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Stichtagsregelung für alle Verfahren einführen
Verantwortung von Behörden und Betreibern stärken
20.06.2024
Soweit ersichtlich, verbietet weder eine Norm des Primär- noch Sekundärrechts eine solche Stichtagsregelung im nationalen Immissionsschutzrecht ausdrücklich. Auch der Rechtsprechung des EuGH lässt sich – soweit ersichtlich – bisher keine entsprechende, allgemeingültige Aussage zu nationalen Stichtagsregelungen entnehmen.
Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, Februar 2024
Einleitung
Antragsunterlagen müssen bis zum Zeitpunkt der Genehmigung, also der Erteilung des Bescheides, aktuell gehalten werden. Ändern sich im Zuge des Verfahrens die gesetzlichen Vorgaben, muss nachgebessert werden.
Bei einer Stichtagsregelung wird ein bestimmtes Datum festgelegt, bis zu dem alle relevanten Planungsunterlagen und Gutachten abgeschlossen und öffentlich gemacht werden müssen. Stichtagsregelungen sollen verhindern, dass immer wieder neue Anpassungen an veränderte rechtliche Rahmenbedingungen erfolgen müssen, indem die Rechtslage zu einem bestimmten Datum abgesteckt wird.
Bei den LNG-Projekten ist gerade zu sehen, dass Vorhaben in bislang beispielloser Geschwindigkeit geplant und zugelassen werden können, weil ein entsprechender politischer Wille besteht. Eine nachhaltige Planungsbeschleunigung in der Breite kann aber nur der Gesetzgeber bewirken. Neben einer Anpassung der europäischen Richtlinien – etwa zum Gebietsschutz mit ihrem außerordentlich strengen Vorsorgemaßstab oder zum Artenschutz – bestehen auch auf nationaler Ebene wirksame Ansätze. Besondere Bedeutung kommt der Einführung praxistauglicher Stichtagsregelungen zu. Das
betrifft nicht nur die Anwendung von Rechtsvorschriften, sondern vor allem die Daten- und Methodenaktualität bei Umweltuntersuchungen.
Im Umweltrecht und Arbeitsschutz auf Bundes- und Landesebene gibt es im Schnitt innerhalb eines Jahres insgesamt 1.200 neue Normen und 360 Änderung an bestehenden Normen1. Hinzu kamen im Jahr 2021 zirka 3.500 relevante Gerichtsurteile aus dem Umweltrecht2. Laut DIHK wurden im Jahr 2021 zwar knapp 1.600 Regelungen gestrichen, zugleich jedoch 2.400 neue Rechtsakte erlassen. 2022 habe das Verhältnis dann bereits knapp 700 weggefallene Regelungen zu rund 2.500 zusätzlichen betragen.
Im Rahmen der Genehmigungsverfahren wird meist so lange diskutiert, dass es bereits neue Gesetze, Rechtsverordnungen, Technische Regeln und Konventionen gibt. Die wiederum müssen in der Planung Anwendung finden. Das führt zu einer neuen Planung und der ganze Prozess fängt von vorne an, Beschleunigung sieht anders aus.
1 3.789 ausgewertete Gesetzes- und Ministerialblätter sowie Fachzeitschriften
2 Verwaltungsgerichte hatten 2021: 170.000 Entscheidungen davon 1,7 Prozent Umweltrecht, sprich 2.890 Urteile, Oberverwaltungsgerichte hatten 2021: 21.000 Entscheidungen, davon 2,3 Prozent Umweltrecht, macht 500 Urteile, BVerwG 7. Senat hat 2022 58 Entscheidungen getroffen.
