30 Jahre Binnenmarkt: Europas
unvollendete Erfolgsgeschichte
BDI-Forderungen zur Weiterentwicklung und Vertiefung des europäischen Binnenmarkts
Zusammenfassung
Auch drei Jahrzehnte nach seinem Inkrafttreten bleibt der europäische Binnenmarkt fragmentiert. Der freie Verkehr von Gütern, Dienstleistungen, Personen, Kapital und Daten ist in vielen Bereichen immer noch Wunschdenken. Der EU entgehen dadurch bis zu 1,1 Billionen Euro oder bis zu 8,6 Prozent an zusätzlichem EU-Bruttoinlandsprodukt (BIP). Angesichts dieser potenziell enormen Wachstumsgewinne und der zentralen Bedeutung eines starken Binnenmarkts für den politischen und wirtschaftlichen Einfluss Europas in der Welt, diskutiert das vorliegende Forderungspapier zehn industriepolitische Maßnahmen, um die Vertiefung des Binnenmarkts voranzutreiben und sein verborgenes Potenzial zu erschließen.
30 Jahre Binnenmarkt: Europas größte (unvollendete) Erfolgsgeschichte
Dieses Jahr feiert der Binnenmarkt sein dreißigjähriges Jubiläum. Neben der Wahrung dauerhaften Friedens ist der gemeinsame Markt die größte Errungenschaft des europäischen Integrationsprojekts:
• Mit mehr als 450 Millionen Bürger*innen und 22 Millionen Unternehmen aus 27 Staaten ist er der größte gemeinsame Markt der Welt.
• Dank einer Wirtschaftsleistung von knapp 16 Billionen US-Dollar ist er nach den USA der global zweitgrößte Wirtschaftsraum.
• Handel innerhalb der EU und mit dem Rest der Welt ist für fast ein Drittel des gesamten Welthandels verantwortlich.
• Seit seinem Inkrafttreten hat er das BIP seiner Mitgliedstaaten zwischen zwölf und 22 Prozent erhöht und mehr als 2,7 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen.
Der Binnenmarkt bildet somit die zentrale Grundlage für Erfolg, Prosperität und den internationalen Einfluss Europas – heute und in Zukunft.
Vollendeter Binnenmarkt bleibt Wunschdenken
Trotz dieser Erfolgsgeschichte bleibt der Binnenmarkt Europas größte und wichtigste Baustelle. Nach wie vor sind grenzüberschreitend tätige Unternehmen – allen voran kleine und mittlere Unternehmen (KMU) – mit einer Vielzahl von Barrieren und Hindernissen konfrontiert: divergierende nationale Rechtsrahmen, hoher Verwaltungsaufwand, fehlender Zugang zu Informationen, bis hin zur Marktabschottung. Oft übersteigt die Überwindung dieser Barrieren die Kapazitäten der Firmen bzw. den avisierten Nutzen einer Expansion. In Realität ist der in den EU-Verträgen geregelte freie Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen, Kapital und Daten oft Wunschdenken. Letztendlich untergräbt dies Scale-up und Wachstum europäischer Unternehmen und kostet die EU bis zu 1,1 Billionen Euro oder bis zu 8,6 Prozent an zusätzlichem EU-BIP.
Politische Versprechen endlich einlösen: Forderungen der deutschen Industrie
Der Abbau dieser Barrieren und die weitere Vertiefung des Binnenmarkts ist ein langjähriges Versprechen europäischer und nationaler Politik, welches bis heute uneingelöst bleibt. Angesichts der potenziell enormen Wachstumsgewinne und der zentralen Bedeutung eines starken Binnenmarkts für den politischen und wirtschaftlichen Einfluss Europas in der Welt, erhebt der BDI folgende zehn industriepolitische Forderungen:
1. Weiterentwicklung des Binnenmarktes zur politischen Top-Priorität erklären
Die Vertiefung des Binnenmarktes in allen Bereichen muss wieder zu einer politischen Top-Priorität der EU werden. Die EU-Kommission sollte die individuellen Politikstrategien ressortübergreifend zusammenschließen. Die Priorisierung auf den Binnenmarkt muss sich auch im Aufbau und in den Arbeitsweisen der Kommission widerspiegeln. Die EU-Institutionen müssen einen gemeinsamen Aktionsplan mit konkreten Maßnahmen, Zielsetzungen und einem klar definierten Zeitrahmen für die weitere Integration des Binnenmarkts erarbeiten. Mitgliedstaaten dürfen (vermeintliche) nationale Befindlichkeiten nicht länger als Vorwand nutzen, um die Vertiefung des Binnenmarkts zu blockieren.
