Behinderte Menschen 1/15

Page 1

Nr. 1/2015 • 38. Jahrgang

www.behindertemenschen.at

Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten

zum Thema

Autismus neu denken Georg Theunissen, André Frank Zimpel, Brita Schirmer, Christine Preißmann, Dietmar Zöller

im Magazin

Jubiläum

Eine zu intensive Welt – Hirnforscher mit neuer Theorie zu Autismus Je heller, desto lauter – Erlebniswelten für innovatives Medienprojekt „N#mmer“ Erfahrungen ohne Empfindungen – Essay von Christel Manske Fannys Lächeln – Leben in Ungarn 30 Jahre Mosaik-Therapiestelle Bruck/Mur – Kapfenberg

E S E L

P

B RO

E

P.b.b. • GZ 14Z040023 M • Erscheinungsort Graz • Verlagspostamt 8020 Graz • ISSN 1561-2791 • Preis pro Nummer 12 Euro inkl. MWSt.


Inhalt

MAGAZIN

THEMA

Autismus neu denken

4

Der 20-jährige Kai Markram „fühlt die Dinge“ auf seine Art. Foto: Darrin Vanselow / Matter

19

Georg Theunissen Schule und Autismus Anregungen zur Wertschätzung „autistischer Intelligenz“ als Grundlage für die pädagogische Praxis

31

André Frank Zimpel Achtung Andersdenkende! Stärke: gesteigerte Aufmerksamkeit, Problem: Sozialkompetenz Neuropsychologische Potenziale des Autismusspektrums als soziale Bereicherung

39

Dietmar Zöller Mein Gehirn ist wie ein verrücktes Versandhaus Wie denken und lernen Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS)? Wie hängen innere Sprache, Denken und Lernen zusammen? Ein Erfahrungsbericht.

47

Christine Preißmann Menschen mit Autismus Schwierigkeiten minimieren und Ressourcen nutzen, um gut leben zu können.

55

Brita Schirmer Die Stärken stärken und nicht nur an den Schwächen messen In den letzten Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass keine zwei Menschen sich in ihren körperlichen Merkmalen und natürlich auch in ihrer Hirnentwicklung vollständig gleichen.

REPORT

Maia Szalavitz Eine zu intensive Welt „Was geht im Kopf meines Sohnes mit Autismus vor?“ Dieses Rätsel versucht einer der führenden Hirnforscher mit der Intense-World-Theory zu klären. 4 INTERVIEW

„Je heller, desto lauter. Je lauter, desto verschwommener“ Denise Linke entwickelte N#MMER, ein Magazin über Lebenswelten von Menschen mit Autismus und ADHS. 7 ESSAY

Christel Manske Erfahrungen ohne Empfindungen? Die Indianer sagen, dass die Kinder noch einen Fuß im Himmel haben. 9 LE PETIT FILS / DER KLEINE MANN

Martin Habacher Die ÜBERbehinderten

11

FREAKS AROUND THE WORLD

Franz-Joseph Huainigg „Dem ORF geht da etwas verloren“

12

AUS DER BEHINDERTENANWALTSCHAFT ÖSTERREICHS

Fallbeispiel und Kommentar

13

FORSCHUNGSPROJEKT

Petra Flieger Wer glaubt schon einer „Behinderten“? Studie über Gewalt an Frauen mit Behinderung

2

Behinderte Menschen 1/2015

14

Titelbild von Miel Delahaij: „Inmitten von beGREIFbarer Unbegreiflichkeit die Helle ersehnend“


Inhalt

JUBILÄUM 30 Jahre Therapiestelle Bruck/Mur – Kapfenberg 64

Die kleinen Schritte sind die großen Die Anfänge der Therapiestelle Bruck/Mur – Kapfenberg reichen ins Jahr 1984 zurück. Damals stellte das Pius-Institut in Bruck/Mur der Steirischen Vereinigung zugunsten behinderter Kinder und Jugendlicher im Herbst kostenlos einen kleinen Therapieraum zur Ver fügung. Heute werden in der Therapiestelle über 100 Menschen mit Behinderung ambulant betreut. 64

MAGAZIN LEBEN IN UNGARN

82

Sebastian Garthoff Fannys Lächeln An ihrem fünften Todestag ließ sich Fanny Hozleiter ein Smiley auf die Innenseite ihres Handgelenks tätowieren … 72 KOMMENTAR

Gerhard Einsiedler Berührungsängste? Gedanken zu Autismus und Sport

77

AUS MEINEM LEBEN

Martin Raith Meine Arbeit als Special Olympics-Reporter

78

HERR GROLL AUF REISEN

84–89

Erwin Riess Der Fluch von Frascati

82

SERIE

Christian Mürner Bildgeschichten zu Behinderung Buchumschläge von Autobiografien behinderter Autorinnen und Autoren 83 BÜCHER ZUM THEMA „AUTISMUS NEU DENKEN“

84–89

KALENDER

Kulturtermine 90 Fachveranstaltungen

91

IMPRESSUM UND OFFENLEGUNG

E S E L

auf der hinteren Umschlagseite innen

P

B RO

E


Report

Magazin

„Ich fühle die Dinge auf eine andere Art“, so beschreibt der 20-jährige Kai Markram seine Erlebniswelten. Foto: Darrin Vanselow / Matter

Eine zu intensive Welt

„Was geht im Kopf meines Sohnes mit Autismus vor?“ Dieses Rätsel versucht einer der führenden Hirnforscher mit der Intense-World-Theory zu klären. Maia Szalavitz

