber die Überlegenheit des demokratischen gegenüber anderen Ausleseverfahren. In Bezug auf den Heucheleiwettbewerb zu Beginn von King Lear hatte er recht. Lears Töchter Goneril und Regan sind schlichtweg schlechte Machthaberinnen, beherrscht von Geiz und Gier, Eifersucht und sadomasochistischen Gelüsten. Die dritte Tochter Cordelia wiederum ist dem Spiel der Ränke und Intrigen im Kampf um die Macht nicht gewachsen. Das gilt auch für Sohn Edgar, der ein Opfer der hinterhältigen Machenschaften seines Halbbruders Edmund wird, von seinem Vater Gloster verstoßen und zuletzt nur darum auf den Thron gelangend, weil er im Schwertkampf der Gewandtere ist und Edmund tötet. Die Parallelgeschichte zu Lears Scheitern an der Nachfolgefrage, die im Hause Gloster, wo der legitime Sohn verstoßen wird, weil der illegitime den Vater zu täuschen versteht, kommt zu demselben Ergebnis: Das System der hereditären Machtfolge ist extrem fehleranfällig, weil es einen Konflikt zwischen den Kindern erzeugt, der in Mord und Totschlag endet.
Der demokratische Verfassungsstaat hat den Streit um die Nachfolge zivilisiert – aber nicht beseitigt. Fast alle Probleme der Nachfolgeregelung bleiben bestehen, nur eben reduziert. Das beginnt damit, ob jemand, der gute Chancen hätte, bei der anstehenden Wahl im Amt bestätigt zu werden, sich entscheidet, nicht noch einmal anzutreten und einen „Generationswechsel“ einzuleiten. Konrad Adenauer und Helmut Kohl hatten am Ende ihrer Kanzlerschaft seitens Partei und Fraktion designierte Nachfolger, doch Adenauer klammerte sich ans Amt, weil er Ludwig Erhard fürs Kanzleramt als ungeeignet ansah, und Kohl verlor die Wahl, weil viele Wähler seiner überdrüssig waren. So wurde damals der von der Presse schon als „Kronprinz“ bezeichnete Wolfgang Schäuble Oppositionsführer statt Kanzler. Auch Angela Merkel, die zunächst geschickt agierte und die von ihr ausersehene Annegret Kramp-Karrenbauer vorsichtig für die Nachfolge in Stellung brachte, erlitt Schiffbruch, weil diese den Herausforderungen des Berliner Politikbetriebs nicht gewachsen war. Also hielt Merkel sich bei der Nachfolge der Nachfolge heraus und ließ der offen ausgetragenen Konkurrenz ihren Lauf. Demokratische Nachfolgeregelungen funktionieren am besten, wenn der abtretende Amtsinhaber die Entscheidung denen überlässt, die offiziell damit betraut sind.
Lear gehört zu denen, die freiwillig auf die Macht verzichten, weil diese zur Bürde geworden ist. Aber das, was an der Macht komfortabel ist und nicht drückt, will er behalten. An den Kosten seiner Apanage entzündet sich der Streit mit den beiden Töchtern, zwischen denen er sein Reich schließlich aufteilt: Der Alte mit seinem Gefolge geht ihnen auf den Beutel und die Nerven. Außerdem mischt er sich in Dinge ein, die ihn nichts mehr angehen. Die Bonner wie die Berliner Republik haben das Glück gehabt, dass sich derlei bislang auf Zwischenrufe und Memoirenschreiben beschränkt hat; die unvermeidliche Besserwisserei wurde zumeist durch Altersnachsichtigkeit gegenüber den Patzern der Nachfolger begrenzt. Das galt im Großen und Ganzen in der Vergangenheit auch für die USA, wo der Abschied vom Präsidentenamt allerdings auf einen sehr viel größeren Machtverzicht hinausläuft. Mit Trump hat sich das geändert, und das könnte wieder passieren. Der Machtkampf in der Demokratie wird darum nicht tragödienförmig werden; vieles deutet darauf hin, dass es bei der Farce bleibt. Aber die Machtkämpfe werden ruppiger und die Gesellschaft zerrissener.
LEAR – König Lear will sein Reich unter seinen drei Töchtern aufteilen. Diejenige, die ihn am meisten liebt, soll am meisten bekommen. Da Cordelia in lediglich schlichten Worten die Zuneigung zu ihrem Vater beschreibt, enttäuscht sie ihn und geht leer aus; die anderen beiden Töchter sollen hingegen mit der Macht über das Königreich betraut werden, und alsbald herrschen Zwietracht und Intrige. Lear zerbricht daran, wird ein machtloser Bettler und verfällt dem Wahn. Basierend auf William Shakespeares Tragödie King Lear komponierte Aribert Reimann die Oper als Auftragswerk der Bayerischen Staatsoper. Nach mehr als 40 Jahren kommt der Klassiker des 20. Jahrhunderts am Ort der Uraufführung wieder auf die Bühne. Reimanns Musik zeigt deutlich, wie gebrochen Lear vor sich hin vegetiert und drückt durch instrumentale Clusterstrukturen eine atemberaubende Atmosphäre aus.