Behinderte Menschen 3/15 - Zur Sprache kommen

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www.behindertemenschen.at

Nr. 3/2015 • 38. Jahrgang

Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten

Zur Sprache kommen zum Thema

Timm Albers, Marion Döll und Lisanne Fröhlich, Jörg Mußmann, Claudia Osburg, Barbara Senckel

im Magazin

Mit Händen sprechen – Neue Kolumne von Birte Müller Wie klinge ich heute? – Wie Musiktherapie Worte ersetzen kann Inklusion als Paradiesmetapher – Essay von Wolfgang Jantzen Über den Reben schweben – Rüdesheim am Rhein erleben

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P.b.b. • GZ 14Z040023 M • Erscheinungsort Graz • Verlagspostamt 8020 Graz • ISSN 1561-2791 • Preis pro Nummer 12 Euro inkl. MWSt.

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Inhalt

Magazin

Thema Zur Sprache kommen Claudia Osburg Zur Sprache kommen: Wege der ­Integrativen Sprachförderung Sprache hat viele Gesichter

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Timm Albers Sprachdiagnostik im Übergang vom ­Kindergarten in die Schule Zur Bedeutung interdisziplinärer Zugänge bei der Bestimmung s­ prachlicher Kompetenzen in der Übergangsgestaltung 37

Seite 4 Birte Müller und ihr Sohn Willi verstehen einander ohne Worte. Foto: Birte Müller

Kolumne Birte Müller Mit Händen sprechen Wenn jemand die Formulierung benutzt, mein Kind „leide“ unter dem Down-Syndrom, korrigiere ich ihn in der Regel, denn mein 4 Kind leidet nicht …

Jörg Mußmann Was heißt hier „­ sprach-behindert“? Sprachbeeinträchtigungen und ­Mehrsprachigkeit

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Marion Döll und Lisanne Fröhlich Diagnosegestützte ­Sprach­bildung im Kontext von Mehrsprachigkeit Der Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität der österreichischen ­Gesellschaft ist eine große Heraus­ forderung für das Bildungswesen.

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Musiktherapie Johanna Auer Wie klinge ich heute? Musiktherapie öffnet Menschen mit Beeinträchtigungen Raum für freien Ausdruck und fördert ihre Selbstbestimmung.

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Le Petit Fils Martin Habacher Was blieb von 13 Jahren Schulbildung? „Ich begann meine akademische Laufbahn in der Sonderschule.“

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Essay Wolfgang Jantzen Inklusion als Paradiesmetapher? Zur Kritik einer unpolitischen Diskussion und Praxis

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Erzählung Susanne Krahe Euch zuliebe Eines Tages werden die Biologen dem Gen auflauern, das für den Muskelfraß an meinen Knochen sorgt …

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Barbara Senckel Was lässt sich da tun? Perspektiven und Ansätze der ­Psychologie bei Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen in der 67 ­Behindertenhilfe.


Inhalt

Magazin

Seite 76

Seite 82

Hildegard von Bingen, Wasser, Wein und Altstadt – sogar aus luftiger Höhe lässt sich Rüdesheim genießen.

Abenteuer- und Reiselust brachten Michael Herold ins Leben zurück. Foto: Herold/privat

Foto: Manfred W.K. Fischer

Grenzenlos Reisen

Bücher zum Thema

Manfred W.K. Fischer Über den Reben schweben – Rüdesheim am Rhein Rüdesheim ist Teil des UNESCO-Weltkulturerbes Oberes Mittelrheintal. Viele Fluss-Kreuzfahrtsschiffe legen hier an, damit die Reisenden einen Abstecher in die bezaubernde Altstadt mit der 76 Drosselgasse machen können.

Kurzmeldungen – Grenzenlos reisen • Reiseabenteuer von Renate Eulenbruch als ­Lesevergnügen • Rollstuhlgerechter Wanderweg ins Astner Moos • Ampeln für blinde Menschen in der ­Begegnungszone ­ Mariahilfer Straße in Wien 79–81 • … und weitere

Aus meinem Leben

Bücher zum Thema (aktuell und grundlegend) bearbeitet 85–88 von Willi Prammer.

Serie Christian Mürner Buchgestaltung als Bildgeschichte zu Behinderung Buchumschläge von Autobiografien behinderter Autorinnen und 89 Autoren von der Mitte des 20. bis ins 21. Jahrhundert.