Etwas stimmte mit Kai Markram nicht, als er zum ersten Mal seinen Kopf emporreckte und neugierig in die Welt blickte – fünf Tage nach seiner Geburt. Kai war ein außergewöhnlich waches Baby, ganz anders als seine Schwestern, die viel später begonnen hatten, sich für ihre Umwelt zu interessieren. Als der Junge laufen konnte, wollte er partout nicht mehr stillhalten. Ständig musste jemand auf ihn aufpassen, damit er sich nicht verletzte. „Sein Akku war nicht leerzukriegen“, erzählt seine Schwester Kali. Und es ging nicht bloß um einen kindlichen Energieüberschuss: Wenn seine Eltern ihn im Zaum halten wollten, bekam er Tobsuchtsanfälle. Kai war ein soziales Rätsel: Manchmal schottete er sich komplett ab, um dann in anderen Momenten auf Fremde zuzurennen und sie zu umarmen. Mit so einem Kind zurechtzukommen, wäre sicher für alle Eltern mühsam. Für Kais Vater war es geradezu frustrierend – denn Henry Markram ist einer der führenden Hirnforscher der Welt. Er ist der Mann hinter Europas eine Milliarde Euro teurem Human Brain Project an der ETH Lausanne. Doch wenn es um Kais Probleme ging, fühlte er sich machtlos. „Als Vater und Hirnforscher 4  Behinderte Menschen 1/2015

wusste ich nicht, was ich tun sollte“, sagt Markram. So kam es, dass Kais Verhalten – das später als Autismus diagnostiziert wurde – die Karriere seines Vaters von Grund auf veränderte: Henry Markram entwickelte eine neue Theorie über Autismus. Stellen Sie sich vor, Sie kämen von einem fremden Planeten, auf dem alles viel langsamer und ruhiger zugeht. Plötzlich werden

Sie hineingeworfen in eine wirre Welt, in der die Sinne permanent überfordert werden. Die Augen der Mutter: gleißend helles Flackern. Die Stimme des Vaters: ein Presslufthammer. Der süße kleine Strampler, den alle so weich finden? Rau wie Sandpapier. Alle Liebe, alle Sorge der Eltern? Ein Bombardement aus unverständlichen Sinneseindrücken. So, sagen Henry Markram und seine


Report Frau Kamila, fühle es sich an, autistisch zu sein. Die beiden nennen es: Intense-WorldSyndrome. Während bei Henry Markram in der Karriere ein Erfolg auf den anderen folgte, wurde ihm klar, dass im Kopf seines jüngsten Kindes etwas nicht richtig lief. Zunächst dachte er, Kai hätte ADHS, da er nie stillhalten wollte. Aber als der Junge älter wurde, fing er an, eigenartige Aussetzer zu bekommen. „Er wurde immer sonderbarer, auch wenn er nicht mehr so hyperaktiv war“, erinnert sich Markram. „Er war unberechenbar, bekam immer wieder Tobsuchtsanfälle. Und er wollte einfach nicht lernen oder Anweisungen befolgen.“ Selbst ins Kino zu gehen, war eine Tortur: Kai blieb einfach vor der Tür stehen und hielt sich die Ohren zu.

betont Markram. „Jeder dachte, dass diese Menschen keine Emotionen haben. Aber Kai, so merkwürdig es klingen mag, konnte wirklich in dich hineinschauen, sogar viel tiefer als andere.“ Er mochte auch menschliche Nähe.

Diagnose: Asperger-Syndrom

So schwierig Kai – hier mit Vater Henry Markram (li) und dessen zweiter Frau Kamila – war: Er mochte es dennoch, Menschen zu umarmen, sogar vollkommen fremde. Diese menschliche Wärme schien in den Augen vieler Experten gegen Autismus zu sprechen.

So schwierig Kai war: Er mochte es dennoch, Menschen zu umarmen, sogar vollkommen fremde. Diese menschliche Wärme schien in den Augen vieler Experten gegen Autismus zu sprechen. Erst nach mehreren Untersuchungen diagnostizierte man das Asperger-Syndrom bei ihm. „Wir ließen ihn überall untersuchen, und jeder Arzt hatte eine andere Erklärung“, sagt Markram. Als Wissenschaftler, der klare Ergebnisse liebt, machte ihn diese Ungewissheit rasend. Kai verstehen zu wollen, wurde Henry Markrams Obsession. Er hatte das Gefühl, dass die Neurowissenschaften zu kleinteilig arbeiteten. „Ich war nicht zufrieden mit dem bruchstückhaften Verständnis von unserem Gehirn; wir müssen das große Ganze verstehen. Jedes Molekül, jedes Gen, jede Zelle.“ Markram begann, alles über Autismus zu lesen, was er in die Finger bekommen konnte. Die populärste Theorie geht heute davon aus, dass Autismus das Resultat einer Fehlfunktion gewisser Hirnareale ist, die für das soziale Verhalten verantwortlich sind. Nach der „Theory of Mind“, in den achtziger Jahren von Uta Frith, Alan Leslie und Simon Baron-Cohen entwickelt, bilden autistische Kinder erst spät die Fähigkeit aus, zwischen ihrem eigenen und dem Wissen anderer zu unterscheiden. Forscher haben diesen Mangel an perspektivischem Denken unglücklicherweise als fehlende kognitive Empathie eingestuft. So entstand der bis heute gängige Irrtum, es sei Autisten egal, wenn jemand sich verletzt oder Schmerzen fühlt. Autisten fehlt es nicht an emotionaler Empathie. „Als wir damals auf die Forschung zu Autismus schauten, konnten wir es nicht glauben“,

Vater Henry Markram gründet Forschungsteam 1999 begann Markram, als Gastprofessor der University of California in San Francisco, selbst auf dem Gebiet zu forschen. Sein Kollege Michael Merzenich vermutete bereits, dass Autismus durch ein Ungleichgewicht zwischen erregenden und beruhigenden Neuronen ausgelöst wird. Ein Fehler, durch

der beruhigenden nun die Erregerneuronen zu betrachten. Das war der Durchbruch. „Es gab einen Unterschied in der Erregbarkeit, und zwar im ganzen Netzwerk der Neuronen“, erklärt Barkat. Die VPS-Zellen reagierten doppelt so heftig wie normale Zellen und waren besonders stark untereinander verbunden. Hätte eine normale Zelle beispielsweise zehn Verbindungen gehabt, so hatte eine VPS-Zelle 20. Die VPS-Zellen waren hyperaktiv. Mit der Folge, dass die Ratten sich schneller fürchteten und auch schneller lernten, wovor sie Angst haben sollten. Andersherum brauchte es lange, bis sie eine entschärfte Situation als gefahrlos erkannten. „Die Konditionierung auf Angst

