Die amerikanische Lokomotive der Weltwirtschaft Aufschwung im Norden, Risiken im Süden
▪ Die Inflation dürfte in der Welt von knapp neun auf sieben Prozent in diesem Jahr und fünf Prozent im nächsten Jahr sinken. Für die Industrieländer ist mit einem Rückgang auf unter fünf Prozent in diesem Jahr zu rechnen
▪ Die Straffung der Geldpolitik ist in den USA weitgehend abgeschlossen und im Euroraum bald am Ziel. Die Geldpolitik wirkt wie erwartet, die Finanzierungskonditionen ziehen kräftig an, die Nachfrage wird gedämpft.
▪ Die Finanzpolitik schwenkt in den meisten Ländern auf eine moderate Konsolidierung der öffentlichen Haushalte um. Die Defizite werden um gut einen halben Prozentpunkt der Wirtschaftsleistung reduziert Dies unterstützt die Geldpolitik.
▪ Weltweit müssen die Strukturreformen vertieft werden, um neue Wachstumschancen zu eröffnen. Eine stringentere Klima- und Industriepolitik ist nötig.
▪ Maues Wachstum in Deutschland: die deutsche Wirtschaft dürfte dieses Jahr real stagnieren. Konsumausgaben und Investitionen geben nach, aber die Nettoexporte stützen die Aktivität.
Juni 2023
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 1 Inhaltsverzeichnis Transatlantische Resilienz, asiatische Erholung.............................................................................2 Die Geldpolitik nähert sich Höhepunkt der Straffung .....................................................................9 Finanzpolitik ist weltweit in moderate Konsolidierung eingetreten...............................................9 Teurere Unternehmensfinanzierung beeinträchtigt Immobilieninvestitionen............................10 Finanzmärkte passen sich dem neuen Rahmen an.......................................................................11 Finanzstabilität derzeit gesichert, Risiken bleiben........................................................................13 Turbulenzen im US-Bankensektor...................................................................................................15 Industrieproduktion weltweit ...........................................................................................................16 Welthandel .........................................................................................................................................18 USA.....................................................................................................................................................19 China...................................................................................................................................................23 Europas Wirtschaft erholt sich langsam ........................................................................................26 Deutschland.......................................................................................................................................28 Quellenverzeichnis............................................................................................................................29
Transatlantische Resilienz, asiatische Erholung
Die weltwirtschaftliche Entwicklung hat bis Mai einen etwas besseren Verlauf genommen als es noch zur Jahreswende erwartet worden war. Eine kräftige Rezession in Europa, wie sie nach einem massiven Energiepreisschock früher unvermeidbar gewesen wäre, blieb erfreulicherweise aus und dürfte auch nicht mehr einsetzen. Gleichwohl durchlief der Euroraum eine technische Rezession im vierten Quartal des letzten Jahres und im ersten Quartal dieses Jahres. Auch die US-amerikanische Volkswirtschaft erweist sich bislang als resilient. Ein schwacher Jahresauftakt im Plus dürfte zwar von zwei bis drei Quartalen mit rückläufiger Leistung abgelöst werden, es sieht jedoch derzeit eher nach einem sehr moderaten Plus auf Jahresbasis aus. Die Bekämpfung der Inflation wird in beiden Wirtschaftsräumen prioritär verfolgt, mit erwartbaren Anfangserfolgen und einer klaren Perspektive der Stabilisierung des Preisniveaus bis 2024 / 2025.
In China ist zudem mit dem Ende der Null-Covid-Politik und einer einmaligen Pandemie-Welle eine zentrale Blockade für das Konsumverhalten der Chinesen aus dem Weg geräumt worden, was zu Nachhol- und Normalisierungseffekten, sowie kräftigerem Wachstum führen sollte. Zudem zieht die Aktivität auf dem Immobilienmarkt wieder an. Japan bleibt auf moderatem Wachstumskurs. Die anderen asiatischen Schwellenländer wachsen kräftig. Dem Welthandel fehlt zwar der Schwung, aber die massiven Störungen der internationalen Lieferketten und Transportwege aus der Pandemie-Zeit und den ersten Kriegs-Monaten sind weitgehend abgebaut worden. Zudem haben die Preise für Öl, Gas und viele Rohstoffe ihre Spitzen weit hinter sich gelassen. Auch die Halbleiterknappheit hat sich reduziert.
Belastungen aus den Mehrfachschocks wirken fort
Die wirtschaftliche Aktivität in diesem und im nächsten Jahr wird noch durch eine Reihe von Faktoren spürbar belastet werden. Dazu zählen die noch immer hohe Inflation, die kräftig angestiegenen Leitzinsen der Notenbanken und die Finanzierungskonditionen der Unternehmen. Dies ist auch unvermeidbar, um die Inflationsraten zurück zu den Zielwerten der Notenbanken zu führen. Insgesamt betrachtet stützt auch die Finanzpolitik in den großen Volkswirtschaften diesen Kurs. Hohe Unsicherheiten durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Sicherheitslage in Ostasien belasten darüber hinaus den Ausblick. Zudem sind mit einigen Schieflagen von Finanzinstituten in den Vereinigten Staaten und in der Schweiz Unsicherheiten über die wahre Lage im internationalen Finanzsystem zutage getreten. Zwar haben Regierungen und Behörden konsequent gehandelt, Risiken bestehen aber fort.
Eingetrübte Wachstumsperspektiven für die Weltwirtschaft
Eine Reihe von Faktoren dürfte dafür sorgen, dass der Wachstumsausblick für die nächsten Jahre nicht an die Ergebnisse aus der Vorkrisen-Zeit heranreichen wird. Dazu zählen die wachsende Rolle der wirtschaftlichen Sicherheit, die zulasten der Effizienz gehen wird, die mittelfristigen Folgen der Inflation und der Stabilisierungspolitik, die demografische Entwicklung in den Industrieländern, die das Wachstumspotenzial erkennbar dämpft, und die Überschuldung vieler Entwicklungs- und Schwellenländer, deren Lösung angesichts von Verteilungskonflikten zwischen der Volksrepublik China und den westlichen Geberländern über die Anpassungslasten auf der Gläubigerseite nicht absehbar ist. Dies alles dürfte dazu führen, dass der mittelfristige Wachstumspfad für die Weltwirtschaft nur bei etwa drei Prozent liegen dürfte (IWF 2023).
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 2
Weltwirtschaft in diesem Jahr auf der Durststrecke
Im laufenden Jahr dürfte die Weltwirtschaft wohl nicht ganz an die bescheidenen Werte des Vorjahrs von drei Prozent anknüpfen, sondern nur mit 2,7 Prozent wachsen (zum Vergleich siehe IWF 2023, Europäische Kommission 2023, OECD 2023). Im nächsten Jahr dürfte das Wachstum dann leicht auf drei Prozent zunehmen. Unsere Erwartung für dieses Jahr liegt etwa einen halben Prozentpunkt besser als noch im Winter erwartet. Gleichwohl bliebe die weltweite Produktion noch deutlich unter dem langjährigen Schnitt von 3¾ Prozent Wachstum (2000-2019) zurück Für die Industrieländer dürfte in diesem Jahr nur ein Wachstum von 1,3 Prozent zustande kommen, während die Entwicklungs- und Schwellenländer mit vier Prozent zulegen dürften.
Prognoseübersicht: Wachstum der realen Wirtschaftsleistung 2023/24 in Prozent
1: IWF (2023). Stand April
2: OECD (2023). Stand Juni *Stand März. Prognose für Indien für Fiskaljahr, beginnend im April.
3: Europäische Kommission (2023). Stand Mai
4: Prognose auf Grundlage von 70 Prozent des Welt-BIP (in Kaufkraftparitäten von 2013)
5: Angaben zu Indien für das Fiskaljahr und in laufenden Preisen
Weltwirtschaft
19/06/2023 3
auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt
2023 2024 IWF1 OECD2 EUKOM3 IWF1 OECD2 EUKOM3 Welt 2,8 2,74 2,8 3,0 2,94 3,1 USA 1,6 1,6 1,4 1,1 1,0 1,0 China 5,2 5,4 5,5 4,5 5,1 4,7 Japan 1,3 1,3 1,1 1,0 1,1 1,0 EU 1,0 1,7 Euroraum 0,8 0,9 1,1 1,4 1,5 1,6 Deutschland 0,0 0,0 0,2 1,1 1,3 1,4 Frankreich 0,7 0,8 0,7 1,3 1,3 1,4 Italien 0,7 1,2 1,2 0,8 1,0 1,1 Spanien 1,5 2,1 1,9 2,0 1,9 2,0 V. Königreich 0,4 0,3 -0,2 1,0 1,0 1,0 Indien 5,95 6,0 5,6 6,35 7,0 6,6 Brasilien 0,9 1,7 1,0 1,5 1,2 1,3 Russland 0,7 -2,5* -0,9 1,3 -0,5* 1,3
Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts 2023 gegenüber Vorjahr (in Prozent)
BDI
Heftige Rezessionen in größeren Volkswirtschaften dürften in diesem Jahr die absolute Ausnahme bleiben. Zwar dürften manche Entwicklungsländer zumindest kurzfristig eine Rezession durchlaufen, in den Industrieländern wird es jedoch ganz mehrheitlich nicht dazu kommen, sehr wahrscheinlich mit Ausnahme Schwedens. Noch offen ist, ob die US-Ökonomie nach dem schwachen Jahresauftakt mit einem Wachstum von einem Viertelpunkt gegenüber dem Vorquartal in den nächsten Quartalen noch Minuswerte aufweisen wird oder die Aktivität sich eher stabilisiert. Wir rechnen mit einem leichten Rückgang der Wirtschaftstätigkeit im zweiten Halbjahr, was noch mit einem Wachstum gegenüber dem Vorjahr von einem Prozent vereinbar ist. Vermutlich wird selbst ein solcher Rückgang nicht als Rezession klassifiziert werden, weil die meisten Indikatoren auf dem Arbeitsmarkt zu gut laufen und die bisher erfolgte geldpolitische Straffung besonders geringe Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit hatte. Immerhin haben sich in den meisten Industrieländern auch wichtige vorlaufenden Indikatoren, wie die Einkaufsmanagerindizes in den letzten Monaten erkennbar verbessert, bei fortwährender Schwäche der Industriewerte. Auch die Wirtschaftsklimaindikatoren der OECD beziehungsweise der Europäischen Kommission sowie die anderen nationalen Umfrageindikatoren (ifo zum Beispiel) weisen
Wirtschaftsklimaindikatoren*, OECD
Geschäftsvertrauen (Industrie) Konsumentenvertrauen Leading Indicator (Gesamtindikator)
*saisonbereinigt (Index=100)
Quelle: Macrobond
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 4
seit einigen Monaten wieder leicht aufwärts 96 97 98 99 100 101 102 103
Weltwirtschaft +2,7 Eurogebiet +0,7 Welthandel +2,0 EU +0,7 USA +1,0 Japan +1,5 VR China +5,2 Deutschland +0,0
Quelle:
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 5 45 50 55 60
Verarbeitendes Gewerbe PMI Dienstleistung PMI gesamt
Quelle: Market
Macrobond
Welt Einkaufsmanagerindizes*
Macrobond
Quelle: Market 40 45 50 55 60 PMI Verarbeitendes Gewerbe PMI Diensteistung PMI gesamt Euroraum 35 40 45 50 55 60
Verarbeitendes Gewerbe PMI Diensteistung PMI gesamt 40 50 60
Gewerbe PMI Diensteistung PMI gesamt China USA 40 50 60
PMI Diensteistung PMI gesamt Deutschland
PMI
*PMI
Quelle:
Einkaufsmanagerindex*
Quelle:
*PMI
PMI
PMI Verarbeitendes
PMI Verarbeitendes Gewerbe
Leichte Entspannung an den Märkten
Die wesentlichen Ursachen für die Aufhellung sind rasch beschrieben: Generell haben sich die Energiemärkte nach den erheblichen Marktspannungen im Herbst wieder kräftig erholt. Insbesondere die Gasgroßhandelspreise sind zuletzt in Europa auf unter 30 Euro pro Megawattstunde gefallen; der Ölpreis liegt ebenfalls unter den Erwartungen; Strom ist derzeit dagegen noch sehr teuer. China hat die Null-Covid-Politik beendet und die Pandemie-Folgen wirtschaftlich rasch absorbiert. Die Industrieländer erwiesen sich zudem resilienter gegenüber dem Russland-Schock (Öl, Gas, Kohle, Außenhandel generell) als erwartet, da die Diversifizierung aus den russischen Energieträgern rasch und gut gelang. Zudem haben die privaten Haushalte die Sonderersparnisse aus den konsumbeschränkten CoronaJahren kräftig für Reisen und Dienstleistungen genutzt. Wie erwartet blieben nennenswerte Beschäftigungseinbußen aus, was die Konsumausgaben und die Investitionen stabilisiert hat. Selbst die Unternehmen haben ihre Investitionspläne nicht radikal gestutzt, sondern trotz der massiven Turbulenzen auf der Kostenseite ihre Investitionstätigkeit atypisch aufrechterhalten. Die finanzpolitischen Maßnahmen in vielen OECD-Ländern haben die Einkommen der privaten Haushalte und die Lage der Unternehmen gestützt. 2023 dürfte die Finanzpolitik insbesondere in Europa und den USA nun wieder neutral oder sogar leicht bremsend ausfallen, was wiederum die Stabilisierung des Geldwerts unterstützt.