2. Unerschlossene Potenziale im Dienstleistungssektor freisetzen
Der Anteil des Dienstleistungssektors am Intra-EU-Handel beträgt heute nur 20 Prozent oder 6,5 Prozent des EU-BIP – trotz seiner enormen und steigenden Bedeutung, auch und gerade für das
herstellende Gewerbe. Die industriepolitische Strategie der EU muss angesichts der rasant fortschreitenden Servitisierung der Industrie daher auch stets die Verbindungen der Industrie zur Dienstleistungswirtschaft berücksichtigen. Die Mitgliedstaaten ihrerseits sind aufgefordert, die EU-Dienstleistungsrichtlinie endlich vollständig und ordnungsgemäß umzusetzen. Ferner müssen das Notifizierungsverfahren für dienstleistungsbezogene Maßnahmen reformiert und die Anwendung des Proportionalitätstests gestärkt werden. Schließlich muss die Entsendung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über EU-Ländergrenzen hinweg erleichtert werden.
3. Wiederbelebung des „New legislative Framework“ (NLF) forcieren
Dank des New Legislative Framework der EU (NLF), dem Hauptpfeiler des Binnenmarkts für Produkte, können deutsche Unternehmen ihre Produktein ganz Europa frei vermarkten. Allerdings führt die mangelnde und inkonsistente Anwendung der Grundsätze des NLF in der Vergangenheit oft zu einer fehlenden Kohärenz zusammenhängender Rechtsvorschriften. Nur eine konsistente Anwendung garantiert einen funktionierenden, modernen und wettbewerbsfähigen Binnenmarkt. Die deutsche Industrie fordert daher, das NLF wieder konsistent anzuwenden, um ein bürokratisches und regulatorisches Durcheinander in einem künftig grünen und digitalen Binnenmarkt zu verhindern.
4. Europa vernetzen, Transport und Mobilität steigern
Die Mobilität von Personen und Gütern gehört zu den fundamentalen Freiheitsrechten der EU und ist unentbehrlich für den reibungslosen Betrieb des Binnenmarktes. Grundvoraussetzung für das Erreichen der ambitionierten Klimaschutzziele im Verkehr ist ein verstärkter und beschleunigter Aus- und Aufbau von Infrastrukturen für alle Verkehrsträger: verbindlich, flächendeckend und durchlässig mit erforderlichen Lade- und Tankinfrastrukturen sowie digitalen Lösungen wie European Train Control System (ETCS) oder Single European Sky (SES). Klimaschutzmaßnahmen im Luft- und Seeverkehr müssen wettbewerbsneutral umgesetzt werden, um leistungsfähige internationale Verkehrsanbindungen für Europa zu garantieren. Zur Harmonisierung des Binnenmarkts und Finanzierung des Markthochlaufs grüner Flugkraftstoffe schlägt der BDI die Umwandlung nationaler Luftverkehrssteuern in eine endzielbezogene europäische Klimaabgabe für den Luftverkehr vor. Insbesondere in Krisenzeiten ist die Schaffung sowie das Offenhalten der grenzüberschreitenden Transportwege z.B. durch sog. Solidarity oder Green Lanes für den freien Personen- und Güterverkehr unverzichtbar.
5. Europäischen Markt für nachhaltige Kreislaufwirtschaft schaffen
Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft und der Transformation der Industrie muss der Binnenmarkt Unternehmen einen kohärenten, innovationsfreundlichen und rechtssicheren Ordnungsrahmen bieten. Er muss gewährleisten, dass Material- und Produktkreisläufe geschlossen und innovative chemische Stoffe und Produkte zur Bewältigung der Transformation zur Verfügung stehen. Ungerechtfertigte Produkt- und Stoffverbote gefährden diese Entwicklung und müssen vermieden werden. Vielmehr müssen die Wiederverwendung und das Recycling von Produkten und Rohstoffen im Fokus stehen.