Foto: Darrin Vanselow / Matter

den impulsive Aktionen nicht gebremst werden. Diese Theorie war der Ausgangspunkt für die Arbeit Markrams und seiner zweiten Frau Kamila. Seine Frau und er seien über den Stand der Forschung frustriert gewesen. Sie beschlossen, zunächst das Hirn auf möglichst simpler Grundlage zu untersuchen, und beauftragten die Studentin Tania Rinaldi Barkat, ein geeignetes Tiermodell zu suchen. Schon bald fand Barkat heraus, dass Ratten, die vor der Geburt mit dem Epilepsiepräparat Valproinsäure (VPS) behandelt worden waren, menschlichen Autisten am meisten ähnelten. Zwei Jahre lang studierte Barkat die Neuronen der Ratten. Doch die Vermutung, dass die beruhigenden Neuronen bei Autisten weniger aktiv sind, konnte sie nicht belegen. Markram wollte die Versuche bereits abblasen, als Barkat darauf bestand, ein letztes Mal ins Labor zu gehen und statt

war extrem“, sagt Markram. „Wir schauten auf die Zellen im Amygdala-Hirnareal, und wieder waren diese hyperaktiv. Es schien alles einen Sinn zu ergeben.“ Den Markrams wurde klar: Eine Hyperreaktivität der Hirnareale, die für Wahrnehmung, Gedächtnis und Emotionen zuständig sind, könnte beides erklären – die Talente der Autisten und ihre Handicaps. Das Problem der VPSRatten war nicht, dass sie nicht lernen konnten. Sie lernten zu schnell, mit zu viel Angst, und ihre Lernerfahrung war nur schwer umkehrbar.

Intense World: Überforderung der Sinne Die Markrams erinnerten sich an bestimmte Momente mit Kai: wie er seine Ohren zuhielt und sich weigerte, ins Kino zu gehen. Wie er e laute Geräusche verabscheute und neues Esn Si e. e n sen nicht ausprobieren wollte. Die ö Idee n einergab s n k Aueine zu intensiven Welt – plötzlich esebekamnsie

E S E rl L

P

B RO

te eite druck w   … r ge e in d

E


Hans (mĂśchte anonym bleiben) aus Wien

18  Behinderte Menschen 1/2015


Thema: Autismus neu denken

Georg Theunissen

Schule und Autismus Anregungen zur Wertschätzung „autistischer Intelligenz“ als Grundlage für die pädagogische Praxis Um autistische Kinder und Jugendliche angemessen zu unterrichten, bedarf es eines zeitgemäßen Verständnisses über Autismus. Der vorliegende Beitrag soll zum Verstehen autistischer Schüler und Schülerinnen beitragen und dazu sensibilisieren, sie mit ihrer „autistischen Intelligenz“ wertzuschätzen. Der Blick für spezifische Fähigkeiten von Personen aus dem Autismus-Spektrum ist jahrelang vernachlässigt worden – stand doch die Betrachtung von Autismus im Zeichen eines Krankheits- und Defizitmodells. Inzwischen zeichnet sich ein Umbruch ab, der vor allem von autistischen Personen als Experten in eigener Sache auf den Weg gebracht wurde. Daran anzuknüpfen, ist für einen qualitativ hochwertigen Unterricht unabdingbar.

Neuere Statistiken aus führenden Industrienationen zeigen auf, dass Autismus nicht mehr als eine eher seltene Behinderungsform in Erscheinung tritt. Wie in den USA wird heute ebenso in Großbritannien Autismus vier- bis fünfmal häufiger diagnostiziert als vor etwa 40 Jahren. Auch in Deutschland steigen die Zahlen kontinuierlich an. Derzeit wird vermutet, dass die Prävalenz unabhängig von sozio-ökonomischen Einflussfaktoren bei etwa 1 % liegt. Zudem wird davon ausgegangen, dass der Anteil von autistischen Personen, die zugleich als geistig behindert gelten, weitaus geringer ist als noch vor wenigen Jahren angenommen wurde. Daher ist es begrüßenswert, wenn die Kultusministerkonferenz empfiehlt, autistische Kinder und Jugendliche möglichst in einen gemeinsamen Unterricht mit nichtbehinderten Schülerinnen und Schülern einzubeziehen. Damit wird nicht mehr die Förderschule als der geeignete Lernort für autistische Kinder und Jugendliche präferiert. Vielmehr soll die sonderpädagogische Förderung in allgemeinen Schulen erfolgen. Das aber bedeutet, dass sich sowohl die schulische Heil- oder Sonderpädagogik als auch die allgemeine Schulpädagogik mit Autismus befassen muss. Eine solche Auseinandersetzung kann allerdings nur dann zu einer konstruktiven Praxis gereichen, wenn ein zeitgemäßes Verständnis in Verbindung mit aktuellen Befunden in Bezug auf Autismus zur Kenntnis genommen wird.

Wer die Fachdiskussion verfolgt, wird unschwer erkennen, dass sich zwei Positionen nahezu unversöhnlich gegenüberstehen: zum einen die traditionelle, psychiatrisch präformierte Auffassung, dass Autismus eine behandlungsbedürftige psychische Störung (Krankheit) sei (Autismus-Spektrum-Störung) und zum anderen die Ansicht einflussreicher Selbstvertretungsorganisationen, z. B. dem US-amerikanischen „Autistic Self-Advocacy Network“ (ASAN), dass Autismus in erster Linie Ausdruck eines menschlichen Seins ist. Diese zweite Position wird vor allem von autistischen Personen vertreten, die sich als Experten in eigener Sache dem Ansatz der Neurodiversität (neurodiversity) verschrieben haben und sich auf neurowissenschaftliche Theorien und Befunde stützen, welche autistische Merkmale auf genetisch und epigenetisch bedingte Veränderungen neuronaler Strukturen, Verbindungen, Systeme, Aktivität und Funktionen zurückführen. Diese Veränderungen gelten nicht per se als pathologisch, sondern als Zeichen einer neurologischen Variation und Bedingung, unter der betroffene Personen ein bestimmtes Verhalten zeigen bzw. sich zurechtfinden müssen. Im Unterschied zur traditionellen Position, die dieses Verhalten fast ausschließlich negativ konnotiert, als dee fizitär und behandlungsbedürftig auslegt, kommen Vern Si e. e n treter der zweiten Richtung zu einem differenzierten n ab n kö unter usg Blick, indem sie autistische Erscheinungsformen A ese n