Allmähliche Erholung hat eingesetzt
Das vierte Quartal 2022 wies weltweit ein besonders schwaches Wachstum auf. Es scheint in vielen Volkswirtschaften jedoch der Tiefpunkt gewesen zu sein. Das erste Quartal des Jahres verlief etwas besser als noch vor einem halben Jahr erwartet. Zwar konnte der Euroraum eine Rezession nicht vermeiden, nun sollte jedoch das Wachstum allmählich anziehen. Auch die US-Wirtschaft legte weiter zu. In China kam es sogar zu einem kräftigen Anstieg. Generell läuft die Industrieproduktion jedoch weltweit seit gut neun Monaten seitwärts, mit deutlichen Rückgängen in Japan und Korea, einer Normalisierung in China und einer leichten Erholung am aktuellen Rand in den USA und Europa. Bei den Einzelhandelsumsätzen geht es in China und den USA und damit auch weltweit wieder deutlich aufwärts, während sie im Euroraum noch sinken. Bei den Autoverkäufen geht es ebenfalls seit gut einem Jahr nur seitwärts voran, mit kräftigerem Anstieg in Europa, Japan und den USA, aber stark schwankenden Werten in China (OECD 2023). In diesem Jahr dürfte auch die Investitionstätigkeit in den Industrieländern eher stagnieren. Einbrüche in der Bauwirtschaft werden gerade von Ausrüstungs- und Forschungsinvestitionen kompensiert. Die Konsumausgaben der privaten Haushalte werden dagegen allmählich wieder wachsen, da die Haushalte nun eine bessere Einschätzung ihrer inflationsbedingten Einbußen vornehmen können, ihre Spartätigkeit allmählich wieder normalisieren und bei weiterhin guten Beschäftigungs- und Einkommensperspektiven allmählich wieder zu höherer Kaufkraft zurückkehren. Dieser Prozess wird aber bis weit ins Jahr 2024 hin andauern.
Die USA sollten das laufende Jahr mit moderatem Wachstum abschließen. Der Arbeitsmarkt, der private Verbrauch und die Einzelhandelsumsätze sind sehr robust, gesponsert vom Abbau der coronabedingten Überersparnisse. Die Ausgaben für Dienstleistungen kehren allmählich zum VorkrisenTrend zurück. Gleichwohl bleibt das Rezessionsrisiko für das zweite Halbjahr spürbar. Wir erwarten ein Wachstum von einem Prozent bei einem leichten Anstieg der historisch niedrigen Arbeitslosigkeit um einen Prozentpunkt. Kanada dürfte etwas besser abschneiden und in diesem wie im nächsten Jahr mit knapp anderthalb Prozent wachsen.
Japan dürfte mit 1½ Prozent wachsen. Der Jahresauftakt war mit 0,4 Prozent gegenüber dem Vorquartal unerwartet stark und geprägt von kräftigen Konsumausgaben und dem Tourismus. Für 2024
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 6
ist mit einem Prozent zu rechnen. Die Inflation ist zwar auch auf vier Prozent angestiegen, dürfte sich aber im Jahresverlauf wieder auf zwei Prozent abschwächen Südkorea dürfe mit anderthalb in diesem Jahr und zwei Prozent im nächsten Jahr normal vorankommen. In China setzt die KP dagegen vorsichtig wieder den Schwerpunkt auf Wirtschaftswachstum, nachdem das Vorjahr mit drei Prozent historisch schwach ausfiel. In diesem Jahr dürfte ein Wachstum von 5,2 Prozent zu erreichen sein. Die nachholenden Konsumausgaben der privaten Haushalte, die in der Null-Covid-Zeit sehr eingeschränkt waren, geben den größten Impuls. Der Immobilienmarkt, die Industrieproduktion und der Außenhandel erholen sich dagegen nur allmählich. Die Geldpolitik ist jüngst gelockert worden, um für Impulse zu sorgen. Insgesamt betrachtet sollten die Nachholeffekte für ein gutes Jahr sorgen. Die politischen und strukturellen Wachstumseintrübungen für die mittlere Frist werden danach jedoch wieder prägend wirken. Indien wird mit sechs Prozent ehr am unteren Rand des Wachstumsspektrums der letzten Jahre zulegen. Die ASEAN-Länder dürften mit 4½ Prozent wachsen.
Lateinamerika bleibt vergleichsweise schwach auf den Beinen mit einem Wachstum von unter zwei Prozent (Brasilien knapp ein Prozent), während der Nahe und Mittlere Osten im normalen Tempo (drei Prozent) unterwegs sein wird Sub-Sahara Afrika wird nur mit 3½ Prozent wachsen, Südafrika sogar stagnieren. Russlands Wirtschaftseinbruch dürfte sich erneut auf etwa zwei Prozent belaufen (deutlich weniger als erwartet).
In Europa dürften vor allem die Länder des Euroraums allmählich wieder zulegen. Wir rechnen mit einem Wachstum in Höhe von 0,7 Prozent in diesem Jahr für die EU und den Euroraum. Das Vereinigte Königreich durchläuft eine sehr schwache Phase, könnte jedoch eine Rezession gerade noch vermeiden. Schweden befindet sich dagegen tatsächlich in einer Rezession, getrieben von dem Einfluss hoher Energie- und Finanzierungskosten auf den Häusermarkt. Ganz generell sind die noch im Herbst befürchteten Szenarien einer zu starken Lohnentwicklung, fortbestehend hoher Energiepreise und schwieriger Ertragslagen nicht eingetreten. Die Unternehmensgewinne liegen wieder EU-weit auf Normalniveau, die Lohnentwicklung wird 2023 / 2024 einen größeren Teil der Reallohnverluste wettmachen und die Energiepreise sinken deutlich stärker als antizipiert (Europäische Kommission 2023, Kirkegaard 2023)
Der Welthandel dürfte im laufenden Jahr um zwei Prozent zulegen, während das Vorjahr noch von den Aufholeffekten der Pandemie geprägt war (plus fünf Prozent). Dies wird jedoch nur gelingen, wenn die Aktivität im zweiten Halbjahr spürbar steigt, denn das letzte Quartal 2022 und das erste Quartal dieses Jahres waren von sinkenden Handelsvolumina und Frachtraten (Luft und Containerverkehr) geprägt. Dies spiegeln die schwache Industrieproduktion und Nachfrage nach Industriegütern weltweit wider. Zum Teil wirkt auch der Abbau der hohen Lagerbestände dämpfend. Auch im Handel entwickeln sich die Dienstleistungen deutlich besser als die Industrie.
Der Ausblick auf 2024 ist geprägt von einer fortgesetzten Erholung bei noch niedriger Dynamik, wobei der Euroraum kräftiger wachsen dürfte (1½ Prozent) als die USA (ein Prozent), während China mit 4,5 Prozent normal vorankommen wird. Deutschland wird nächstes Jahr vom Schlusslicht mit Spanien zum Treiber unter den großen Ökonomien werden. Ein Wachstum von gut 1½ Prozent ist dann plausibel. Eine etwas kräftigere Dynamik sollte sich dann 2025 einstellen, wenn die Inflationsraten sich wieder normalisieren und einige der Belastungsfaktoren allmählich nachgeben.
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 7
Inflationsraten sinken allmählich, bleiben aber zu hoch
Der Ausblick für die weltweite Inflation hat sich deutlich verbessert. Der Währungsfonds rechnet mit einem Rückgang der weltweiten Inflationsrate von 8,7 Prozent im Vorjahr auf sieben Prozent in diesem Jahr und 4,9 Prozent im nächsten. Die Industrieländer dürften noch 4,7 Prozent in diesem Jahr und 2,6 Prozent im nächsten aufweisen. Die Höhepunkte sind in den Industrie- und Schwellenländern im zweiten Halbjahr 2022 durchlaufen worden, seither verbessern sich die Fundamentaldaten deutlich. Auch die Inflationserwartungen sind deutlich gesunken. Zudem sinken Rohstoff-, Einfuhr- und Erzeugerpreise auf breiter Front, allein bei Nahrungsmitteln zeigt sich noch keine durchgreifende Besserung. Ganz generell zeigen die Kernraten der Inflation, ohne Energie und Nahrungsmittel, noch keine größere Korrektur an, dies dürfte in den nächsten Monaten jedoch stärker einsetzen. Der Fonds rechnet jedoch noch mit 6,2 Prozent in diesem Jahr und leicht über vier Prozent 2024. In einzelnen Ländern sind auch die Dienstleistungspreise noch nicht über den Inflationsberg hinweg, zumal die Nachfrage nach Dienstleistungen von den Unwuchten zugunsten von Gütern wieder zurückkehrt und sich die Lohnerhöhungen stärker auf die Kosten in den Dienstleistungen auswirken. Zudem wird es einige Quartale dauern, bis die Anpassung von Gewinnmargen greift (OECD 2023). Insgesamt betrachtet wird es noch bis in die Jahre 2025 / 2026 hin andauern, bis in den USA, dem Euroraum und dem Vereinigten Königreich die Inflationsrate wieder an die Zielmarken der Notenbanken herangeführt werden dürften. Eine deutliche Reduktion der Monatsraten wird jedoch gerade anfänglich bedeutende positive Effekte für die Konjunkturentwicklung mit sich bringen.
Inflationsprognosen* 2023 und 2024
*in Prozent gegenüber Vorjahr
Quelle: IWF
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 8
4,5 5,3 6,2 5,0 4,5 6,8 2,7 2,0 2,3 3,0 3,1 2,5 2,6 3,0 2,2 2,2
2023 2024
USA Euroraum Deutschland Frankreich Italien V. Königreich Japan China
Die Geldpolitik nähert sich Höhepunkt der Straffung
Die geldpolitische Straffung in den USA, im Euroraum und im Vereinigten Königreich wird bis zum Sommer weitgehend abgeschlossen sein. Die Leitzinsniveaus dürften sich bei rund 5¼ Prozent (USA) und 3¾ Prozent (EZB, Einlagensatz) einpegeln und mehrere Quartale gehalten werden. Im Vereinigten Königreich ist die Straffung noch nicht ans Ende gekommen, zumal die Inflation anders als im Euroraum jüngst negativ überrascht hatte und bei 8,7 Prozent im April lag; an den Finanzmärkten wird nun ein Leitzinsniveau von über fünf Prozent für wahrscheinlich gehalten.
In Japan gab es keine vergleichbar hohen Inflationsraten und keine geldpolitische Korrektur. In China hat die Notenbank angesichts normaler Inflationsraten (zwei Prozent) und einer schwachen Wirtschaftslage die Geldpolitik bereits gelockert. Ganz generell wird auch die Mehrheit der Notenbanken der Industrieländer mit hohen Inflationsraten den Kurs der geldpolitischen Straffung noch länger fortsetzen müssen, bis die Inflationsraten nachhaltig sinken.
Die FED dürfte in Kürze den Höhepunkt der Straffung erreichen. Die jüngsten Bankenturbulenzen, die eindeutig auf eine unzureichende Beaufsichtigung mittelgroßer Institute zurückzuführen sind (klassische Bank-Runs bei schlechtem Management des Zinsänderungsrisikos), tragen an sich zu einer konservativen Kreditvergabe ähnlicher Banken und zu einer Straffung der Finanzierungsbedingungen bei. Im Zusammenspiel von hohen Leitzinsen und Quantitative Tightening (Abbau der Wertpapierbestände) ist die FED geldpolitisch bereits deutlich restriktiv und muss nicht mehr viel nachsteuern. Die Kernrate der Inflation ist bereits vom Höhepunkt von knapp sieben Prozent auf fünf Prozent gesunken (Monatswerte). Voraussichtlich wird es ausreichen, den Leitzins vier bis fünf Quartale auf leicht über fünf Prozent zu halten. Der Inflationsdruck vom Arbeitsmarkt ist in den Sektoren IKT und Bau / Immobilien bereits deutlich abgeschwächt; die Güterpreisinflation ist bereits auf einen Prozentpunkt abgesunken; die Dienstleistungsinflation ist dagegen auf gut sieben Prozent angestiegen. Die Inflationsrate in den USA dürfte bis Ende 2024 auf drei Prozent zurückkehren und sich 2025 wieder der Zielmarke von um die zwei Prozent annähern.