Kalender 90 91–92

Kulturtermine Fachveranstaltungen

Impressum und Offenlegung

Michaela Schneider Barrieren gibt es nur in den Köpfen „Oft kann ein Schicksal ein wirkliches Geschenk sein. Es rückt die Prioritäten zurecht.“ Michael Herolds Augen leuchten, während er über sein Leben erzählt – ein Leben, das kaum erfüllter sein 82 könnte …

auf der hinteren Umschlagseite innen

Aus Grolls Skizzenbuch Erwin Riess Unter Geiern Der Dozent hatte den Wunsch geäußert, Groll im Cafe-­ Restaurant „Fraunhuber“ in der Himmelpfortgasse zum Lunch einzuladen, es gebe etwas zu feiern …

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Illustration: Birte Müller

Magazin

Birte Müller

Mit Händen sprechen Wenn jemand die Formulierung benutzt, mein Kind „leide“ unter dem DownSyndrom, korrigiere ich ihn in der Regel, denn mein Kind leidet nicht. Wenn einer leidet, dann eher ich, weil mein Sohn mit seinen acht Jahren nicht auf die Toilette gehen will und immer laut Blasmusik hört. Aber Willi? Der leidet nicht, außer natürlich, ich nötige ihn, auf die Toilette zu gehen oder mache seine Blasmusik leiser. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, gibt es doch einen Lebensbereich, in dem Willi unter seiner Behinderung leidet – nämlich seine fehlende Lautsprache. Willi spürt, dass er aus der Sprachwelt ausgeschlossen ist und beginnt in letzter Zeit immer öfter laut zu schreien, wenn andere sich normal unterhalten. Ihn nervt das viele Reden, denn er selber kann gar nicht sprechen und komplexe Sätze nicht verstehen. Warum er nicht sprechen kann? Ich weiß es nicht – vielleicht ist es die Schwere seiner Lernbehinderung, vielleicht eine Schädigung des Sprachzentrums durch seine epileptischen Anfälle, vielleicht Apraxie, Ataxie, Dyspraxie oder sonst etwas. Es spielt auch keine Rolle – auf jeden Fall schränkt es Willi stark ein. Immer wieder höre ich von Außenstehenden den Satz „Ach, er versteht doch viel mehr, als man denkt“. Aber fast nie kann ich dem zustimmen. Willi versteht meiner Meinung nach sogar weniger Sprache, als die meisten meinen. Er weiß nur in der Regel, was in einer ihm bekannten Situation von ihm erwartet wird. Wenn man Willi auffordert, etwas herunter Gefallenes (oder meist Geworfenes) zurück auf den Tisch zu legen, dann kann Willi dem folgen. Bekommt er aber die Aufforderung, etwas UNTER den Tisch zu legen (oder z. B. auf das Sofa, statt auf den Tisch), versteht er schon nicht, was man von ihm will und ist sehr verwirrt, oft

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wird er dann wütend. Durch Ansprache Willis Aufmerksamkeit zu bekommen, ist jetzt schon schwierig und ich habe große Angst, dass er eines Tages ganz resigniert und gar nicht mehr versucht, zu verstehen. Deswegen finde ich die Förderung der Kommunikation eine der dringlichsten Aufgaben im Umgang mit einem nicht sprechenden, behinderten Kind. In Deutschland hat Etta Wilkens mit ihrem System der Gebärden unterstützten Kommunikation (GuK) große Fortschritte in der Aufklärung über Gebärden gemacht. Auf 2 x 50 sehr schön und

Immer noch trifft man auf die veraltete Vorstellung, Gebärden würden den Erwerb der Lautsprache verzögern oder gar verhindern. erkennbar gezeichneten Bild- und Gebärdenkarten deckt sie einen guten Anfangswortschatz ab und hat es geschafft, dass in der Regel schon die Eltern zu Hause beginnen, mit ihren kleinen Kindern mit Down-