E S E rl L

P

B RO

te eite druck w   … r ge e in d

E


Georg Theunissen  |  Schule und Autismus

einer Kompetenz- und Stärkenperspektive betrachten. Hierbei wird eine funktionale Sicht bemüht, die zum Verstehen autistischen Verhaltens beiträgt und eine Abgrenzung zu Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Aggressionen, selbstverletzendes Verhalten, führungsresistentes Verhalten) ermöglicht. Damit gelingt es, Menschen im Autismus-Spektrum mit ihrem spezifischen Verhalten wertzuschätzen, ohne Probleme auszublenden, die mit autistischen Merkmalen einhergehen können. Insofern ist diese zweite Position der traditionellen überlegen, welche über eine Pathologisierung des Autismus und der betroffenen Personen nicht hinauskommt. Das zeigt unter anderem die Neufassung von Autismus als „Autismus-Spektrum-Störung“ im DSM 5, die zwar mit der Aufhebung und Einebnung der bisherigen Formen oder Bilder des Autismus (frühkindlicher, atypischer, Asperger …) als fortschrittlich gelten kann, jedoch mit der Defizitbeschreibung einzelner autistischer Merkmale nach wie vor ein einseitiges (negatives) Verständnis von Autismus erzeugt. Anders ist hingegen das Autismus-Konzept des ASAN einzuschätzen, welches gleichfalls die bisherigen Autismus-Bilder aufgehoben hat, sich aber bei der Auflistung autismustypischer Merkmale keiner Defizitsprache bedient. Im Gegenteil: Neben dem Bemühen um eine neutralisierte Betrachtung ist dieses Konzept zugleich wegbereitend für eine funktionale Problemsicht und anregend für die Annahme einer „autistischen Intelligenz“. Folglich bietet es sich für den Umgang mit Autismus und somit für die pädagogische Praxis an, sich an der zweiten Position zu orientieren. Zur funktionalen Sicht Ausgangspunkt zum Verständnis von Autismus ist das vom ASAN vertretene Konzept, welches sieben Merkmale herausstellt (vgl. Theunissen 2014a, 16 ff.): ●● ●● ●● ●● ●● ●●

●●

Unterschiedliche sensorische Erfahrungen Unübliches Lernverhalten und Problemlösungs­ verhalten Fokussiertes Denken und ausgeprägte Interessen in speziellen Bereichen Atypische, manchmal repetitive Bewegungsmuster Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine und Ordnung Schwierigkeiten, Sprache zu verstehen und sich sprachlich auszudrücken, so wie es üblicherweise in Kommunikationssituationen (Gesprächen) erwartet wird Schwierigkeiten, typische soziale Interaktionen zu verstehen und mit anderen Personen zu interagieren

Was die Lesart dieser sieben Aspekte betrifft, sollten sie in der Regel in der frühen Kindheit nachweisbar sein, sie können sich aber auch später noch im Jugend- oder jun20  Behinderte Menschen 1/2015

gen Erwachsenenalter ausbilden. Das erfordert eine sorgfältige Anamnese oder Aufbereitung der Lebensgeschichte. Grundsätzlich können die genannten Kriterien bei einer Person in abgeschwächter oder stark ausgeprägter Form in Erscheinung treten. Dabei darf ihr Zusammenspiel nicht aus dem Blick geraten, wenn eine Einschätzung im Hinblick auf Autismus vorgenommen werden soll. Kritisch muss allerdings eingeräumt werden, dass das Konzept keine empirisch abgesicherte Basis aufweist. Seine prominente Bedeutung liegt darin, dass es Merkmale (z. B. unübliches Lernverhalten, Stärken, Spezial­ interessen, Wahrnehmungsbesonderheiten) berücksichtigt, die bisher weithin diagnostisch vernachlässigt werden. Ferner ebnet es den Weg für eine funktionale Sicht autistischen Verhaltens. Hierzu folgendes Beispiel: „Als ich acht Jahre alt war, entwickelte ich eine Überempfindlichkeit gegen Kämme und Haarbürsten. Ich sträubte mich dagegen, mich zu kämmen. Plötzlich konnte ich den Schmerz nicht ertragen, der beim Kämmen entstand. Es war, als würde auf dem ganzen Kopf und im Nacken ein synthetisches Feuer brennen“ (Gerland 1998, 114). Dieses Beispiel bezieht sich auf das Merkmal der sensorischen Erfahrungen. Diese treten in Form einer Hypersensitivität zutage, welche als autistische Eigenschaft schwer auszuhalten ist, Stress und Schmerzen erzeugt und daher für die betreffende Person ein Problem darstellt, das bewältigt werden muss. Das skizzierte Lösungsmuster (Verweigerung) ist in dem Fall für die Person sinnvoll, um die sensorischen Erfahrungen „abzuwehren“ beziehungsweise zu „überstehen“. Für Umkreispersonen handelt es sich bei solchen Reaktionen hingegen um auffällige Verhaltensweisen, die, wenn sie als inakzeptabel eingeschätzt werden, zu Interventionen herausfordern. Das gilt ebenso für die folgende Situation, in der sich ein autistischer Junge weigert, Schuhe anzuziehen, weil er die Quietschgeräusche der Schuhe beim Gehen nicht aushalten kann. In Anbetracht seiner Hyperwahrnehmung (autistisches Merkmal) ist seine Verweigerungshaltung somit kein „ungezogenes“ oder „führungsresistentes“ Verhalten, sondern eine für den Jungen zweckmäßige Problemlösung. Wie wertvoll die funktionale Betrachtung autistischer Merkmale ist, zeigt gleichfalls das nächste Beispiel: „Das absolut Wichtigste in meinem Leben sind Bücher. Fachund Sachbücher zu Geschichts-, Wirtschafts- oder Politikthemen. Das sind meine wahren Leidenschaften, alles andere stelle ich dann hinten an. Wenn es mir schlecht geht, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern in eine Buchhandlung“ (Florian P. zit. n. Aspies e. V. 2010, 121). Wird das fokussierte Denken und interessenbezogene Tätigsein in Bezug auf seine psychisch stabilisierende Funktion unterschätzt und unterbunden, ist die Gefahr groß, dass es zu Ersatzhandlungen, zu Stereotypien, fremdaggressiven oder selbstverletzenden Verhaltensweisen kommt, die nicht selten zu Sanktionen und einer medikamentösen Behandlung veranlassen (Seng 2011, 33). Wie wichtig das Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine


Thema: Autismus neu denken und Ordnung sein kann, führt uns die Autistin D. Williams (1994, 121) vor Augen: „Wenn etwas nicht genau an seinem Platz stand, musste ich es geraderücken; und diese Tätigkeit, das Wiederherstellen von Ordnung, gab mir das Gefühl von Sicherheit.“ Darüber hinaus nennt sie eine weitere Funktion von Routine und Gewohnheiten, indem ihr zum Beispiel das Ordnen von Objekten die Möglichkeit bietet, sich die „Darstellung von ‚der Welt‘ verständlicher machen“ (ebd., 294) zu können. Zu guter Letzt soll noch ein kurzer Blick auf die funktionale Bedeutung autistischen Kommunikations- und Interaktionsverhaltens geworfen werden. Dazu ein Beispiel: Peter ging durch die Klasse. Seine Lehrerin ermahnte ihn: „Setz Dich bitte hin!“ Daraufhin setzte er sich dort auf den Boden, wo er gerade stand. Für seine Lehrerin war dies eine Provokation und bewusste Störung des Unterrichts. Peter hingegen hatte die Aufforderung seiner Lehrerin wörtlich genommen (ein typisch autistisches Merkmal). Zugleich signalisiert dieses Beispiel aber auch die Schwierigkeit autistischer Personen, soziale Situationen ganzheitlich, räumlich und zeitlich in Sinnzusammenhängen zu erfassen. Alles in allem dürfte deutlich geworden sein, wie wichtig es ist, zwischen typischen autistischen Merkmalen und Verhaltensauffälligkeiten zu differenzieren, die häufig aus Situationen hervorgehen, in denen betroffene Personen mit ihrem Verhalten missverstanden werden. Gelingt es, die Funktion des Verhaltens zu erfassen anstatt eine negative Bewertung vorzunehmen, eröffnen sich in der Regel pädagogische Handlungsalternativen zu eng gestrickten therapeutischen Interventionen. Zur autistischen Intelligenz Schon bei L. Kanner (1943) und H. Asperger (1944) stoßen wir auf „besondere Stärken“ und spezifische, zum Teil außergewöhnliche Fähigkeiten autistischer Kinder. Daran anknüpfend konstatieren nicht wenige Repräsentanten aus dem Lager der Selbstvertretung eine „autistische Intelligenz“. Ebenso gibt es Stimmen aus der (neurowissenschaftlichen) Autismusforschung, die dafür plädieren, Fähigkeiten und Stärken autistischer Menschen zu fokussieren, als ständig Schwächen, Defizite oder mangelnde Leistungen herauszustellen. Vor diesem Hintergrund möchte ich elf spezifische Fähigkeiten (dazu ausführlich Theunissen 2015) als Ausdruck einer „autistischen Intelligenz“ skizzieren: (1) Zur Fähigkeit, Gegenstände oder Situationen nicht als „Ganzes“ zu erfassen, sondern in ihren Details Nach der „Intense World Theory“ und dem „Enhanced Perceptional Functioning Model“ – zwei innovative Ansätze aus der neurowissenschaftlichen Autismusforschung (vgl. dazu ausführlich Theunissen 2014a) – gibt es gute Gründe zur Annahme, dass Personen aus dem AutismusSpektrum im Hinblick auf das Erkennen von Details „ex-

trem wahrnehmungs-begabt“ (Grandin 2008, 75) sind: „Mein Autismus verleiht mir eine Wahrnehmung, die fragmentiert und extrem detailorientiert ist. Aus diesem Grund war eines der Lieblingsbücher meiner Kindheit Where’s Waldo, das ein scharfes Auge für Details erfordert. Bis heute entdecke ich regelmäßig Rechtschreibefehler und andere subtile Fehler auf den Seiten eines Buches oder einer Zeitung. Wenn ich zum ersten Mal einen Raum betrete, empfinde ich häufig eine Art Schwindel, wenn mir die ganzen bruchstückhaften Informationen, die mein Gehirn registriert, im Kopf herumschwirren. Details gehen den Objekten, zu denen sie sich zusammensetzen, voraus: Ich sehe zuerst die Kratzer auf der Oberfläche eines Tisches, bevor ich den ganzen Tisch sehe, erst das reflektierte Licht auf einem Fenster, bevor ich das ganze Fenster sehe, erst die Muster auf einen Teppich, bevor der ganze Teppich ins Blickfeld gerät“ (Tammet 2010, 199f.). Dabei handelt es sich um ein von Natur aus gegebenes Wahrnehmungssystem (Mottron 2014), das „auf die Erfassung lokaler Reize ausgerichtet …, was im Gegensatz zu einer typischen, hierarchischen Wahrnehmungsverarbeitung steht“ (ebd.). Diese niedrigschwellige Ausrichtung hat zugleich Auswirkungen auf Verarbeitungsprozesse, indem sich Autist(inn)en weniger durch ein erwartungsund kontextgeleitetes (intuitives) Vorwissen bei der Lösung von Aufgaben beeinflussen lassen. Dies erklärt zum Beispiel das oben genannte Verhalten von Peter oder die folgende Antwort von Tito: „Wie war der Unterricht?“, fragte Mutter. „Verwirrend“, antwortete ich. „Ich fand die Rollstühle interessant. In so einem würde ich gerne sitzen“ (Mukhopadhyay 2005, 111). Nicht-autistische Personen nutzen hingegen „höhere“ Verarbeitungsstrategien (z. B. Gestaltgesetze, Abstraktionen, globale, „vorausschauende“ Zusammenfassungen). Das muss aber nicht immer von Vorteil sein, wenn es um die Erfassung von Fehlern geht: „Lesen Sie zum Beispiel einmal den folgenden Absatz: Lieber den Spatz in der der Hand als die Taube auf dem Dach. Haben Sie das doppelte „der“ ebenfalls übersehen? So geht es den meisten von uns! Wir sehen eben vielfach nur das, was wir sehen wollen – oder was uns am plausibelsten erscheint“ (Snyder, Ellwood, Chi 2013, 60). Wenngleich bei solchen Aufgaben autistische Personen häufig nichtautistischen überlegen sind, fällt es freilich vielen schwer, in Zusammenhängen zu denken, zum Beispiel Muster sozialer Situationen, Bedeutungszusammenhänge oder kontextbezogene Handlungsabläufe situativ oder antizipatorisch zu erfassen. Allerdings können sie auf ihre typische Weise sehr wohl auch zu „ganzheitlichen“ Vorstellungen, Konzepten oder Lösungen gelangen, vor allem dann, wenn ihnen genügend Zeit und die Gelegenheit gegeben wird, persönlichen Interessen oder Spezialbegabungen nachgehen zu können. Sie