Die EZB hat die Leitzinsen zuletzt am 15. Juni um jeweils 0,35 Prozentpunkte und damit den Einlagenzinssatz auf 3,5 Prozent erhöht. In Verbindung mit weiteren Schritten der geldpolitischen Normalisierung, zum Beispiel der Beendigung der Anleihekäufe aus dem APP Ende Juni, dürfte sie die bereits eingetretene Verschärfung der Finanzierungskonditionen und die Dämpfung der Nachfrage dann erst einmal wirken lassen können. Die EZB hat im Juni ihre Erwartungen für das Wachstum im Euroraum auf 0,9 Prozent (2024: 1,5 Prozent) leicht abwärts revidiert und den Inflationsausblick leicht nach oben korrigiert. Sie erwartet nun Inflationsraten von 5,4 Prozent 2023 und drei Prozent 2024 im Jahresdurchschnitt. Angesichts dieses Ausblicks und der vertretbaren Lohnabschlüsse im Euroraum (ca. 5,3 Prozent Nominallohnzuwachs 2023, 4,4 Prozent 2024, 3,6 Prozent 2025 gemäß EZB) wird es auch keine weiteren größeren Lohn-Preis-Effekte geben, sondern die Reallöhne werden bereits im Jahresverlauf wieder allmählich zulegen und bis Ende 2024 einen Teil der Verluste wieder wettmachen.
Finanzpolitik ist weltweit in moderate Konsolidierung eingetreten
Die Finanzpolitik wird in den meisten großen Industrieländern 2023 / 2024 auf Konsolidierungskurs gehen, da die Sonderausgaben für Pandemie-Folgen beziehungsweise für die Energie-Krise allmäh-
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 9
lich zurückgefahren werden können. Zwar folgen auf die inflationsbedingten Mehreinnahmen nun zeitlich verzögert auch Mehrausgaben (für Soziales, Löhne und den Zinsesdienst), insgesamt bleiben die Effekte aber positiv. In den meisten Industrieländern haben die Regierungen die Bürger und Unternehmen 2022 mit breiten, vorrangig nicht sehr zielgenauen Maßnahmen von einem Teil der gestiegenen Energiekosten entlastet. Allein in Europa beliefen sich die Maßnahmen nur für private Haushalte auf etwas über zwei Prozent der Wirtschaftsleistung. Die OECD rechnet auch in diesem Jahr noch mit Maßnahmen in Höhe von einem guten halben Prozentpunkt eines durchschnittlichen OECD-Landes, in der EU teilweise noch in einigen Ländern von über zwei Prozent. Viele der Maßnahmen werden spätestens 2024 auslaufen, sich stärker auf bedürftige Gruppen konzentriert oder nur geringere Mittel in Anspruch nehmen, da die Einkaufspreise für Energieträger bereits deutlich gesunken sind und die niedrigeren Preise schrittweise an die Verbraucher weitergegeben werden dürften. Dies wird dazu führen, dass die Ausgaben gegenüber dem Vorjahr deutlich zurückgehen. Gleichwohl werden höhere Löhne im öffentlichen Sektor, Sozialleistungen und gestiegene Preise für öffentliche Käufe die Ausgaben leicht erhöhen.
Insgesamt rechnen die internationalen Organisationen damit, dass in den meisten Industrieländern eine schrittweise Konsolidierung der öffentlichen Finanzen eingeleitet wird und die Primärdefizite (ohne Schuldendienst) dieses und nächstes Jahr etwa um einen halben Prozentpunkt des Potenzialwachstums sinken werden. Am härtesten strafft das Vereinigte Königreich die Finanzpolitik mit über anderthalb Prozentpunkten der Wirtschaftsleistung je 2023 / 2024. Die USA wird dieses und nächstes Jahr moderat konsolidieren. Im Euroraum und der EU wird das Tempo sukzessive erhöht. Deutschland liegt mit je einem Prozentpunkt am harten Rand. In Japan ist mit einer neutralen Ausrichtung zur rechnen, da die höheren Verteidigungs- und Transferausgaben die Einsparungen der Pandemiepolitik nahezu ausgleichen. Erfreulicherweise wird es in der EU gelingen, die Investitionsquote der öffentlichen Hand weiter leicht zu steigern und über drei Prozent der Wirtschaftsleistung zu verankern, dank des NextGeneration EU-Programms. Auch in den USA werden die Infrastruktur- und Energiegesetze für ein ähnlich hohes Niveau sorgen. In Japan wird die Quote sogar leicht über vier Prozent steigen. So werden diese drei Wirtschaftsräume Konsolidierung mit Investitionen verbinden können.
In den großen Schwellenländern bietet sich dagegen ein heterogenes Bild. Während Brasilien und Südafrika mit wachsenden Defiziten zu kämpfen haben, werden Indien und Indonesien die Defizite reduzieren können. Mexiko wird dieses Jahr noch Rückschläge verzeichnen, dafür aber nächsten Jahr konsolidieren. China wird beide Jahre finanzpolitisch weitgehend seitwärts fahren.
Teurere Unternehmensfinanzierung beeinträchtigt Immobilieninvestitionen
Die geldpolitische Straffung in der Mehrzahl der Volkswirtschaften geht notgedrungen einher mit einer Verschärfung der Finanzierungskonditionen für private Haushalte und Unternehmen. Typischerweise steigen mit den Leitzinsen auch die Renditen für Schuldverschreibungen von Staaten und Privaten erheblich an. Die Kreditzinsen von Banken ziehen zudem ebenfalls rascher an als die Einlagenzinssätze, zudem werden die Kreditvergabestandards seitens der Banken angehoben. Die Begebung von Anleihen und Aktien erhält einen Dämpfer. Auf den Hypothekenmärkten wirken Leitzinserhöhungen besonders rasch auf das Neugeschäft, mit Folgen für die Bauwirtschaft und die Häuserpreise. Die aktuelle Phase der Straffung ist durch eine hohe Wirksamkeit der Geldpolitik geprägt (OECD 2023): die Kreditkonditionen für Unternehmen und Haushalte sind rasch verschärft worden; Anleiherenditen haben kräftig angezogen. Einlagenzinssätze ziehen in den meisten Ländern rasch nach. Kurzfristige
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 10
Unternehmenskredite haben rascher reagiert als langfristige, Immobilienkredite rascher als Konsumentenkredite, Anleihen stärker als Bankkredite.
In den meisten Ländern sind die Zuwachsraten der Kreditvergabe bereits deutlich gedämpft worden, in einigen Ländern sind diese bereits rückläufig, überall mit weiterer Abschwächung in Sicht. Im Durchschnitt der meisten Industrieländer sind die Jahresraten des nominalen Kreditwachstums bereits bei drei Prozent für private Haushalte und bei fünf Prozent für Unternehmen gefallen und liegen damit jeweils etwa auf halbem Niveau des langfristigen Durchschnitts. Zugleich sank die Kreditnachfrage der Unternehmen und der privaten Haushalte für Immobilienkäufe jeweils kräftig und allgemein ebenfalls. In den USA sank zudem die Kreditvergabe an nicht-finanzielle Unternehmen jüngst erheblich, im Vereinigten Königreich und im Euroraum, vor allem die Hypothekenkredite. Weltweit reagieren die Bauwirtschaft und der Immobilienmarkt schwach auf das neue Zinsumfeld. Dies wirkt in dem Segment mehrjährig investitionsdämpfend. Im Euroraum und in Japan dürfte die anderweitige Investitionstätigkeit der Unternehmen (Ausrüstungen, Maschinen, Forschung) jedenfalls auf Wachstumskurs bleiben.
Im Grunde ist es erstaunlich, dass die Finanzierung der Realwirtschaft in den Industrieländern außerhalb des Immobiliensektors während der stärksten Straffung der Geldpolitik seit Jahrzehnten nicht zu einem größeren Problem geworden ist, sondern im Markt als eine notwendige, einige Quartale andauernde Härte absorbiert worden ist. Die Unternehmen passen sich allmählich an die neue Normalität in der Unternehmensfinanzierung an. Die Zeit der extrem günstigen Finanzierung ist erst einmal vorüber. Angesichts kräftig gestiegener Anleiherenditen, höherer Bankkreditzinssätze und strengerer Kreditstandards kehrt man in der Investitionsfinanzierung wieder zu normaleren Verhältnissen zurück. Auch die langfristigen Realzinsen dürften in den nächsten beiden Jahren wieder positiv werden und die Renditehürden für reale Projekte anheben.
Finanzmärkte
passen sich dem neuen Rahmen an
Die Aktienmärkte durchliefen im Jahr 2022 eine deutliche Korrektur. Seit Jahresende erholen sich die breiten Indizes in den Industrieländern wieder deutlich, da besonders katastrophale Abwärtsrisiken, etwa einer Energieknappheit in Europa, sich nicht realisiert haben und die Konjunktur- und Ertragsperspektiven wieder aufwärts revidiert werden konnten. Zudem sind die Gewinnmargen in den meisten Ländern trotz der multiplen Schocks gestiegen und haben an sich zum Inflationsprozess beigetragen. In den Energie- und Rohstoffexportländern gaben die Indizes dagegen wieder nach. Im Euroraum legten die wichtigsten Indizes mit über zehn Prozent zu. In den USA erholten sie sich um gut fünf Prozent, in Japan lagen sie ebenfalls im Plus. In Brasilien, Indien und Indonesien gaben sie dagegen leicht nach. Russland trotzte den Verhältnissen und hatte eine besonders starke Aufholjagd, wohl auch, weil die russische Wirtschaft die Sanktionen kurzfristig relativ gut wegsteckte.
Die Anleihemärkte durchliefen auch eine Phase der raschen Renditeerhöhung, die am Jahresende ebenfalls in eine leichte Entspannungsphase überging. Die kurze Phase finanzieller Instabilitäten in den USA und in der Schweiz im März 2023 ging mit nachgebenden Renditen einher; seither haben sie wieder angezogen. Im letzten Halbjahr stiegen die Zehnjahresrenditen im Euroraum und in Japan im Mittel leicht an und fielen in den USA um 50 Basispunkte moderat. In vielen Schwellenländern zogen die Renditen mit den Leitzinsen kräftig an, mit kräftigen Spreads dort, wo die Inflation hoch blieb. Während bei den kurzfristigen Schuldtiteln noch leichte Erhöhungen bis zum Ende des geldpolitischen
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 11
Straffungszyklus zu erwarten sind, dürften die langfristigen Anleiherenditen bereits ein neues Gleichgewicht gefunden haben. Die vorübergehende Volatilität gerade im Bereich von hochriskanten Unternehmensanleihen ist im Frühjahr von einem größeren Risikoappetit der Investoren wieder beendet worden. Risikozuschläge für Staatsanleihen von hochverschuldeten Ländern im Euroraum spielten über den gesamten Zeitraum der letzten anderthalb Jahre keine nennenswerte Rolle, zumal die EZB mit einem (ungenutzten) Instrument signalisiert hat, dass sie gegebenenfalls gegensteuern würde.
Deutschland Italien Frankreich USA China Japan
Quelle: Macrobond
Zudem hat der Außenwert des Dollars gegenüber wichtigen Währungen nachgegeben, unter anderem gegenüber dem Euro. Dies lag hauptsächlich an der geldpolitischen Straffung im Rest der Welt und
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 12
11 10 4 13 31
Euroraum USA (S&P 500) China Japan NASDAQ-100
-1 0 1 2 3 4 5
Quelle: Macrobond
Aktienmärkte Anleiherenditen
an den trüberen Wirtschaftsperspektiven für die USA. Deutliche Abwertungen verzeichneten die türkische Lira angesichts der inadäquaten Geldpolitik und der argentinische Peso. Insgesamt betrachtet gab es zwar eine vorübergehend erhöhte Volatilität in den großen Währungsmärkten, aber angesichts der leicht unterschiedlichen geldpolitischen Straffung in großen Volkswirtschaften blieb dies dennoch in Grenzen.
Finanzstabilität derzeit gesichert, Risiken bleiben
Bislang blieben auch die Finanzmärkte trotz einiger Wellenbewegungen in den Bewertungsniveaus durchaus im Einklang mit den harten veränderten makroökonomischen Rahmenbedingungen. Insbesondere das Bankensystem erwies sich als robust, trotz der partiellen Schwierigkeiten, und profitiert zunächst vom Zinszyklus. Dies hat sich auch in einer Sonderkonjunktur für Bankwerte niedergeschlagen. Zudem bleibt für einige Zeit das Risiko relevant, dass Zahlungsschwierigkeiten von Kreditnehmern, etwa aus dem Immobilienmarkt, sich auf die Bankbilanzen kräftig auswirken könnten und makroökonomisch bremsend wirken. Es ist noch zu früh für eine Entwarnung, aber bislang scheinen insbesondere in der EU und in Japan die Anpassungen im Markt noch zu keinen Verwerfungen zu führen. Häuserpreise und Büroimmobilien bleiben insbesondere in den USA ein Risiko für Banken wie NichtBanken (OECD 2023).