Syndrom Gebärden zu machen – etwa ab dem Zeitpunkt, an dem man merkt, dass ein Kind sich ausdrücken möchte, aber nicht kann. Nur diesen Gebärden haben wir es zu verdanken, dass Willi uns in den letzen Jahren irgendwie seine Bedürfnisse mitteilen konnte, außer indem er uns an der Hand führte! Erschreckenderweise ist es fast überall ein Problem, auch Erzieher und Lehrer vom Sinn des Gebärdens zu überzeugen. Immer noch trifft man auf die veraltete Vorstellung, Gebärden würden den Erwerb von Lautsprache verzögern oder gar verhindern – ein Vorurteil, das schon lange wissenschaftlich wiederlegt wurde! Bei Willi mit seinen acht Jahren kommen wir schon lange nicht mit den GuK-Gebärden aus. Als Nächstes half mir die Sammlung „Schau doch meine Hände an“, die es auch als Videos und iPhone App gibt, was ich persönlich zum Lernen sehr gut finde. Seit einiger Zeit gibt es eine tolle kostenlose APP „spread the sign“, mit vielen Gebärden aus den verschiedensten Sprachen. Ich besuche zusätzlich seit einem Jahr einen Kurs in Deutscher Gebärdensprache (DGS, beziehungsweise LBG: Lautsprachgbegleitende Gebärden), denn es ist kein Zustand, dass mir ständig wichtige Worte fehlen, besonders Verben und viele kleine Worte, so wie zu, auf, nach, von, an, aus, mit, und oder für. Ich gebärde für Willi jetzt nicht mehr nur ein Nomen aus einem Satz, sondern auch möglichst ein Verb und Personalpronomen. Also bei dem Satz „Möchtest du Butter auf dein Brot?“ mache ich parallel zum Sprechen die Gebärde für „möchten“ „du“ (also ich zeige auf Willi) und „Butter“. Ein Vorteil davon ist, dass ich dadurch auch bewusst kürzere Sätze bilde, langsamer spreche und Blickkontakt zu Willi einfordern muss – essentiell wichtige Grundregeln beim Sprechen mit meinem Sohn, die ich selber oft nicht


Kolumne einhalte. Es mag so klingen, als wäre ich die tolle Förder-Mama: Aber das bin ich ganz sicher nicht, dafür fehlen mir einfach Zeit und Nerven. Auch beim Thema Unterstützter Kommunikation bin ich immer nur zeitweise engagiert, in stressigen Zeiten (also sehr oft) mache ich kaum etwas: Jahrelang haben wir uns auf 50 GuK-Gebärden ausgeruht und das „Ich-Buch“ oder Tagesablaufpläne mit MetaCom-Symbolen müsste ich dringend in Angriff nehmen – ebenfalls seit Jahren. Auch die mangelnde Unterstützung meines Umfeldes und Willis Lernresistenz lassen mich immer mal wieder zurück fallen in eine Art Therapie-Starre, in der ich mich dann gar nicht mehr bewege. Besonders frustriert mich, dass die verschiedenen Gebärdensysteme sich in vielen einzelnen Gebärden unterscheiden. Aber man darf sich davon nicht abschrecken lassen, die Schnittmenge ist immer noch groß. In der Regel behalten wir die Gebärden bei, die Willi sicher kann und wechseln nur bei denen, die er noch nicht gelernt hatte. Mit Willi Gebärden zu lernen, ist eine schwierige Aufgabe. Er hat seit knapp zwei Jahren einen Sprechcomputer, einen sogenannten Talker, den wir zusätzlich zum Kommunizieren nutzen (auch hier müssen wir wiederum gegen Widerstände in der Schule und bei Willi selber kämpfen). Durch den Talker erfahre ich, was Willi interessiert und kann dafür wiederum Gebärden heraussuchen. Es ist extrem wichtig für uns, mit Willi besser zu kommunizieren – immer öfter setzt er lautes Schreien ein, um sich Gehör zu verschaffen, was den Familienalltag stark belastet. Ich bin wirklich froh, nicht meine eigenen Nachbarn zu sein, bei dem Lärm, den Willi verursacht!