Forderung des BDI: Stichtagsregelung im VwVfG sowie allen Fachgesetzen
Eine Stichtagsregelung könnte auf den Zeitpunkt der Erklärung der Vollständigkeit der Antragsunterlagen gelegt werden und damit das zeitaufwendige Nachreichen von Unterlagen aufgrund von Rechtsänderungen verhindern. Hierdurch würden auch sich gegebenfalls aus den Änderungen ergebende Neuauslegungen der Unterlagen aus rechtsformalen Gründen vermieden. Es bedarf der Festlegung einer Stichtagsregelungen im VwVfG und alles Fachgesetzen:
„Grundlage der Genehmigungsentscheidung ist die zum Zeitpunkt der Erklärung der Vollständigkeit geltende Rechtslage.“
Beispielhaft sei die neue Regelung am Bundesimmissionsschutzgesetz dargestellt: Ergänzung (§ 10 Abs. 6a) BImSchG: „Über den Genehmigungsantrag ist nach Eingang des Antrags und der nach Absatz 1 Satz 2 einzureichenden Unterlagen innerhalb einer Frist von sieben Monaten, in vereinfachten Verfahren innerhalb einer Frist von drei Monaten, zu entscheiden. Die zuständige Behörde kann die Frist einmalig um bis zu drei Monate verlängern, wenn dies wegen der Schwierigkeit der Prüfung oder aus Gründen, die dem Antragsteller zuzurechnen sind, erforderlich ist. Die Fristverlängerung ist gegenüber dem Antragsteller zu begründen. Eine weitere Verlängerung ist nur auf Antrag oder mit Zustimmung des Antragstellers möglich. Die zuständige Behörde informiert ihre Aufsichtsbehörde über jede Überschreitung von Fristen. Grundlage der Genehmigungsentscheidung ist die zum Zeitpunkt der Erklärung der Vollständigkeit geltende Rechtslage.“
Begründung:
▪ Nahezu unüberschaubare Anzahl an Regelungen im Umweltrecht
Hohe inhaltliche Anforderungen des Umweltrechts haben eine von Vorhabenträgern und Behörden kaum mehr zu bewältigende Komplexität. Die nach dem europäischen Umweltrecht erforderlichen Untersuchungen dauern häufig mehrere Jahre und ihre Dokumentation in den Antragsunterlagen nimmt hunderte, oft über tausend Seiten ein und regelmäßig sind diese Unterlagen nachzubessern. Gleichzeitig haben sich die Rechtsschutzmöglichkeiten durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, insbesondere dem Wegfall der Präklusion, erheblich ausgeweitet.
Nach der EUGH-Rechtsprechung muss die Behörde verspätete Einwendungen im Rahmen ihrer Amtsermittlungspflicht mitberücksichtigen. Eine verspätete Einwendung kann in einem etwaigen Gerichtsverfahren geltend gemacht werden, es besteht also keine materielle Präklusion.
In der Praxis sind meistens geänderte Verordnungen, Verwaltungsvorschriften und Normen Ursache für Verzögerungen. Eine nahezu unüberschaubare Anzahl an Merkblättern, Arbeitshilfen, Fachkonventionen, Leitfäden und Orientierungsrahmen gibt Methoden und Standards vor, die sich je nach Herausgeber und Bundesland unterscheiden. Wenn keine fachlichen Standards existieren, müssen Vorhabenträger projektspezifischen Lösungen finden, von denen oft unklar ist, ob sie der späteren
gerichtlichen Überprüfung standhalten werden. Die Komplexität erhöht sich dadurch, dass sich die fachlichen Standards während des Zeitraums der Planung, des Zulassungsverfahrens und möglicherweise anschließender Gerichtsverfahren ändern und neue Regelungen hinzukommen, womit sich kontinuierlich die Frage stellt, ob neuere Fachpublikation existiert.