B RO n

E

P könne sgabe. E S sen Au

L E weiterledruckten … r ge e in d


LEben in Ungarn Fannys Lächeln Sebastian Garthoff

Auf staatliche Unterstützung warten Menschen mit Behinderung in Ungarn oft vergebens. Einige übernehmen deswegen lieber selbst die Initiative. Und bringen so die Anliegen behinderter Menschen in das Bewusstsein der Öffentlichkeit – oft auf ganz unkonventionelle Weise, wie zum Beispiel die Bloggerin Fanny. Budapest. An ihrem fünften Todestag ließ sich Fanny Hozleiter ein Smiley auf die Innenseite ihres Handgelenks tätowieren. 23 Jahre alt war die Ungarin damals. Nach Meinung der Ärzte hätte ihr Leben schon mit der Volljährigkeit vorbei sein sollen. Als die heute 25-Jährige eineinhalb Jahre alt war, wurde bei ihr eine Form von Muskeldystrophie diagnostiziert. Eigentlich dürfte es sie gar nicht mehr geben. Fanny aber ist präsent. Und die zierliche, junge Frau mit dem breiten Lächeln und den langen, dunkelblonden Haaren ist aktiv. An jedem Geburtstag feiert Fanny deswegen jeden der ihr einst vorausgesagten „Todestage“. An diesem Tag denkt sie sich immer etwas Verrücktes aus: Sie fuhr mit ihrem elektrischen Rollstuhl auf der Rolltreppe, färbte sich die Haare bunt, kletterte auf Berge und einmal betrank sie sich auch. Und Fanny hat einen Blog gegründet. „Die Welt mit dem Rollstuhl“ heißt er und wurde 2012 in Ungarn mit dem „Golden Blog

„Damals habe ich verstanden, dass nicht nur ich auf Hilfe angewiesen bin, sondern dass ich selbst anderen Menschen helfen und ihnen Mut in scheinbar ausweglosen Lebenslagen geben kann.“ Fanny Hozleiter

Award“ ausgezeichnet – bei einem Wettbewerb des führenden Wirtschaftsmagazins HVG. Bis zu 70.000 Leute lesen Fannys populäre Blogeinträge. Sie tritt im Fernsehen auf, spricht im Radio, hält Vorträge in Schulen, in allen möglichen ungarischen Printund Onlinemedien wurde über sie berichtet. Zu zahlreichen Veranstaltungen im ganzen Land wird sie als Moderatorin eingeladen. 72  Behinderte Menschen 1/2015

Fanny Hozleiter schreibt Bücher, moderiert und wurde für ihren Blog „Die Welt mit dem Rollstuhl“ ausgezeichnet.  Foto: Daniel Kaldori

„In erster Linie aber bin ich Autorin“, stellt Fanny Hozleiter klar. „Mosolyka“ nennt sie sich auf ihrem Blog. „Mosoly“ heißt übersetzt Lächeln. Sie will die Menschen vor allem zum Lachen bringen.

Nach 15 Jahren wieder auf eigenen ­Beinen stehen Unter dem tätowierten Lächeln an ihrem Handgelenk hat sich Fanny Hozleiter auch den Buchstaben „B“ stechen lassen. Er steht für Orte und Personen, die in ihrem Leben von Bedeutung sind. Dazu gehört auch der Name einer Journalistin, die half, Fannys mediale Karriere zu starten – und ihrer Krankheit womöglich noch einige weitere Lebensjahre abzutrotzen. Vor vier Jahren sparte sie für eine Stammzellentherapie im chinesischen Peking. Fünf Millionen Forint musste sie dafür aufbringen, umgerechnet etwa 17.000 Euro. Eine

utopische Summe. Das Interesse an ihrer Krankheit war gering. „Niemand wollte sich mit dem Thema beschäftigen“, bedauert sie. Doch nach ihren Auftritten in den Medien kam das Geld durch Spenden zusammen. Sie konnte für einen Monat nach China fahren. Und die Therapie schlug an: „Zum ersten Mal nach 15 Jahren konnte ich wieder auf meinen eigenen Beinen stehen“, erzählt sie. Bis dahin schrieb Fanny ihren Blog in erster Linie für Freunde und Bekannte. Mit dem wachsenden öffentlichen Interesse an ihrer Person stieg auch die Zahl der Leserinnen und Leser. „Damals habe ich verstanden, dass nicht nur ich auf Hilfe angewiesen bin, sondern dass ich selbst anderen Menschen helfen und ihnen Mut in scheinbar ausweglosen Lebenslagen geben kann“, erinnert sich Fanny. Also dachte sie sich eine Aktion aus: Bei ihren öffentlichen Terminen verteilt