Generell geht eine geldpolitische Straffung mit bestimmten Stabilitätsrisiken einher. Die Anhebung der Leitzinssätze durch die Notenbanken erhöht die Finanzierungskosten der Banken, führt zu Neubewertungen von Finanzportfolios und belastet die Marktliquidität. All dies reflektiert sich in einer erhöhten Volatilität an den globalen Finanzmärkten. Der jüngste Zusammenbruch US-amerikanischer Regionalbanken im März 2023 hat zu weiteren Spannungen an den Finanzmärkten geführt und offenbarte Schwachstellen
Bankensektor, die sich in einem Umfeld niedriger Zinsen, hoher Liquidität und geringer Volatilität ausgebildet haben: Um ihre Renditen zu erhöhen, setzten sich US-Regionalbanken
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 13
im
Entwicklung der Wechselkurse zum US-Dollar Quelle: Macrobond 0,7 0,8 0,9 1,0 0,95 1,00 1,05 1,10 1,15 1,20 Euro (linke Achse) Pfund Sterling (rechte Achse) 110 115 120 125 130 135 140 145 150 155 6,2 6,4 6,6 6,8 7,0 7,2 7,4
Renminbi (rechte Achse) Yen (linke Achse)
verstärkt Liquiditäts-, Laufzeit- und Kreditrisiken aus und waren auf die straffe Geldpolitik der Notenbanken und Störungen am Finanzierungsmarkt nicht ausreichend vorbereitet. Zudem verzeichnen viele Banken in ihren Bilanzen einen hohen Anteil festverzinslicher Staatsanleihen und hypothekarisch besicherter Anleihen mit langen Laufzeiten, die mit steigenden Zinsen jedoch keine höheren Zinserträge erbringen (IWF 2023). Laut Europäischer Kommission und der Europäischer Zentralbank sind die europäischen Banken nur moderat von Zinsänderungsrisiken betroffen. Die höheren Refinanzierungskosten und Marktwertverluste bei festverzinslichen Wertpapieren konnten bisher durch Preisanpassungen im Kreditbuch kompensiert werden, sodass die Banken aufgrund hoher Nettozinsmargen profitabel und resilient gegenüber Schocks auftreten. Auch liegen Eigenkapital und Liquidität europäischer Banken deutlich über den Mindestanforderungen (EZB 2023, Europäische Kommission 2023).
Während der Pandemie konnten weltweit Haushalte und Unternehmen dank fiskalischer Unterstützungen und geldpolitischer Lockerungen einen finanziellen Puffer aufbauen, der die Wirtschaft insgesamt resilienter gegenüber Schocks machte. Die nun hohen Zinsen erschweren jedoch den Schuldendienst. Die verschärften Finanzierungsbedingungen treffen vor allem kleine Unternehmen, denen neben der Kreditaufnahme weniger alternative Finanzierungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Zusätzlich sehen sich Unternehmen in einigen Volkswirtschaften aufgrund der schwachen wirtschaftlichen Nachfrage mit geringeren Gewinnen konfrontiert, was das Kreditausfallrisiko der Unternehmen erhöht (IWF 2023).
Für Schwellenländer ist es angesichts des steigenden globalen Zinssatzes ebenfalls zunehmend schwer, hohe Schulden und Defizite zu bedienen, auch wenn sie bislang die drastischen Straffungen der Geldpolitik bewältigen konnten. Seit der Pandemie ist die Schuldenquote in den Schwellenländern auf einem hohen Niveau. Insbesondere Länder, die stark von hohen Lebensmittel- und Energiepreisen betroffen sind, haben nur einen begrenzten fiskalpolitischen Spielraum, was deren Schuldentragfähigkeit verschlechtert. Unter den Frontier Markets (Länder, deren Marktwirtschaft kleiner, riskanter und illiquider ist als die der Schwellenländer), sind 37 von insgesamt 69 Ländern mit Schuldenproblemen konfrontiert (IWF 2023). Weiterhin belastet der schwere Marktzugang, vor allem der Rückgang der Risikobereitschaft nach dem Bankencrash im März, die Schwellenländer. Die Emissionsbedingungen für staatliche Hartwährungsanleihen, insbesondere für Länder mit einem B-Rating und schlechter, haben sich verschlechtert. Die Spreads der Staats- und Unternehmensanleihen weiteten sich seit Oktober 2022 aus, auch wenn zuletzt die Renditen der Staatsanleihen in Lokalwährung in den wichtigsten Schwellenländern gesunken sind (IMF 2023, OECD 2023). Die Renditeaufschläge von Staatsanleihen in Fremdwährung gegenüber US-Staatsanleihen sind in den meisten Schwellenländern wieder zurückgegangen, was darauf hindeutet, dass das Kreditrisiko für die Staaten bislang begrenzt ist (OECD 2023). Dennoch handeln laut dem IWF zurzeit zwölf Schwellenländer mit Spreads von mehr als 1000 Basispunkten und weitere 20 Länder mit Spreads von mehr als 700 Basispunkten, einem Niveau, bei dem in der Vergangenheit der Marktzugang sehr schwierig war. Im Jahr 2022 sind fünf Staaten bei der Bedienung ihrer Schulden in Verzug gekommen (Belarus, Ghana, Malawi, Russland, Sri Lanka), insgesamt liegt die Zahl nun bei acht Ländern (IWF 2023).
In vielen Entwicklungsländern hat sich China in den letzten zehn Jahren als größter Kreditgeber positioniert (Georgia / Pazarbasioglu 2021). Insbesondere im Rahmen des Projekts „Neue Seidenstraße“ hat China große Kredite für Infrastrukturprojekte an Länder im globalen Süden vergeben und seit 2017 übersteigt die Höhe der vergebenen Kredite die der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und der Mitgliedsländer des Pariser Clubs zusammen. Zwar verlangen chinesische Kreditgeber häufig höhere Zinsen, treten aber weniger risikoscheu auf als andere Gläubigerländer und Entwicklungsbanken
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 14
(Behsudi 2023). Gerade hochverschuldete oder bereits zahlungsunfähige Länder, darunter Sambia, Ghana, Sri Lanka, Äthiopien und Pakistan, haben hohe Kredite bei China aufgenommen. Angesichts dessen drängt der Westen China daher zu einem Schuldenerlass, um den finanziellen Druck auf die Länder zu verringern. China weigert sich jedoch, Schulden umzustrukturieren und damit Verluste bei den Krediten hinzunehmen, da zum einen die Kredite an wichtige Projekte geknüpft sind, die den kreditnehmenden Ländern positive Renditen bringen und zum anderen Kredite an die Weltbank im vollen Umfang zurückgezahlt werden (Behsudi 2023). Letzteres ist aber grundlegend, um ein hohes Rating der Weltbank aufrechtzuerhalten und um weiterhin günstige Finanzierungsmittel bereitzustellen. Der zentrale Streitpunkt ist dabei die Aufteilung der Verluste im Falle der Zahlungsunfähigkeit kreditnehmender Länder. Westliche Länder fordern von China eine stärkere Beteiligung bei Erleichterungen für hochverschuldete Länder durch Schuldenerlässe und Zahlungsaufschüben (Economist 2023, Behsudi 2023). Zwar wurde im November 2020 das "Common Framework for Debt Treatments" zwischen den G20-Staaten vereinbart, welcher zahlungsunfähigen Ländern eine koordinierte Schuldenumstrukturierung ermöglichen soll und zu dem sich auch China bekannte, jedoch wurden seit seinem Bestehen keine nennenswerten Ergebnisse erbracht. Angesichts der angespannten finanziellen Lage vieler Entwicklungsländer ist eine Nachbesserung des Common Frameworks dringend notwendig. Ein erster Schritt zur Einigung für einen Restrukturierungsmechanismus könnte am 17. Mai 2023 erreicht worden sein: Der Internationale Währungsfonds unterschrieb ein Rettungspaket in Höhe von drei Milliarden Euro für den zahlungsunfähigen Staat Ghana nachdem neben Kreditgebern der Länder des Pariser Clubs auch chinesische Kreditgeber zusagten, Verluste bei Krediten in Kauf zu nehmen. Eine erste Tranche von 600 Millionen Euro wurde direkt freigegeben (Economist 2023).
Turbulenzen im US-Bankensektor
Im März 2023 kam es aufgrund erheblicher Einlagenabflüsse veranlasst durch ein schlechtes Management von Zins- und Liquiditätsrisiken US-amerikanischer Banken zu Turbulenzen am Finanzmarkt und Zusammenbrüchen einiger Banken. Auslöser der Spannungen war die Insolvenz der Silicon Valley Bank (SVB) am 10. März 2023. Das Geschäftsmodell der SVB konzentrierte sich auf ungesicherte Kredite und andere Finanzierungsinstrumente für Risikokapitalgesellschaften und Unternehmen der Technologiebranche. Angesichts der straffen Geldpolitik konnte die SVB die Zinsrisiken und Liquiditätsrisiken verbunden mit ihren Wertpapierbeständen nicht effektiv managen und keine wirksamen Instrumente zur Minimierung der Risiken vorweisen. Nachdem die SVB Nettoverluste verzeichnete, versuchte sie durch den Verkauf von Wertpapieren im Handelsbestand mehr Liquidität zu erlangen und plante höhere Kreditaufnahmen und einen Börsengang zur Kapitalbeschaffung. Dies führte bei Anlegern zu Bedenken hinsichtlich der finanziellen Lage der SVB und zu Einlagenabflüssen, die sich innerhalb von zwei Tagen auf 142 Milliarden Dollar summierten, was letztendlich zum Zusammenbruch der SVB führte. Die Sorgen über ein Übergreifen auf andere Banken ließen die Aktienkurse einiger Banken einbrechen und löste wiederum Abflüsse von insbesondere ungesicherten Einlagen aus. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Verbreitung über soziale Netzwerke, die Möglichkeit, über Online-Dienste Gelder schnell zu bewegen und die enge Verflechtung innerhalb des Bankensystems. Nach nur zwei Tagen folgte am 12. März der Zusammenbruch der Signature Bank. Am gleichen Tag beschloss die US-Notenbank Maßnahmen zur Sicherung der Einlagen von und des Kreditflusses an Haushalte und Unternehmen. Zuletzt scheiterte die First Republic Bank am 1. Mai, nachdem über die Monate März und April die Aktienkurse stark gefallen waren, und wurde von JPMorgan Chase mithilfe staatlicher Unterstützung übernommen.
Über die USA hinaus war insbesondere die Credit Suisse betroffen. Diese war schon zuvor durch eine Reihe von Versäumnissen in den Bereichen Risikomanagement, Corporate Governance und Compliance aufgefallen und verzeichnete 2022 die größten Verluste seit der globalen Finanzkrise. Im letzten Quartal 2022 war auch die Credit Suisse von hohen Einlagenabflüssen und sinkenden Aktienkursen betroffen. Nachdem der größte Anteilseigner ankündigte, keine weiteren Anteile zu kaufen, beabsichtigte dieBank Notfall-Liquiditätshilfen der Schweizer Nationalbank anzunehmen. Dies führte zustarken Vertrauensverlusten der Investoren und ließ den Aktienkurs weiter absinken. Am 19. März sagte schließlich die UBS zu, die kurz vor der Insolvenz stehenden Credit Suisse mit Unterstützung der schweizerischen Regierung zu übernehmen.
Industrieproduktion weltweit
Nach den Turbulenzen im März hat sich Situation im globalen Bankensektor bis Mai 2023 wieder weitestgehend stabilisiert: Die Einlagenabflüsse haben sich wieder normalisiert, wenngleich sich die Kreditkonditionen stark verschärft haben. Die Ereignisse im März mit Einlagenabflüssen in einem nie zuvor gesehenen Tempo getrieben von sozialen Medien und Online-Banking haben einmal mehr gezeigt, wie eng der Bankensektor weltweit verflochten ist und die Notwendigkeit einer genaueren und häufigeren Überwachung potenziell vulnerabler Banken unterstrichen.
Erleichterte Refinanzierung der Banken: die EZB stellt über Vollzuteilung Mittel zu einem Zinssatz von minus 0,5 Prozent bis Juni bereit. Ab Juni setzt dann das dritte langfristige Refinanzierungsprogramm ein (TLTRO 3 = Targeted long-term Refinancing Operations). Dies wird bis zu diesem Zeitpunkt nun günstiger ausgestaltet (bis Juni 2021). Damit lässt sich die Mittelstandsfinanzierung von Banken deutlich leichter sicherstellen. Der
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 15
Industrieproduktion weltweit
Die globale Industrieproduktion ist nach Angaben des Netherlands Bureau for Economic Policy Analysis (CPB) im Jahr 2022 um 3,1 Prozent gestiegen. Das Wachstum lag damit etwas höher als im Durchschnitt der vorangegangenen zehn Jahre (plus 2,8 Prozent). Nach einem kräftigen Produktionsplus von 4,5 Prozent im ersten Quartal 2022 verlangsamte sich das Expansionstempo im zweiten Quartal vor allem aufgrund deutlicher Produktionseinbußen in China. Im vierten Quartal 2022 sanken die Industrieaktivitäten im Vorquartalsvergleich erneut. Der Rückgang erstreckte sich sowohl auf die entwickelten Volkswirtschaften als auch auf die Schwellenländer.