▪ Neue Regelungen ziehen Verfahren massiv in die Länge
Wenn dies der Fall ist, müssen Antragsunterlagen bzw. entsprechende Gutachten geändert oder neu gefertigt werden. Diese werden dann nochmals sternförmig an alle zu beteiligenden Fachbehörden verteilt, diese haben wieder einen Monat Prüfungszeit, die in der Mehrzahl der Fälle nicht eingehalten wird. Die federführende Behörde muss die Stellungnahmen im Anschluss zusammenfassen. Im schlechtesten Fall ist in dieser Zeit eine weitere andere Rechtsänderung eingetreten und die Abstimmung beginnt von neuem. Besondere Bedeutung kommt daher der Einführung praxistauglicher Stichtagsregelungen zu. Das betrifft nicht nur die Anwendung von Rechtsvorschriften, sondern vor allem die Daten- und Methodenaktualität bei Umweltuntersuchungen.
▪ Stichtagsregelung schneidet nicht den Rechtsschutz ab Vielfach wird im politischen Raum die Auffassung vertreten, eine Stichtagsregelung sei verfassungswidrig. Soweit eine Stichtagsregelung durch die zeitliche Vorverlagerung der maßgeblichen Sach- und Rechtslage die gerichtliche Kontrolle im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung beschränken würde, könnte ihr möglicherweise ähnliche Wirkung wie einer materiellen Präklusion zukommen Zur Vereinbarkeit von Stichtagsregelungen für Genehmigungsverfahren nach dem BImSchG mit Unionsrecht hat sich der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages geäußert (WD 5 - 3000 - 015/24; EU 6 - 3000005/24). Er führt auf Seite 14 aus:
„Ob und inwiefern eine derartige nationale Stichtagsregelung mit den Wertungen des Unionsrechts vereinbar wäre, dürfte entscheidend von ihrer konkreten Ausgestaltung und ihrem konkreten Anwendungsbereich abhängen, beispielsweise davon, ob die Stichtagsregelung über das Genehmigungsverfahren hinaus auch die maßgebliche Sach- und Rechtslage bei einer gerichtlichen Kontrolle desselben fixieren sollte oder ob Ausnahmen und Beurteilungs- sowie Ermessensspielräume vorgesehen würden. Soweit ersichtlich, verbietet weder eine Norm des Primär- noch Sekundärrechts eine solche Stichtagsregelung im nationalen Immissionsschutzrecht ausdrücklich. Auch der Rechtsprechung des EuGH lässt sich – soweit ersichtlich – bisher keine entsprechende, allgemeingültige Aussage zu nationalen Stichtagsregelungen entnehmen.“
Eine Stichtagsregelung darf damit selbstverständlich nicht den Rechtsschutz der Öffentlichkeit abschneiden. Bei der Stichtagsregelung bleiben für die Gerichte jedoch die prozessrechtlich verankerten Beurteilungszeitpunkte maßgeblich (Gutachten BT S. 9). Selbst wenn das Verwaltungsverfahren beschleunigt auf Basis der Sach- und Rechtslage an einem Stichtag entschieden würde, bliebe nach wie vor die Möglichkeit, dass die Genehmigung anschließend vor dem Verwaltungsgericht angegriffen wird. Hier könnten dann gegebenenfalls die durch den Stichtag ausgeschlossenen späteren Sach- und Rechtsänderungen doch zur Geltung kommen.
▪ Nebenbestimmungen und nachträgliche Anordnungen können jederzeit nachjustieren
Bei einer Stichtagsregelung handelt es sich nicht um Ausschlussfristen für die Kontrolle einer getroffenen Entscheidung, sondern um die Unbeachtlichkeit von ab einem bestimmten Zeitpunkt eingetretenen Tatsachen- und Rechtsänderungen bei der Entscheidungsfindung. Ergeben sich neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die einen effektiven und notwendigen Schutz der Umwelt bewirken, können Genehmigungen mit Hilfe von nachträglichen Anordnungen jederzeit verändert werden.