6. Chancen der Digitalisierung voll nutzen
Gerade einmal 28 Prozent der deutschen Unternehmen weisen einen hohen Digitalisierungsstand beim eigenen Datenmanagement auf und werden als digital klassifiziert. Doch anstatt den digitalen Binnenmarkt zu vertiefen und Unternehmen in ihren Digitalisierungsbemühungen zu fördern, drohen die aktuellen Entwürfe sowohl für das EU-Daten- als auch das EU-KI-Gesetz Unternehmen in der Entwicklung von daten- und KI-basierten Digitalinnovationen „Made in Europe“ zu bremsen. Die dringend benötigte internationale Aufholjagd von Europas Halbleiterindustrie wird ferner durch fehlende
finanzielle Ressourcen und einen fehlgeleiteten Krisenreaktionsmechanismus untergraben. Der BDI fordert daher u.a. eine engere Definition von „KI-Systemen“ und „Hochrisiko-KI“ im EU AI Act sowie einen besseren Schutz von Geschäftsgeheimnissen der „Dateninhaber“ im EU-Data Act. Zugleich müssen sich Rat und Parlament auf einen finanziell ambitionierteren EU Chips Act, der alle Halbleitergrößen fördert, und eine Streichung des bürokratischen und nicht zielführenden Krisenreaktionsmechanismus für Halbleiter verständigen, um Europas Halbleiterökosystem nachhaltig zu stärken.
7. Europäischen Energiebinnenmarkt verwirklichen
Die Vorteile des liberalisierten, europäischen Energiebinnenmarktes sind vielfältig und reichen von mehr Wettbewerb, mehr Markttransparenz, niedrigeren Preisen bis zu höherer Effizienz und Produktentwicklung im Interesse der Kunden. Aufgrund des integrierten Energiemarktes und seiner grenzüberschreitenden Infrastruktur konnte Europa zudem im vergangenen Krisenjahr vor noch höheren Preis- und Versorgungsschwankungen bewahrt werden. Es gibt auch in Krisenzeiten keinen Grund, das Rad zurückzudrehen, sondern die Notwendigkeit, an einem marktwirtschaftlichen, europäischen Strommarktdesign festzuhalten. Nationale Alleingänge sind keine Lösung.
8. EU-Richtlinien für öffentliche Aufträge nicht aushöhlen
Der Zugang zu öffentlichen Beschaffungen nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Mitgliedstaaten der EU ist für deutsche Unternehmen weiterhin von erheblicher Bedeutung. Nach wie vor kommt es teils noch zu Marktabschottungen und fehlerhaften Vergaben. Die EU-Vergaberichtlinien, die rechtliche Garantien für Marktöffnung und einen effektiven Vergaberechtsschutz enthalten, bleiben daher essenziell für die exportorientierte deutsche Industrie. Der Geltungsbereich dieser Richtlinien darf nicht reduziert werden. Teilweise geforderte Erhöhungen der Schwellenwerte, ab denen diese Richtlinien gelten, sind nachdrücklich abzulehnen.
Bislang besteht kein gemeinsames Körperschaftsteuersystem in der EU. Grenzüberschreitend tätige Unternehmen sehen sich mit 27 verschiedenen nationalen Steuersystemen und Vorschriften zur steuerlichen Gewinnermittlung konfrontiert. Die Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung in der EU durch ein neues Körperschaftsteuersystem („Business in Europe: Framework for Income Taxation (BEFIT)“ wäre daher ein richtiger Schritt, um steuerliche Barrieren im Binnenmarkt abzubauen. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Verringerung von Compliance-Kosten für Unternehmen (zum Beispiel durch die Möglichkeit einer einzigen EU-Körperschaftsteuererklärung in Verbindung mit einer einzigen Anlaufstelle (One-Stop-Shop-Verfahren)). Es muss sichergestellt werden, dass BEFIT mit den laufenden Arbeiten zum Zwei-Säulen-Modell der OECD im Einklang steht.
10. Governance stärken und besser(es) Recht setzen
Nicht nur Europas Geschäftsmodelle müssen global wettbewerbsfähig sein, sondern auch sein Regulierungssystem. Effiziente Rechtsrahmen mit intelligenten Gesetzen sind entscheidend, um europäische Unternehmen zu den Gewinnern der grünen und digitalen Transformation zu machen. Doch sowohl bei der Ausarbeitung neuer Gesetze als auch bei ihrer Um- und Durchsetzung besteht Verbesserungsbedarf. Die EU-Kommission muss bei der Ausarbeitung neuer Initiativen die Prinzipien und Instrumente für bessere Rechtsetzung systematischer und konsequenter anwenden, um unnötige regulatorische und bürokratische Belastungen zu vermeiden. Mitgliedstaaten müssen europäisches Recht ordnungsgemäß und 1:1 um- und durchsetzen. Die EU-Institutionen und Mitgliedstaaten müssen gemeinsam die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die verbleibenden Hindernisse und Barrieren für grenzüberschreitende Tätigkeit im Binnenmarkt abzubauen.
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