Im ersten Quartal 2023 stieg die Industrieproduktion im Vorquartalsvergleich mit plus 1,1 Prozent wieder an. Maßgeblich dazu beigetragen haben die asiatischen Schwellenländer inklusive China, die ihre industriellen Aktivitäten im Vorquartalsvergleich um jeweils mehr als drei Prozent ausweiten konnten. In den anderen Weltregionen war die Entwicklung weiter schwach. Der Einkaufsmanagerindex für die Industrie weltweit bewegt sich seit September 2022 unterhalb der Expansionsschwelle von 50 Punkten. In den Monaten März bis Mai 2023 trat er mit jeweils 49,6 Indexpunkte auf der Stelle. Die Aussichten für den weiteren Jahresverlauf sind eher verhalten. Wir rechnen dennoch für das gesamte Jahr mit einem leichten Anstieg der weltweiten Industrieproduktion um einen halben Prozentpunkt
Welt: Industrieproduktion*, Einkaufsmanagerindex
*Produktionsindex: 2-Monatsdurchschnitt, kalender- und saisonbereinigt in Prozent zum Vorjahr
Quellen: Macrobond, Netherlands Bureau for Economic Policy Analysis, eigene Berechnungen
Entwickelte Volkswirtschaften
In den entwickelten Volkswirtschaften war die Industrieproduktion des Jahres 2022 erstmals höher als im Vor-Corona Jahr 2019. Grund hierfür war vor allem der stark gestiegene Ausstoß in der Gruppe der sonstigen entwickelten Volkswirtschaften. Hier expandierte die Industrieproduktion im vergangenen Jahr um 4,3 Prozent. Damit war die Industrieproduktion in dieser Ländergruppe mehr als acht Prozent höher als vor Ausbruch der Pandemie. Die Industrien in den entwickelten asiatischen Staaten ohne Japan weiteten ihre Produktion im gleichen Zeitraum zwar nur um 1,4 Prozent aus, übertrafen damit aber im dritten Jahr nach Ausbruch der Pandemie das Vorkrisen-Niveau um 14,7 Prozent. Während die Industrien im Vereinigten Königreich und in Japan noch Rückstände von 7,3 Prozent
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 16
-20 -10 0 10 20 35 40 45 50 55 60 2020 2021 2022 2023 Schwellenländer entwickelte Volkswirtschaften
beziehungsweise 5,1 Prozent aufzuholen haben, stieg die Produktion in der US-Industrie im Jahresvergleich um 3,4 Prozent, übertraf damit aber das Vorkrisen-Niveau mit 0,2 Prozent nur knapp.
Im ersten Quartal 2023 hat die Industrieproduktion in den entwickelten Volkswirtschaften im Vorquartalsvergleich um 0,5 Prozent abgenommen. Mit Ausnahme des Euroraumes (plus 0,1 Prozent) und dem Vereinigten Königreich (Stagnation) gingen die Industrieaktivitäten in allen Ländergruppen zurück. Der Einkaufsmanagerindex für die Industrien dieser Ländergruppe hat sich seit dem Jahreswechsel 2022 / 2023 leicht erholt, erhielt aber im Mai 2023 mit minus 0,9 Indexpunkten einen kleinen Dämpfer. Darüber hinaus liegt der Index mit 47,6 Punkten noch immer im Kontraktionsbereich. Obwohl sich die weltweite Lieferkettenproblematik entspannt hat, rechnen wir aufgrund des statistischen Unterhangs mit einem Rückgang der Industrieproduktion in den entwickelten Volkswirtschaften um 0,5 Prozent.
Entwickelte Volkswirtschaften: Industrieproduktion*, Einkaufsmanagerindex
restliche entw. Volkswirtschaften Euroraum
Einkaufsmanagerindex saisonbereinigt (linke Achse)
*Produktionsindex: 2-Monatsdurchschnitt, kalender- und saisonbereinigt in Prozent zum Vorjahr
Quellen: Macrobond, Netherlands Bureau for Economic Policy Analysis (CPB)
Schwellenländern
In den Schwellenländern ist die Industrieproduktion mit plus sechs Prozent im ersten Quartal 2022 zunächst kräftig gestiegen. Damit lag die Industrieproduktion erstmals seit zwei Jahren in allen Ländergruppen über dem Niveau vor Ausbruch der Corona-Pandemie. Zum Jahresende lies das Wachstumstempo jedoch nach. Gleichzeitig fiel die Jahreswachstumsrate mit plus 3,8 Prozent etwas niedriger aus als im Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre (plus 4,2 Prozent). Am stärksten legte die industrielle Wertschöpfung in der Region Afrika/Mittlerer Osten zu. Sie war allerdings getrieben von den hohen Preisen für fossile Brennstoffe. Mit plus 7,6 Prozent wurde die höchste Jahreswachstums-
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 17
-25 -15 -5 5 15 25 30 35 40 45 50 55 60
Japan USA
2010 2021 2022 2023
rate seit mehr als 20 Jahren erzielt. In den restlichen asiatischen Schwellenländern sind die industriellen Aktivitäten mit plus 4,4 Prozent erneut stärker gestiegen als in China (plus 3,6 Prozent). Lateinamerikas Industrieproduktion stieg mit plus 2,6 Prozent das zweite Jahr in Folge. Schlusslicht war im Jahr 2022 die Ländergruppe Zentral- und Osteuropa, die einen Produktionsrückgang von minus 1,5 Prozent verzeichnete.
Im ersten Quartal 2023 ist die Industrieproduktion in den Schwellenländern im Vorquartalsvergleich um 2,6 Prozent gestiegen. Angeschoben wurde das Wachstum nahezu ausschließlich durch die stark gestiegenen Aktivitäten in den Industrien der asiatischen Schwellenländer. In Zentral- und Osteuropa sowie in Lateinamerika stieg die Produktion nur leicht. Die Ländergruppe Afrika und Mittlerer Osten erlitt das zweite Quartal in Folge Produktionseinbußen. Der Einkaufsmanagerindex für die Industrie in den Schwellenländern ist im Februar 2023 das vierte Mal in Folge gestiegen und lag mit 51,6 Indexpunkten erstmals seit August 2022 wieder im Expansionsbereich. Dieser wurde auch bis zuletzt im Mai nicht wieder verlassen. Wir rechnen trotz des leichten statistischen Unterhangs mit einem Anstieg der Industrieproduktion in den Schwellenländern um rund ein Prozent.
Schwellenländer: Industrieproduktion*, Einkaufsmanagerindex
und Osteuropa
(ohne China)
Einkaufsmanagerindex saisonbereinigt (linke Achse)
*Produktionsindex: 2-Monatsdurchschnitt, kalender- und saisonbereinigt in Prozent zum Vorjahr
Quellen: Macrobond, Netherlands Bureau for Economic Policy Analysis (CPB)
Welthandel
Die weltweiten Handelsaktivitäten haben sich nach der starken Erholung im Jahr 2021 moderat entwickelt. Nach Angaben des CPB erhöhte sich der weltweite Warenhandel im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 3,2 Prozent. Nachdem die Handelsaktivitäten im ersten Quartal noch stagnierten, stiegen sie im zweiten Quartal um 0,6 Prozent im Vorquartalsvergleich und im dritten Quartal um 1,1 Prozent. Im vierten Quartal gingen die Aktivitäten mit minus zwei Prozent nicht nur im Vorquartalsvergleich zurück. Erstmals nach zwei Jahren fiel auch der Vorjahresvergleich negativ aus.
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 18
35 40 45 50 55 60 2020 2021 2022 2023 -20 -15 -10 -5 0 5 10 15 20 Afrika/Mittlerer
Lateinamerika Zentral-
Asien
China
Osten
Die Schwellenländer exportierten im Jahr 2022 insgesamt 2,9 Prozent mehr Waren als vor Jahresfrist. Mit plus 10,1 Prozent verzeichneten die Ausfuhren aus Afrika und dem Mittleren Osten die stärksten Zuwächse. Aus Lateinamerika wurden sechs Prozent mehr Waren ausgeführt als vor einem Jahr. Erstmals seit fünf Jahren stiegen die Exporte aus den restlichen asiatischen Schwellenländern (plus sechs Prozent) wieder stärker als die Ausfuhren aus China (minus 0,5 Prozent). Die Ausfuhren aus den mittel- und osteuropäischen Schwellenländern sanken mit minus 4,9 Prozent deutlich.
Welt: Exporte nach Herkunftsregionen
Index: 2-Monatsdurchschnitt, kalender- und saisonbereinigt in Prozent zum Vorjahr Quelle:
Die Exporte der entwickelten Volkswirtschaften stiegen im Jahr 2022 um insgesamt 2,8 Prozent. In dieser Ländergruppe gingen die stärksten Impulse vom Vereinigten Königreich aus. Ursache für den starken Anstieg um plus 9,7 Prozent im Vorjahresvergleich war aber das niedrige Ausgangsniveau. Während im Jahr 2021 in nahezu allen Regionen die Exporte um knapp zehn Prozent zugelegt hatten, stagnierten sie in Großbritannien. Aus dem Euroraum wurden 4,3 Prozent mehr Waren ausgeführt als vor Jahresfrist. Die Vereinigten Staaten wiesen mit 4,2 Prozent ein ähnlich hohes Exportplus aus. Die Exporte aus den restlichen entwickelten Volkswirtschaften stiegen mit plus 2,8 Prozent nicht ganz so kräftig. Während Japan seine Exporte mit plus 1,2 Prozent steigern konnte, gingen die Ausfuhraktivitäten der restlichen entwickelten asiatischen Volkswirtschaften um minus 2,1 Prozent zurück.
Am aktuellen Rand stagnierten die weltweiten Exporte. Dabei sanken die Exporte aus den entwickelten Volkswirtschaften im ersten Quartal 2023 um 1,4 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Die Ausfuhren aus den Schwellenländern stiegen im gleichen Zeitraum um 2,7 Prozent deutlich an und kompensierten damit den Rückgang aus den entwickelten Volkswirtschaften. Trotz des schwachen Jahresstarts rechnen wir für das Jahr 2023 mit einem Anstieg des weltweiten Warenhandels um zwei Prozent
USA
Konjunkturelle Entwicklung: Wann kommt die Rezession?
Im vergangenen Jahr dämpften die Zinswende der Fed, der angespannte Arbeitsmarkt, die Null-CovidStrategie in China und auch der Krieg in der Ukraine das US-Wachstum. Trotzdem konnte sich die
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 19
-20 -15 -10 -5 0 5 10 15 20 25 30 2019 2020 2021 2022 2023 entwickelte Volkswirtschaften Schwellenländer
Macrobond
US-Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte etwas erholen, unter anderem dank gestiegener Exporte und Konsumausgaben. Insgesamt lag das BIP-Wachstum 2022 bei 2,1 Prozent. Der Start ins laufende Jahr verlief moderat. Im erste Quartal 2023 wuchs das US-BIP laut der zweiten Schätzung des Bureau of Economic Analysis (BEA) auf das Jahr gerechnet um 1,3 Prozent. Dieses Wachstum spiegelt einen Anstieg der Konsumausgaben, der Exporte, der Staatsausgaben auf Ebene des Bundes, der Einzelstaaten und Gemeinden sowie der Anlageinvestitionen mit Ausnahme von Immobilien wider. Diese Faktoren wurden teilweise durch Rückgänge bei den privaten Lagerinvestitionen und den Anlageinvestitionen in Immobilien sowie durch gestiegene Importe gedämpft (BEA 2023a).
Für die Jahre 2023 und 2024 erwartete die OECD im Juni 2023 ein BIP-Wachstum von 1,6 Prozent beziehungsweise 0,9 Prozent (OECD 2023). Für diese Verlangsamung sorgt vor allem die anhaltende restriktive Geldpolitik zur Inflationsbekämpfung, die wiederum den Nachfragedruck dämpft. Der Internationale Währungsfonds (IWF) ging im April 2023 von einem Wachstum von 1,6 Prozent im laufenden Jahr und 1,1 Prozent im Jahr 2024 aus (IWF 2023). Wir rechnen mit einem Prozent realem Wachstum im laufenden Jahr. Solange insbesondere die Kerninflation hoch bleibt und die Fed den Leitzins auf einem hohen Niveau behält, werden die Bedingungen für die Kreditaufnahme schärfer werden und den USA droht früher oder später eine Rezession. Ein Risiko stellt überdies der Bankensektor dar, nachdem nach der Pleite der Silicon Valley Bank und der Übernahme der First Republic Bank durch JPMorgan Chase die Kosten der Kreditaufnahme für regionale Banken gestiegen sind.