Über die Grenzen schauen sen werden Behindertenvertreter überhaupt nicht einbezogen“, kritisiert Derera. „Alle Verpflichtungen für Barrierefreiheit wurden ohne Begründung aus dem Gesetz genommen, dabei haben die Leute noch nicht verstanden, dass es sich bei Bewegungsfreiheit um ein Grundrecht handelt.“ Derera benutzt gern ein Beispiel, um die Mentalität seiner Landsleute zu verdeutlichen: „Wenn man in Österreich drei Minuten im Rollstuhl vor einer Kirche steht, fragen drei Leute, ob sie helfen können – in Ungarn drücken sie dir ein Münzstück in die Hand.“ Initiativen, um die Situation von Menschen mit einer Behinderung zu verbessern, komTibor Kazány, rollstuhlfahrender Geschäftsmen in erster Linie von Privatpersonen, die mann, organisierte einen öffentlichkeitswirkkeine Lust mehr haben, auf bessere Zeiten zu samen Schönheitswettbewerb für Rollstuhlwarten. Von Menschen wie Fanny. Oder wie faherinnen in Ungarn. Foto: Daniel Kaldori von Tibor Kozany. „Er hat einen großen Einsie Bohnensamen. Da sie schnell wachsen, fluss und hat geholfen, das Thema in die Öfsollen die Menschen sie einpflanzen und mit fentlichkeit zu bringen“, lobt Mihály Derera. ihnen ihre Wünsche verbinden. „Natürlich ist die Aktion nur symbolisch, aber sie soll Menschen Selbstvertrauen geben den Leuten zeigen, dass Träume genauso Tibor Kozany ist Ende 30. Der Geschäftswie Bohnen Stück für Stück wachsen können. mann vertreibt über das Internet Rollstühle, Denn oft geben die Menschen vor dem letz- Handbikes und Sportgeräte für Menschen ten Schritt ihre Ziele auf“, sagt Fanny. mit Behinderung. Er selbst ist seit einem Motorradunfall vor zehn Jahren querschnitt90 Prozent Arbeitslosigkeit gelähmt. Viel Aufhebens hat er darum nie Etwa 460.000 (von insgesamt 9, 9 Millio- gemacht. „Ich bin ja trotzdem ein Mensch“, nen) Menschen in Ungarn leben mit einer sagt der verheiratete Familienvater. Und es Behinderung. Die Arbeitslosigkeit unter ih- hindert ihn auch nicht daran, jeden Monat nen beträgt 90 Prozent. „Im EU-Vergleich geschäftlich im Ausland unterwegs zu sein. ist die Lage von behinderten Menschen in Auf einer dieser Reisen, auf einer Messe in Ungarn sehr schlecht“, sagt Mihály Derera. Deutschland, kam er mit einem GeschäftsDer 59-Jährige ist der Direktor von „Meosz“, mann aus den USA ins Gespräch. Der erdem ungarischen Verband gehbehinderter Menschen. Staatliche Unterstützung gibt es kaum. In den ersten drei Jahren nach einem Unfall bekomme man laut Derera noch 50.000 Forint monatliche Unterstützung, weniger als 200 Euro, danach nichts mehr. Finanzielle Unterstützung vom Staat für Rollstühle kann man nur alle sechs Jahre beantragen. Wenn jemand aus der Reha kommt, ist er größtenteils auf sich allein gestellt. Zwar bekommen Firmen einen staatlichen Zuschuss, wenn sie behinderte Menschen beschäftigen, „aber der geht Jahr für Jahr zurück und läuft nach vier Jahren komplett aus“, so Derera. Eine Art der positiven Diskriminierung bei der Jobvergabe gibt es nicht. Die politische Entwicklung in seinem HeiMihály Derera vom ungarischen Verband matland, speziell was die Lage von behin- gehbehinderter Menschen: „Im EU-Vergleich derten Menschen angeht, betrachtet er mit ist die Lage von behinderten Menschen in Sorge. „Bei politischen Entscheidungsprozes- Ungarn sehr schlecht.“ Foto: Daniel Kaldori

zählte ihm von Schönheitswettbewerben für Rollstuhlfahrerinnen in den Staaten. 2011 war das. Ein Jahr später, im Frühjahr 2012, fand in Budapest der erste Miss Colours Hungary-Wettbewerb statt. Kozany hatte ihn organisiert. Die Resonanz war enorm. „Eigentlich waren alle ungarischen Medien da“, erinnert sich der Initiator. 50 Frauen hatten sich für diesen ersten Schönheitswettbewerb für Rollstuhlfahrerinnen in Ungarn angemeldet. Siegerin wurde die damals 26-jährige Katalin Eszter Varga. Sie wollte sich vor allem für mehr Barrierefreiheit einsetzen. „Das ist in Ungarn das

„Alle Verpflichtungen für Barrierefreiheit wurden ohne Begründung aus dem Gesetz genommen, dabei haben die Leute noch nicht verstanden, dass es sich bei Bewegungsfreiheit um ein Grundrecht handelt.“ Mihály Derera

größte Problem“, betont Tibor Kozany. Gemeinsam absolvierten sie zahlreiche öffentliche Termine. „Es ging bei dem Wettbewerb in erster Linie auch gar nicht um Schönheit, sondern darum, auf das Thema aufmerksam zu machen und den Menschen Selbstvertrauen zu geben.“