▪ Stichtagsregelungen in Gesetzen bereits vorankert
Im Immissionsschutzrecht existiert seit 2021 bereits eine Form der Stichtagsregelung. Gem. § 10 Abs. 5 Satz 3 BImSchG gilt: Hat eine Behörde betreffend eine Anlage zur Nutzung erneuerbarer Energien binnen Monatsfrist keine Stellungnahme abgegeben, so hat die Genehmigungsbehörde „die Entscheidung in diesem Fall auf Antrag auf der Grundlage der geltenden Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Ablaufs der Monatsfrist zu treffen.“ Die BImSchG-Novelle 2024 hat diese Regelung untermauert, indem sie nun auch für Anlagen zur Herstellung von Wasserstoff aus erneuerbaren Energien gilt. Dies soll der Beschleunigung des Verfahrens dienen.
▪ Konkrete Ausgestaltung einer Stichtagsregelung
Je nach Ausgestaltung einer nationalen Stichtagsregelung kommt es darauf an, wie nach Ansicht des EUGH im konkreten Fall die Belange der Verfahrensbeschleunigung einerseits und die Durchsetzung des Umweltrechts der Union sowie die Effektivität des gerichtlichen Rechtsschutzes andererseits in Einklang zu bringen sind.
Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages stellt klar: „Gerade mit Blick auf die .. Rechtsprechung des EuGH zur Präklusion im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung könnte für die Vereinbarkeit einer Stichtagsregelung .. entscheidend sein, ob diese – vergleichbar mit einer formellen Präklusion – nur die Vorverlagerung des Zeitpunkts für die Berücksichtigung der Sach- und Rechtslage im Verwaltungsverfahren selbst bezweckt oder insoweit auch materiell präkludierend Maßgaben für die gerichtliche Kontrolle der Genehmigungsentscheidung enthalten soll“ (S. 30). Es ist also sicherzustellen, dass die Behörde verspätete Einwendungen im Rahmen ihrer Amtsermittlungspflicht mitberücksichtigt, auch wenn der Einwender dies nicht mehr erzwingen kann.
Hat eine Stichtagsregelung keine Auswirkungen auf die gerichtliche Kontrolle, sondern nur auf die Öffentlichkeitsbeteiligung im Verwaltungsverfahren selbst, könnten sich Vorgaben für die Öffentlichkeitsbeteiligung gegebenenfalls aus Art. 6 Århus-Konvention ergeben. Diese sind jedoch auf Entscheidungen bezüglich der in Anhang I der Århus-Konvention aufgeführten Tätigkeiten oder solcher, die erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben könnten, beschränkt. Bedenken ergeben sich insbesondere im Hinblick auf die EU-Naturschutzvorschriften. Die jüngere Rechtsprechung des EUGH setzt voraus, dass die nationalen Behörden Ausnahmen nur „unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse“ bzw. „nach der Prüfung der besten verfügbaren wissenschaftlichen Daten“ genehmigen. Für die Verträglichkeitsprüfung in Art. 6 Abs. 3 FFH-RL hat der EuGH schon früh festgestellt, dass das Unionsrecht zwar
keine Methode der Prüfungsdurchführung vorgibt, dass aber „unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse sämtliche Gesichtspunkte des Planes oder des Projektes zu ermitteln sind“. Für die naturschutzfachliche Prüfung bedarf es, angepasst an die jüngste Rechtsprechung des EUGH, möglicherweise einer Sonderregelung.
Laut BT-Gutachten (S. 25) ist zudem zu bedenken, dass im UVP-Verfahren „eine zusammenfassende Darstellung und begründete Bewertung auf dem Stand eines vorverlagerten Stichtags grundsätzlich nicht möglich scheint. Allgemein müssen im Zuge der UVP selbst die eingeholten Angaben geprüft werden. Wären diese aufgrund einer Stichtagsregelung im BImSchG-Genehmigungsverfahren nicht mehr aktuell, könnte aus der dargestellten Rechtsprechung des EuGH folgen, dass aktuelle, zusätzliche Daten zu ergänzen sind.“
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