Vom Arbeitsmarkt kommen derweil gemischte Signale. Die US-Arbeitslosenquote stieg zwischen April und Mai 2023 von 3,4 Prozent auf 3,7 Prozent (440.000 Personen wurden arbeitslos), bleibt dabei jedoch insgesamt weiterhin auf einem sehr niedrigen Niveau. Gleichzeitig wuchs der Arbeitsmarkt stärker als erwartet um 339.000 Stellen, insbesondere in den Bereichen professionelle und Unternehmensdienstleistungen, im öffentlichen Bereich, im Gesundheitswesen, dem Baugewerbe, dem Transport- und Lagergeschäft, sowie im Sozialwesen. Diese divergierenden Zahlen sind in den unterschiedlichen Erhebungsmethoden begründet. Zur Ermittlung der Arbeitsplätze werden die Arbeitgeber beziehungsweise Unternehmen befragt („establishment survey“), zur Bemessung der Arbeitslosigkeit die
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 20
-4,6 -29,9 35,3 3,9 6,3 7,0 2,7 7,0 -1,6 -0,6 3,2 2,6 1,3 -40 -30 -20 -10 0 10 20 30 40 Q1 Q2 Q3 Q4 Q1 Q2 Q3 Q4 Q1 Q2 Q3 Q4 Q1 2020 2021 2022 2023
Quelle: Bureau for Economic Analysis
U S BIP Wachstum nach Quartalen (annualisiert)
Haushalte („household survey“). In der Befragung der Unternehmen werden Personen, die in mehreren Jobs gleichzeitig arbeiten, mehrfach gezählt, das heißt jede Lohn- und Gehaltsabrechnung wird einzeln gezählt, während die Befragung der Haushalte jeweils nur einmal zählt, ob eine Person beschäftigt oder arbeitslos ist (BLS 2023a, Ponciano 2023). Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Haushaltsbefragung könnte darauf hindeuten, dass mehr Selbstständige arbeitslos werden, die in der „establishment survey“ nicht auftauchen. Neben den Jobzuwächsen insgesamt bauen einige große Unternehmen wie Disney, Accenture, Meta oder auch Lyft derzeit deutlich Stellen ab – zum einen aus Furcht vor einer drohenden Rezession und zum anderen aufgrund von post-pandemischen Anpassungen. Lohnzuwächse nehmen trotz robuster Neueinstellungen ab (Ponciano 2023, Korn 2023). In den nächsten Monaten muss damit gerechnet werden, dass die Arbeitslosenquote als zeitverzögerte Folge geldpolitischer Straffung langsam ansteigt. Die Fed ging im März von einer Arbeitslosenquote zum Jahresende (Median) von 4,5 Prozent aus und von 4,6 Prozent zum Jahresende 2024 (Federal Reserve 2023).
Die Inflation ist zuletzt stärker als erwartet zurückgegangen. Laut Angaben des Bureau of Labor Statistics stieg der Consumer Price Index (All Urban Consumers, CPI-U) im Mai um vier Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat (nicht saisonbereinigt). Seit seinem Höhepunkt von 9,1 Prozent im Juni 2022 sinkt der Index nun kontinuierlich. Die saisonbereinigte Veränderung gegenüber dem Vormonat lag im Mai bei 0,1 Prozent, im April hatte sie 0,4 Prozent betragen (BLS 2023b) Trotzdem ist die Inflation nach wie vor zu hoch und weit vom Zwei-Prozent-Ziel entfernt Allerdings entschied die Fed am 14. Juni zunächst, den Leitzins nicht anzuheben
Nach wie vor sind pandemiebedingte Überersparnisse vorhanden. Die privaten Konsumausgaben stiegen zwischen März und April leicht an um 0,8 Prozent (BEA 2023b). Die Sparquote der privaten Haushalte (als Prozent des verfügbaren Einkommens) war zwischen September 2022 (drei Prozent) und März 2023 (4,5 Prozent) kontinuierlich gestiegen und sank zuletzt leicht auf 4,1 Prozent (BEA 2023c). Die anhaltend hohe Inflation und die Sorge um einen Zahlungsausfall in den vergangenen Wochen wirkten sich auch auf die Laune der US-Konsumenten aus. Zwischen April und Mai schrumpfte der Consumer Confidence Index der U.S. Consumer Confidence Survey (dabei handelt es sich um ein Barometer für die Verbraucherlaune) leicht von 103,7 auf 102,3 Punkte. Dabei verschlechterte sich die Einschätzung der Situation auf dem Arbeitsmarkt (The Conference Board 2023). Auch der Index of Consumer Sentiment der University of Michigan fiel zwischen April und Mai von 63,5 Punkten auf 59,2 Punkte (University of Michigan 2023).
Leichter Anstieg der Exporte im ersten Quartal 2023
Die Ausfuhren von Waren und Dienstleistungen gingen zwischen dem dritten und vierten Quartal 2022 zurück und stiegen im ersten Quartal 2023 wieder etwas, während die Einfuhren zwischen dem dritten und vierten Quartal 2022 zurückgingen und im ersten Quartal 2023 fast dem Niveau des Vorquartals entsprachen. Im ersten Quartal 2023 exportierten die USA Waren und Dienstleistungen im Wert von 771 Milliarden US-Dollar. Das entspricht einem Wachstum gegenüber dem vierten Quartal 2022 um 1,6 Prozent. Die Importe beliefen sich im ersten Quartal 2023 auf 972 Milliarden US-Dollar. Sie gingen gegenüber dem zweiten Quartal minimal um 0,02 Prozent zurück. Das Außenhandelsdefizit (Waren und Dienstleistungen) fiel durch die gestiegenen Exporte im ersten Quartal 2023 kleiner aus als im Vorquartal und belief sich auf 201 Milliarden US-Dollar (BEA 2023d).
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 21
Haushaltsstreit in letzter Minute beigelegt
Die von US-Präsident Biden und dem Republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses Kevin McCarthy geführten Verhandlungen über die Erhöhung der gesetzlich festgelegten Schuldenobergrenze konnten am 29. Mai, wenige Tage bevor die US-Regierung am 5. Juni 2023 zahlungsunfähig geworden wäre, beendet werden Am 3. Juni unterzeichnete Präsident Biden den Fiscal Responsibility Act of 2023. Damit wird die Schuldenobergrenze von zuletzt 31,4 Billionen US-Dollar bis zum 1. Januar 2025 ausgesetzt, sodass die nächste Debatte erst nach den Präsidentschaftswahlen 2024 stattfinden wird.
Die Republikaner hatten erfolgreich auf Ausgabenkürzungen und Obergrenzen für diskretionäre Ausgaben in den kommenden Jahren gedrängt, von denen die Verteidigungsausgaben jedoch größtenteils ausgenommen sind. Bereits bewilligte Mittel für die Steuerbehörde IRS werden teilweise wieder zurückgenommen und nicht ausgegebene COVID-Hilfsgelder eingefroren. Die Zahlungspause für Studienkredite, die die Biden-Administration eingeführt hatte, wird zu September 2023 beendet. Des Weiteren werden die Arbeitsanforderungen für das Lebensmittelhilfsprogramm SNAP und für die Sozialhilfe für Familien (TANF) erweitert. Das Gesetz beinhaltet außerdem Änderungen bei den Umweltprüfungsverfahren für fossile und nicht-fossile Energieprojekte und mehr Möglichkeit für Unternehmen, sich an den Prüfverfahren zu beteiligen. Genehmigungsverfahren für die umstrittene Mountain-ValleyGaspipeline werden beschleunigt.
Nach Einschätzung des Congressional Budget Office (CBO) sorgt der Fiscal Responsibility Act dafür, dass die bisherigen Projektionen für das Haushaltsdefizit im Zeitraum 2023-2033 um etwa 1,5 Billionen US-Dollar niedriger ausfallen als in den Basisprojektionen von Mai 2023 (CBO 2023a). Zuvor war CBO von einem kumulativen Haushaltsdefizit in den Jahren 2024-2033 von 20,2 Billionen US-Dollar (dies entspricht 6,1 Prozent des BIP) ausgegangen (CBO 2023b). Die Ausgabenkürzungen sind zu gering, um die Inflation maßgeblich zu zügeln. Das Haushaltsdefizit und die Staatsschulden der USA bleiben hoch. Die Rating-Agentur Fitch bewertet die USA zwar weiterhin mit der Top-Note „AAA“, behält ihren Ausblick für die Kreditwürdigkeit der USA aber trotz Einigung in letzter Minute auf „negativ“. Wiederholte politische Patt-Situationen rund um das Schuldenlimit und Aussetzungen in letzter Minute schwächten das Vertrauen (Fitch Ratings 2023).
Bidens Sicht auf Amerikas Rolle in der Weltwirtschaft
Insgesamt setzen die USA vermehrt auf Lokalisierungsanforderungen wie „Buy American“ – im Infrastrukturpaket von 2021 (Infrastructure Investment and Jobs Act / Bipartisan Infrastructure Law), im Chips Act oder auch im Inflation Reduction Act. Die nationale Sicherheit ist auch in der Wirtschaftspolitik das höchste Ziel. In einer Rede im April 2023 skizzierte der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan die Sicht der Biden-Administration auf die Rolle der USA in der Weltwirtschaft und in der internationalen Wirtschaftspolitik. Die „alte“ Form der Globalisierung in Form von niedrigeren Zöllen und weniger Staatsintervention habe nicht zu inklusivem Wachstum geführt. Stattdessen müsse es nun darum gehen, die Abhängigkeit von China zu reduzieren und durch Industriepolitik bessere Arbeitsplätze für die Mittelschicht zu generieren. Es wird sich zeigen, ob diese Strategie erfolgreich sein wird. Denn einerseits sorgen die Lokalisierunsanforderungen, die niedrigen Energiepreise und die Steuergutschriften aus dem IRA dafür, dass mehr Investitionen in die USA fließen. Die Subventionen dürften sich jedoch längerfristig nachteilig auf die Wettbewerbsfähigkeit der USA auswirken. Zudem trägt der Trend hin zu mehr heimischer Produktion und erneuerbaren Energien zu einem permanenten Inflationsdruck bei. Auch der Fachkräftemangel könnte Druck auf die Löhne ausüben und darüber hinaus
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 22
die grüne Transformation verlangsamen. Indem sie zudem auf die Verhandlung klassischer Freihandelsabkommen verzichten, schaffen die USA keinen neuen internationalen Marktzugänge für ihre Unternehmen.
China
Der Jahresauftakt in China mit einem BIP-Wachstum von 4,5 Prozent im ersten Quartal erschien recht hoffnungsvoll. Die letzten drei Monate des ausgehenden Jahres 2022 hatten noch unter dem Eindruck der Pandemie-Maßnahmen gestanden, der Zuwachs lag in dieser Periode bei lediglich 2,9 Prozent und drei Prozent für das Gesamtjahr. Nach der Kehrtwende in der Covid-19-Politik ab Anfang Dezember breitete sich die Pandemie in Windeseile aus und erfasste bis zum Frühlingsfest Ende Januar auch die entferntesten Winkel des Landes. Erst ab Februar konnte dann die wirtschaftliche Erholung einsetzen.
Auf der erhöhten Reisetätigkeit rund um das Frühlingsfest und dann nochmals zu den Maifeiertagen ruhten die Hoffnung auf eine Erholung des Konsums. Um den 1. Mai herum wurden dann tatsächlich 19,1 Prozent mehr Reisen gezählt als im Vor-Covid-Jahr 2019. Doch die scheinbare Rückkehr zur Normalität hatte einen Schönheitsfehler: Die Touristen gaben nur 0,7 Prozent mehr aus als vor vier Jahren – der Pro-Kopf-Verbrauch sank also deutlich. Die Verbraucher halten sich trotz des Nachholbedarfs nach drei Jahren Covid-Einschränkungen beim Geldausgeben zurück. Zu groß sind die Sorgen um die wirtschaftliche Entwicklung, den Immobilienmarkt und den eigenen Arbeitsplatz. Auch von außenwirtschaftlicher Seite sind keine entscheidenden Impulse in Sicht. Angesichts der Wachstumsschwäche in den USA und Europa und den anhaltenden geopolitischen Spannungen zwischen China und dem Westen bleiben die Aussichten gedämpft.
Bei den Vorgaben für 2023 ist die Regierung relativ zurückhaltend geblieben. Auf dem Nationalen Volkskongress (NVK) Anfang März gab der scheidende Ministerpräsident Li Keqiang ein BIP-Wachstumsziel von „um die fünf Prozent“ bekannt. Mit Blick auf die schwache Vergleichsbasis des Jahres 2022 erschien dies zwar zunächst nicht zu hoch gegriffen. Allerdings bleibt im Falle anhaltender konjunktureller Schwäche der Spielraum für ausgabenfinanzierte Programme zur Förderung der Investitionen aufgrund der hohen Verschuldung eng. Das laufende Haushaltsdefizit soll 2023 drei Prozent nicht überschreiten (2022: 2,8 Prozent), Special Purpose Bonds vor allem für lokale Infrastrukturprojekte werden in Höhe von 3,8 Billionen Renminbi aufgelegt (2022: 3,65 Billionen Renminbi). Im laufenden Jahr sollen außerdem zwölf Millionen neue städtische Arbeitsplätze geschaffen und die dortige Arbeitslosenquote bei rund 5,5 Prozent gehalten werden. Dies stellt jedoch eine echte Herausforderung dar angesichts eines Rekordjahrgangs von 11,6 Millionen Hochschulabsolventen.