Pläne für die Zukunft Schönheitskönigin wollte Fanny Hozleiter nie werden. „Ich will mich nur für andere einsetzen“, sagt die Bloggerin. Die Worte „Ennek így…“ (sinngemäß: „So ist es“) hat sie auf ihr anderes Handgelenk tätowiert. „Es bedeutet, dass es für alles einen bestimmten Grund gibt.“ Sie selbst schmiedet bereits Pläne für die Zukunft. Gerne hätte sie eigene Kinder. Biologisch sei das möglich. Einen festen Freund hat sie derzeit aber nicht – „jedenfalls nicht offiziell“, lacht sie. Fanny hat sich in ihrem Leben eingerichtet, arbeitet als Betreuerin in einer Kindereinrichtung und plant neue Projekte. Ihr Buch „Te döntesz“ (Sie entscheiden) ist unlängst auf den Markt gekommen, in dem sie ihre Erlebnisse und unterhaltsame Momente festhielt. An weiteren Ideen fehlt es ihr nicht: „Da die Leute mich eh ständig anstarren, habe ich meine Rollstuhllehne auch schon mal als Werbefläche vermietet.“ Sie

B RO n

E

P könne sgabe. E S rlesen ten Au Nähere DetailsE L unter: ck eite http://mosolyka.blog.hu/

u

… w r gedr e in d


BÜCHER

zum Thema Autismus

Zusammengestellt von Michael Schmitz

2

1 1

Kristine Barnett Der Funke – Die Geschichte eines autistischen Jungen, der es allen gezeigt hat

3 2

kailash 2014

Bei Jake wird früh Autismus diagnostiziert. Möglicherweise wird er nie sprechen und schreiben können – so die Prognose. Die Therapien laufen fast rund um die Uhr, bis seine Mutter merkt, dass der Kleine vor allem eines nicht hat: Elemente einer normalen Kindheit. Sie erkennt nur Rückschritte in seiner Entwicklung, wenn er aus den Fördereinrichtungen zurück kommt. Rumtoben, „Dreck zwischen den Zehen“, machen was er will: All das fehlt. Über 18 Monate spricht Jake kein Wort. Sie wagt dann den Schritt, ihn aus dem Förderbereich herauszunehmen und selbst mit ihm zu arbeiten. Das Ergebnis ist bekannt: Der jüngste Astrophysik-Forscher aller Zeiten mit guten Chancen auf den Nobelpreis. Der Weg dorthin ist oft steinig und gibt auch so manchen Einblick in die amerikanische Gesellschaft und die Zeit der Rezession um 2011, wo die Familie von Obdachlosigkeit bedroht war. Obwohl an einigen Stellen das gewöhnungsbedürftige amerikanische Pathos nicht fehlt, beschreibt die Mutter die Ereignisse in aller Dramatik doch schonungslos. Im Kern geht es um die Aussage, die besonderen Kinder bei dem zu unterstützen, was sie können und nicht ständig auf den Defiziten herumzuhacken. Ideen statt monotone Therapie, Feinfühligkeit statt Zwang.

www.autismus-buecher.de

Temple Grandin Ich bin die Anthropologin auf dem Mars. Mein Leben als Autistin Erstausgabe Verlag Droemer Knaur 1997

Als „Anthropologin auf dem Mars“ bezeichnete sich die Autistin Temple Grandin in einem Gespräch mit Oliver Sacks – und wurde so zum Titel ihres weltbekannten Buches. Hier beschreibt sie mit einer außergewöhnlich eindringlichen Sprache ihr Leben, das geprägt ist von der schmerzhaften Isolation durch ihr Anderssein. Der Leser erhält Zugang zu ihrer Bilderwelt und begreift mit fortschreitender Lektüre, dass Grandin den Autismus nicht beenden will, selbst wenn sie es könnte, da er „ein Teil dessen ist, was ich bin“. „Es ist ein zutiefst bewegendes und faszinierendes Buch, weil es eine Brücke zwischen unserer und Temples Welt schlägt und uns einen Blick in einen ganz andersartigen Geist eröffnet.“ (Oliver Sacks). „Ich bin die Anthropologin auf dem Mars“ ist eines der ganz wichtigen Bücher im Autismusbereich. Weitere Bücher:

3

Temple Grandin Durch die gläserne Tür. Lebensbericht einer Autistin Erstausgabe Deutscher Taschenbuchverlag, DTV, 1994

4

Temple Grandin Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier. Eine Autistin entdeckt die Sprache der Tiere Erstausgabe: Ullstein Verlag 2005

84

Behinderte Menschen 1/2015

4

5 5

John Elder Robison Schau mich an! Mein Leben mit Asperger Erstausgabe Fackelträger-Verlag 2008

„Mit neun Jahren hatte ich eine Offenbarung: Ich kam dahinter, wie man mit anderen Kindern redet.“ Er findet keine Freunde, bis er beginnt, Lehrern und den örtlichen Autoritäten Streiche zu spielen. Wirklich gute und kreative Streiche, die trocken und humorvoll beschrieben werden. Die verschiedenen Stationen seiner Arbeitskarriere sind alle spannend, aber eines ragt heraus: Er hat die Gitarren von KISS gebaut, die qualmen, Raketen abschießen oder leuchten können. Ein Asperger im Rock‘n‘Roll-Leben. Seinen Streichen bleibt er auch im Arbeitsleben treu, stößt aber auch immer wieder an Asperger-typische Grenzen, bis er beschließt seinen gutbezahlten Ingenieursposten aufzugeben, um eine eigene Autowerkstatt aufzumachen, weil er sich dort ein Asperger-taugliches Umfeld schaffen kann. Ohne von dieser Diagnose bereits zu wissen. Humorvoll sind seine Berichte über direkte Konversationen, die häufig als sehr unhöflich bewertet werden oder die Gedanken über seine Frau. Sein Kind markiert er direkt nach der Geburt zusätzlich mit einem Filzschreiber, da er mit dem Wiedererkennen von Menschen Schwierigkeiten hat. Seine Wahrnehmung und Fähigkeiten verändern sich mit der Zeit. Genialität geht verloren, Kommunikationsfähigkeit wird gewonnen – das akzeptiert er gern. Ein lockeres und gut geschriebenes Buch über das Leben eines Asperger-Autisten. Durchaus Sie n mit Werken von Temple Grandin vergleichnne gabe. ö k n us bar. Und an vielen Stellen einfach nA lese cooler.

E S E r L

P

B RO

te eite druck w   … r ge e in d

E


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.