Dienstleistung und Industrie mit Steigerungspotenzial
Unter den Pandemie-Maßnahmen hatte der Dienstleistungssektor besonders zu leiden gehabt. Laut der offiziellen Statistik des National Bureaus of Statistics of China (NBSC) fiel die Erholung in den ersten drei Monaten mit einem Wachstum von 5,4 Prozent im Jahresvergleich insgesamt aber nur moderat aus. Jedoch zeigte sich seit März mit einem Plus von 9,2 Prozent ein steilerer Aufwärtstrend Im April lag der Zuwachs im Dienstleistungssektor dann sogar bei 13,5 Prozent. Im Vorfeld der großen Reisetätigkeit zu den Maifeiertagen stieg der Umsatz im Hotel- und Gastgewerbe sowie im Transportbereich sogar um 48,7 beziehungsweise 18,8 Prozent. Allerdings ist hier auch die Vergleichsbasis besonders niedrig, da im April 2022 die großen Lockdowns von Shanghai ausgehend einen ersten Höhepunkt erreichten.
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 23
Die Industrie hatte einen langsamen Start ins Jahr mit einem Wachstum von drei Prozent im ersten Quartal, wobei das Verarbeitende Gewerbe um 2,9 Prozent zulegte. Auch im April blieb das Wachstum des sekundären Sektors mit 5,6 Prozent unter den Erwartungen der Analysten. Zumindest ließ in diesem Monat das Plus von 13,2 Prozent bei der Produktionsausrüstung auf eine deutlichere Erholung im weiteren Verlauf des Jahres hoffen. Allerdings blieb die Aktivität der Privatunternehmen schwach. Sie legten nur um 1,6 Prozent zu, während die staatlichen Industrieunternehmen immerhin einen Zuwachs von 6,6 Prozent verzeichneten. Wie schwierig die Situation für die Industrie tatsächlich ist, lässt sich an den rückläufigen Gewinnen erkennen. Im April fielen diese in der Industrie um 20,6 Prozent, wobei die Privatunternehmen mit einem Minus von 22 Prozent noch stärker betroffen waren als ihre staatlichen Wettbewerber (minus 17,9 Prozent).
Bei den beiden wichtigen Einkaufsmanagerindizes (PMI) wechseln sich Licht und Schatten ab. Der Caixin PMI für das verarbeitende Gewerbe, der vor allem die Aktivität von kleineren und mittleren Privatunternehmen widerspiegelt, fiel im April unter die Expansionsschwelle von 50 Punkten, auf 49,5 Zähler. Im Mai erholte er sich dann entgegen den Erwartungen auf 50,9 Zähler. Deutlich anders sieht das Bild beim offiziellen PMI des NBSC aus. Dieser misst vor allem die Aktivität größerer Staatsbetriebe. Mit 48,8 Punkten sank dort der Wert für den Mai auf den niedrigsten Wert der letzten fünf Monate, nachdem im April ebenfalls nur 49,2 Zähler gemeldet worden waren. Der offizielle Einkaufsmanagerindex für den Sevicesektor fiel von 56,4 Zählern im April auf 54,5 Punkte im Mai zurück. Im Dienstleistungsbereich scheint damit der Nachholbedarf nach den langen Covid-Beschränkungen allmählich nachzulassen.
Engere Spielräume für Lokalregierungen und Banken
Die Investitionen in Maschinen und Ausrüstungen legten in den ersten drei Monaten um 5,1 Prozent, im April lediglich noch um 4,7 Prozent zu. Dabei stiegen die Anlageninvestitionen von Privatunternehmen im ersten Quartal lediglich um 0,6 Prozent, im April sogar nur um 0,4 Prozent. Bedingt durch die Modernisierungspläne und das Autonomiestreben von Partei und Regierung bleiben aber Ausgaben für Spitzentechnologien weiterhin hoch. So wuchsen zuletzt im April die Anlageinvestitionen in der Hightech-Industrie um 14,7 Prozent, allerdings auch weniger als die 16 Prozent des ersten Quartals.
In die Infrastruktur flossen im April 8,5 Prozent mehr Mittel (Q1: 8,8 Prozent). Hier bleiben die Spielräume für weitere Steigerungen für die Provinz- und Lokalregierungen eng. Die Ausgaben für die Pandemie-Maßnahmen in den vergangenen drei Jahren schlagen hier zu Buche. Hinzu kommt im Zuge der Immobilienkrise der rückläufige Verkauf von Landnutzungsrechten – eine wesentliche Einnahmequelle für Lokalverwaltungen. So gingen die Einnahmen hieraus im vergangenen Jahr laut dem Wirtschaftsmagazin Caixin um über 20 Prozent zurück. Hier ist auch im laufenden Jahr keine große Ausweitung der Verkäufe an die Immobilienentwickler zu erwarten. Diese kämpfen nach wie vor mit Überschuldung, leerstehenden Wohnraum und einer nachlassenden Nachfrage außerhalb der großen Metropolen.
2022 brach der chinesische Immobilienmarkt laut dem IWF um 28 Prozent ein. Trotz der jüngsten Lockerungen der chinesischen Regierung bleibt die Marktentwicklung schwach. Das hat Folgen für den Finanzsektor: Die chinesischen Banken sind stark in dem gebeulten Immobiliensektor engagiert. Insbesondere kleine lokale Banken sind zudem von dem Geschäft mit kleinen und mittleren Unternehmen abhängig. Diese waren besonders von der Corona-Pandemie betroffen. Nach einigen örtlichen Bankenkrisen ist hier mit weiteren Problemen zu rechnen. Gleichzeitig verzeichnen die Finanzierungs-
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 24
gesellschaften der Lokalregierungen Schulden in Höhe von etwa 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Diese Schulden werden nicht in offiziellen Haushalten der Kommunen ausgewiesen. Die genaue Belastung der Verwaltungen ist daher intransparent. Einzelne Provinzen und Städte haben aber in den letzten Wochen deutliche Warnsignale gegeben, dass ihnen die Finanzmittel ausgehen.
Für die People’s Bank of China (PBOC) sind die geldpolitischen Spielräume angesichts des hohen internationalen Zinsniveaus gering. Seit Jahresbeginn schwächelt der Renminbi wieder. Im Mai wurde die psychologisch wichtige Marke von sieben Renminbi zum US-Dollar durchbrochen. Zinssenkungen würden folglich den Kapitalabfluss beschleunigen. In der Folge hält die PBOC seit August letzten Jahres die Sätze für die einjährige und die fünfjährige Prime Loan Rate konstant bei 3,65 beziehungsweise 4,30 Prozent. Statt einer Senkung der Leitzinssätze präferiert die Zentralbank eine Reduzierung der Mindestreservesätze. Nach drei Senkungen im vergangenen Jahr führte die PBOC im März den durchschnittlichen Mindestreservesatz um weitere 25 Basispunkte auf 7,6 Prozent zurück. Mit diesem Schritt wurden geschätzt rund 500 Milliarden Yuan (72,6 Milliarden US-Dollar) an zusätzlicher Liquidität freigesetzt. Analysten gehen davon aus, dass die Zentralbank in den kommenden Monaten abermals eine Senkung der Mindestreservesätze ins Auge fassen wird.
Exporte zuletzt im Plus, Einfuhren weiter im Minus
Nach einer Durststrecke von fünf Monaten mit rückläufigen Ausfuhren schossen im März die Exporte in US-Dollar gerechnet um 14,8 Prozent nach oben. Im Januar und Februar war noch ein Minus von 10,5 beziehungsweise 1,3 Prozent verzeichnet worden. Allerdings fiel der Zuwachs bei den Exporten bereits im April wieder auf 8,5 Prozent zurück. Eine gedämpfte internationale Konjunktur und anhaltende geopolitische Spannungen dürften auch für die kommenden Monate das Wachstumspotenzial bei den Ausfuhren begrenzen.
Auffällig ist eine Neuorientierung des Außenhandels in die ASEAN-Region, wohin die Ausfuhren im März um 35,4 Prozent anstiegen. In die EU legten die Exporte im selben Monat lediglich um 3,4 Prozent zu, in die USA schrumpften sie sogar um 7,9 Prozent. Das Highlight unter den Ausfuhren stellen sicherlich die Autoexporte – angeführt von Elektrofahrzeugen – dar. Im ersten Quartal gelang es China mit 1,07 Millionen ausgeführten Fahrzeugen (plus 58 Prozent gegenüber dem Vorjahr) Japan von Platz eins der Autoexportländer zu verdrängen. Chinas Handelsbilanzüberschuss lag im April bei 90,2 Milliarden US-Dollar nach 88,2 Milliarden im März.
Auf der Einfuhrseite setzt sich der Negativtrend weiter fort. Nach einem zweitstelligen Minus zum Jahresauftakt in Höhe von 21,4 Prozent (in US-Dollar), stabilisierten sich die Importe im Februar kurz mit einem Plus von 4,2 Prozent, um dann im März und April abermals um 1,4 beziehungsweise 7,9 Prozent zu fallen. Der fast ununterbrochene Rückgang der Einfuhren zeigt eine anhaltend schwache Inlandsnachfrage und eine unzureichende Erholung der Inlandskonjunktur nach den langen Pandemie-Einschränkungen an.
Einzelhandel und Kaufbereitschaft enttäuschen
Ein weiterer Indikator für die schwache konjunkturelle Lage ist der zuletzt anämische Anstieg der Verbraucherpreise. Im April stieg der Verbraucherpreisindex nur noch um 0,1 Prozent nach 1,3 Prozent über das erste Quartal gesehen. Auf der anderen Seite fiel der Erzeugerpreisindex für Industrieprodukte in den ersten drei Monaten um 1,6 Prozent und beschleunigt im April um 3,6 Prozent. Noch im
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 25
gleichen Monat des Vorjahres hatte die Sorge vorgeherrscht, dass der Anstieg der Erzeugerpreise um acht Prozent inflationäre Tendenzen nach sich ziehen würde.
Der Einzelhandel bietet ein uneinheitliches Bild. Nach einem Rückgang von 2,7 Prozent in den letzten drei Monaten 2022 stiegen die Erlöse im ersten Quartal gegenüber dem Vorjahr immerhin um 5,8 Prozent. Im April verzeichnete man ein zweistelliges Umsatzplus von 18,4 Prozent, allerdings auf der schwachen Vergleichsbasis des großen Konsumeinbruchs zu Beginn der großen Lockdowns im vergangenen Jahr. Tatsächlich waren die Einzelhandelserlöse im Vergleich zum Vormonat um 7,8 Prozent gefallen. Von dem erhofften „revenge spending“ der Verbraucher kann also keine Rede sein, wenn man von einem gewissen Nachholkonsum beim Gast- und Reisegewerbe einmal absieht. Gerade bei langlebigen Konsumgütern bleiben die Käufer zurückhaltend. So ging der PKW-Absatz im ersten Quartal um 13,4 Prozent gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum zurück. Das Plus von 7,2 Prozent im April war ebenfalls auf einen Basiseffekt zurückzuführen.
Ein wesentlicher Unsicherheitsfaktor, der offensichtlich die Kaufbereitschaft der Verbraucher belastet, ist die Situation am Arbeitsmarkt. Nicht nur, dass vor allem viele Technologieunternehmen und insbesondere Internetkonzerne immer wieder durch Entlassungen von sich reden machen, auch das Lohnniveau sinkt, was insbesondere Berufseinsteiger zu spüren bekommen. So ist die Gruppe der 16- bis 24-Jährigen auch am stärksten von Beschäftigungslosigkeit betroffen. Seit das NBSC 2018 eine eigene Messung für die Arbeitslosenquote dieser Altersgruppe eingeführt hat, wurde im April mit 20,4 Prozent eine neue Rekordmarke gemessen. Zumindest ging die offizielle Gesamtquote der Beschäftigungslosen um einen Zehntelpunkt auf 5,2 Prozent zurück.
Europas Wirtschaft erholt sich langsam
Europas Wirtschaft dürfte sich dieses Jahr allmählich vom Schock des russischen Angriffskriegs und der Energiepreise erholen. Besonders erfreulich war, dass sich die Schocks nicht deutlich auf den Arbeitsmarkt ausgewirkt haben und es auch nicht für die nächsten beiden Jahre danach aussieht. So notierte die Arbeitslosigkeit bei knapp über sechs Prozent der aktiven Erwerbsbevölkerung (15-74 Jahre) und damit auf historischem Tiefstand, während der Beschäftigungsaufbau sich fortsetzte und ebenfalls Rekordstände erreichte (bei einer Erwerbspersonenbeteiligungsquote von 65 Prozent). Arbeitskräfte blieben EU-weit knapp.
Die wirtschaftliche Leistung war zwar 2022 um 3,5 Prozent gestiegen, im vierten Quartal kam es jedoch zu Rückschlägen (EU: minus 0,1; EA: Null Prozent). Auch der Jahresauftakt war durch ein Minus im Euroraum geprägt (minus 0,1 Prozent), während es für die EU noch für ein kleines Plus reichte (plus 0,1 Prozent). Dazu trugen die gesunkenen Energiepreise, die Stützungsmaßnahmen der Regierungen, die stabile Lage auf dem Arbeitsmarkt und die wieder anziehenden Vertrauensindikatoren bei. In den weiteren Quartalen ist mit etwas höheren Raten zu rechnen, so dass es für ein Wachstum von 0,7 Prozent in diesem Jahr und gut anderthalb Prozent im nächsten Jahr reichen dürfte, zumal der statistische Überhang bei 0,3 Prozent im Euroraum liegt (EU: 0,4 Prozent) (Europäische Kommission 2023). Gleichwohl bleiben Abwärtsrisiken für die Prognose relevant, zumal sich die recht gute Erholung bei den Dienstleistungen mit einer jüngeren Schwächephase in der Industrie und der Bauwirtschaft paart.
Die hohe Inflation und die geldpolitische Straffung werden den Wachstumsspielraum für die privaten Konsumausgaben und die Investitionen dieses Jahr sehr eng halten. Die Kommission rechnet mit ei-
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 26
nem leichten Zuwachs um ein halbes Prozent beim Verbrauch und ein knappes Prozent bei den Investitionen, dank stabiler Investitionen der öffentlichen Hand und der Ausrüstungen. 2024 sollten beiden eher wieder um die zwei Prozent zulegen. Der Außenbeitrag dürfte das Wachstum solide in beiden Jahren mit einem halben Prozentpunkt stützen, da trotz moderater Exportaussichten die Güterimporte deutlich zurückgehen dürften (vor allem aufgrund der Energie-, Rohstoff- und Nahrungsmittelimportpreise).
In diesem Jahr werden die Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten noch recht bedeutsam bleiben, da das Inflations- und Wachstumsbild in den baltischen Staaten und den skandinavischen Ländern einerseits und den südeuropäischen Ländern andererseits noch deutlich auseinanderfällt, hauptsächlich aufgrund der unterschiedlichen Auswirkungen des Russlands- beziehungsweise Energieschocks sowie des Zinsschocks auf dem Häusermarkt
Prognose 2023 Prognose 2024
Quelle: Macrobond
Frankreichs Erholung festigt sich
Dieses Jahr wird für die französische Wirtschaft ein Jahr der graduellen Erholung (0,7 Prozent), der im nächsten Jahr ein breit basiertes Wachstum folgen sollte (1,4 Prozent). Die Investitionstätigkeit, die Konsumausgaben und der Außenbeitrag dürften das Wachstum dieses Jahr über ein halbes Prozent anheben. Im nächsten Jahr wird die Inlandsnachfrage dann für mehr Schwung sorgen. Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte bleibt weiterhin schwierig, wird aber leichte Fortschritte verzeichnen.
Italiens Wachstum auf Kurs
Die Resilienz der italienischen Wirtschaft erstaunt Beobachter schon einige Monate. Fürchtete man im letzten Sommer noch einen erheblichen Einbruch der industriellen Produktion angesichts der hohen
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 27
-1 0 1 2 3 4
BIP Wachstumsprognose 2023 / 2024
Gasabhängigkeit der Wirtschaft, erwies sich das Krisen-Management der Draghi-Regierung und die an Kontinuität orientierte Wirtschaftspolitik der neuen Dreiparteienregierung doch als hilfreich. Trotz einiger Umsetzungsschwierigkeiten beim Aufbau- und Resilienzprogramm stützt dieses die Investitionstätigkeit spürbar; diese dürfte robust mit knapp drei Prozent zulegen. Industrieproduktion und Exporte werden auch spürbar zulegen, und dank nahezu stagnierender Einfuhren wird der Außenbeitrag das Wachstum mit einem halben Prozent stützen. Dazu trug auch die Überförderung in der privaten Gebäudeeffizienzsanierung bei. Die Konsumausgaben erweisen sich dank einer gewissen Nutzung von Überersparnissen aus der Corona-Zeit als resilient. Dazu tragen auch leichte Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt bei. Italien dürfte dieses und nächstes Jahr mit über einem Prozent wachsen, seine Stützungsmaßnahmen für die Energiekosten deutlich zurückfahren und fiskalisch spürbare Konsolidierungsfortschritte bei noch fortbleibend hohen Defiziten (2023: 4,5 Prozent BIP) erzielen.
Spanien und Niederlande mit gutem Ausblick
Spanien hatte im letzten Jahr eine regelrechte Aufholjagd hingelegt und ein Wachstum von 5,5 Prozent verzeichnet. Trotz der Dämpfung aufgrund von Energiekosten und Inflation in der zweiten Jahreshälfte zog die Produktion im ersten Quartal um ein halbes Prozent an. Die Konsumausgaben sollten ab Frühjahr ebenfalls wieder kräftig zulegen, und die Investitionstätigkeit profitiert vom großen spanischen Aufbau- und Resilienzprogramm. Für das Jahr ist mit knapp zwei Prozent Wachstum zu rechnen. Damit dürfte die spanische Wirtschaft das Vorkrisen-Niveau dann überschreiten. Auch die Niederlande befinden sich noch auf hohem Niveau. Nach sehr kräftigen 4,5 Prozent im letzten Jahr dürfte die Wirtschaft dieses Jahr mit 1,8 Prozent vergleichsweise gut zulegen (2024: 1,2 Prozent), auch wenn hier der Überhang kräftig mithilft. Eine starke Entwicklung der Beschäftigung, Lohnsteigerungen und der öffentliche Verbrauch unterstützen auch dieses Jahr die Konsumausgaben. Die Investitionstätigkeit und der Außenbeitrag werden dagegen dieses und nächstes Jahr nur sehr geringe Wachstumsimpulse geben
Deutschland
Deutschland befand sich im Winterhalbjahr in einer technischen Rezession, von der sich das Land nur langsam erholt. Das BIP-Wachstum wird im laufenden Jahr vor allem vom privaten Konsum ausgebremst, der aufgrund der hohen Inflation zu Jahresbeginn stark zurückgegangen ist. Erst in der zweiten Jahreshälfte dürfte sich die Situation aufgrund des abnehmenden Preisauftriebs etwas bessern. Ähnlich ist auch die Entwicklung beim öffentlichen Konsum. Der Rückgang hier erklärt sich vor allem durch die nicht mehr anfallenden Ausgaben zur Pandemie-Bekämpfung. Auch die Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung zur Kompensation der hohen Energiepreise dürften deutlich niedriger ausfallen als noch zu Jahresbeginn befürchtet. Auch die Entwicklung bei den Investitionen bleibt in der Summe schwach. Bei den Ausrüstungsinvestitionen und den Investitionen in sonstige Anlagen (Patente, Lizenzen) dürfte es aufgrund des hohen Nachholbedarfs einen Anstieg geben. Durch den starken Rückgang bei den Bauinvestitionen, die etwas mehr als die Hälfte der Bruttoanlageinvestitionen ausmachen, dürften die Bruttoanlageinvestitionen leicht sinken. Die positiven Impulse kommen vom Außenbeitrag. Hier halten wir unsere Exportprognose von plus zwei Prozent aufrecht. Da die Importe aufgrund sinkender Energie- und Rohstoffpreise stagnieren, geht vom Außenbeitrag ein Wachstumsimpuls von 0,9 Prozentpunkten aus. Alles in allem rechnen wir damit, dass das Bruttoinlandsprodukt im laufenden Jahr gegenüber dem Vorjahr in realer Rechnung stagniert (BDI 2023).
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 28
Quellenverzeichnis
BDI (2023). Quartalsbericht II / 2023. Konjunkturelle Erholung verzögert sich | Stagnation im Gesamtjahr wahrscheinlich. 19. Juni. Berlin.
Behsudi, Adam (2023): The ‘rift is there’: China vs. the world on global debt. Politico. 11. April.
Bureau of Economic Analysis (2023a). Gross Domestic Product (Second Estimate), Corporate Profits (Preliminary Estimate), First Quarter 2023. 25. Mai. Washington, D.C.
(2023b). Personal Income and Outlays, April 2023. 26. Mai. Washington, D.C.
--(2023c). National Income and Product Accounts. Table 2.6. Personal Income and Its Disposition, Monthly. 26. Mai. Washington, D.C.
(2023d). Table 1. U.S. International Trade in Goods and Services 7. Juni. Washington, D.C.
Bureau of Labor Statistics (2023a). Employment Situation Summary. 2. Juni Washington, D.C.
--(2023b). Consumer Price Index Summary. 10. Mai. Washington, D.C.
Caixin Global (2023): Artikel China Sees Land Sales Flat at $1.1 Trillion This Year 7. März.
Congressional Budget Office (2023a). Letter to Speaker McCarthy: Re: CBO’s Estimate of the Budgetary Effects of H.R. 3746, the Fiscal Responsibility Act of 2023. 30. Mai. Washington, D.C. (2023b). An Update to the Budget Outlook: 2023 to 2033. Mai. Washington, D.C.
Economist, the (2023): China and the West take a step to ease Africa’s debt crisis. 18. Mai.
Europäische Kommission (2023): European Economic Forecast. Spring 2023. Mai. Brüssel
Europäische Zentralbank (2023): Monetary policy decisions [Pressemitteilung]. 4. Mai.
Federal Reserve Board of Governors (2023). March 22, 2023: FOMC Projections materials, accessible version. 22. März. Washington, D.C.
Federal Reserve System (2023): Financial Stability Report. Mai. Washington, D.C.
Fitch Ratings (2023). Despite Debt Limit Agreement U.S. ‘AAA’ Rating Remains on Negative Watch. 2. Juni. New York.
Georgieva, K., C. Pazarbasioglu, (2021): The G20 Common Framework for Debt Treatments Must Be Stepped Up. Internationaler Währungsfonds. 2. Dezember.
Internationaler Währungsfonds (2023): Global Financial Stability Report: Safeguarding Financial Stability amid High Inflation and Geopolitical Risks. April, Washington, D.C.
(2023a): World Economic Outlook. April. Washington, D.C..
Kirkegaard, Jacob Funk (2023): The Surprisingly Shock Resilient European Economy. PIIE Global Economic Prospects Event. Washington, D.C.: PIIE. 28. März.
Korn, Jennifer (2023). 2023 layoff tracker: The latest on which companies have announced job cuts. CNN. 27. April.
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 29
Mercator Institute for China Studies (2023): Artikel. Navigating the path to recovery and growth. 23. April
National Bureau of Statistics of China (2023): Artikel. National Economy Made a Good Start in the First Quarter. 18. April.
--- (2023): Artikel. National Economy Sustained the Good Momentum of Recovery in April 16. Mai
(2023): Daten. PMI. April.
OECD (2023): OECD Economic Outlook. April. Paris
Reuters (2023): Artikel. China's factory activity swings to surprise growth in May. 1. Juni.
(2023): Artikel. China's factory activity falls faster than expected as recovery stumbles. 31. Mai.
--- (2023): Artikel China holds lending rates steady; market sees reserve ratio cut as next move. 22. Mai.
--- (2023): Artikel. China cuts banks' reserve ratio for first time in 2023 to aid recovery. 17. März.
Ponciano, Jonathan (2023). Labor Market Added Staggering 339,000 Jobs Last Month But Unemployment Rate Rose To 3.7%. Forbes. 2. Juni
The Conference Board (2023). Consumer Confidence Survey. 30. Mai.
University of Michigan (2023). Surveys of Consumers.
Impressum
Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI) Breite Straße 29 10178 Berlin
T: +49 30 2028-0 www.bdi.eu
Lobbyregisternummer R00053
Autoren
Dr. Klaus Günter Deutsch
T: +49 30 2028 1591 k.deutsch@bdi.eu
Stefan Gätzner
BDI-Vertretung, Peking
T: +86 1085 322862 s.gaetzner@bdi.eu
Julia Howald
T.: +49 30 2028 1483 j.howald@bdi.eu
Thomas Hüne
T: +49 30 2028 1592 t.huene@bdi.eu
Antonia Helena Sanllorente
Praktikantin
Research, Industrie- und Wirtschaftspolitik
Redaktion / Grafiken
Marta Gancarek
T: +49 30 2028 1588 m.gancarek@bdi.eu
Weltwirtschaft auf der Durststrecke | Schwaches Wachstum, ungleich verteilt 19/06/2023 30