Von der Schule bekommen wir weder in Sachen Talker noch Gebärden wirklich gute Unterstützung. Dabei denke ich, dass Kommunikation gerne im Mittelpunkt des gesamten Unterrichts stehen könnte. Es erschient mir viel wichtiger für Willi als Konsonanten und Umlaute. Stattdessen muss ich mir, wann immer ich versuche in der Schule das Thema Unterstütze Kommunikation anzusprechen, den unendlich unbefriedigenden Satz anhören „Wir verstehen ihn auch so“. Durch die dürftige Mitarbeit der Schule habe ich natürlich den Druck, mich zu Hause doppelt anstrengen zu müssen, um Willi Gebärden beizubringen. Dazu kommt, dass Willi seine mühsam erlernten Gebärden motorisch sehr ungenau ausführt. Auch verliert er gelernte Gebärden wieder (so wie es mit seinen wenigen gesprochenen Worten passiert), als hätte er nur einen begrenzten Speicherplatz im Gehirn. All das sind Gründe, warum Lehrer und Therapeuten bei Willi keine große Hoffnung in Gebärden setzen. Ich wiederum setze keine Hoffnung darein, dass Willi noch das Sprechen lernen wird, das wäre absolut naiv, ja ich würde es sogar fahrlässig nennen, ihm nicht alternative Verständigungsmöglichkeiten anzubieten. Außerdem entwickelt sich Willi ja weiter, also kann er auch motorisch besser werden und auch sein „Speichervolumen“ wird zunehmen. Deswegen bin ich ständig auf der Suche nach gutem Material, um Willi für Gebärden zu begeistern. Am besten lernt Willi Gebärden zu Liedern. Willi interessiert sich sehr für Musik und natürlich für Fernsehen. Ich machte mich also auf die Suche nach Musikvideos mit Gebärden. Ich fand eine ganze Reihe Popsongs in Deutscher Gebärden-

Unsere neue Kolumnistin Birte Müller (www.illuland.de) studierte Buchillustration und Malerei in Hamburg, Mexiko und Bolivien. Heute sind Birte Müllers Bilderbücher in über 14 Sprachen übersetzt, und sie ist rund um den Globus bekannt für ihre Lesungen und Workshops mit Kindern. Birte Müllers toller Sohn Willi kam 2007 mit dem Down-Syndrom zur Welt und ihre süße Tochter Olivia nur kurze Zeit später mit dem NormalSyndrom. Vom Glück, mit ihm und seiner Schwester zu leben, erzählen „Willis Welt“ und „Planet Willi“ (siehe Seite 90). Zusätzlich hat Birte Müller auch noch einen VW-Bus-fanatischen Ehemann, Eltern, die ihr notfalls die Wäsche waschen, ein spießiges Reihenhäuschen, eine Vorliebe für Erdbeeren und zweitklassigen Fußball (sie ist St. Pauli-Fan) und leider keine Zeit mehr zum Marathon-Laufen.

„Sie spricht mir aus der Seele“ So eine Mutter bei der Lektüre von Birte Müllers Bücher und Kolumnen. Der Gründungsimpuls für die Zeitschrift „Behinderte Menschen“, jetzt schon 38 Jahre her, kam von Eltern behinderter Kinder. Jetzt schreibt wieder eine Mut­ ter regelmäßig für unsere Zeitschrift. Birte Müller schildert den Alltag, in ehrlicher und herz­ erfrischender Art, die Höhen und Tiefen, offen und unge­ schminkt, Sie werden oft schmunzeln, aber auch manchmal feuchte Augen bekommen. Und immer wieder wird die Le­ bensfreude siegen und das ­Existenzrecht jedes Menschen. Birte Müller wird uns regelmäßig mit „Willis Insiderwissen“ beglücken. ­Willi, Olivia, Birte samt Mann, w ­ illkommen im Team! e n Si e. e Josef Fragner n b n

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Birte Müller ist ständig auf der Suche nach gutem Material, um ihren Sohn Willi für Gebärden zu begeistern.  Fotos: Birte Müller

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Peter Kaltenböck: … Waterloo schreit um Hilfe, 2001, Acryl auf Papier, 35 x 25 cm Dazu: (Schreib-)Kunst und Behinderung von Peter Assmann, S. 73 ff.


Thema:

Zur Sprache kommen

Claudia Osburg

Zur Sprache kommen: Wege der Integrativen Sprachförderung Sprache hat viele Gesichter Joanna winkt. Ich soll kommen. Malte schreibt mir einen Kritzelbrief. Er liest mir vor, was da steht: „Der Tag heute war toll.“ Joe ruft mich an. Er will mit mir sprechen. Lea schickt mir einen Brief. Es geht ihr gut, das freut mich. Mareike malt mir ein Kritzelbild. Sie hat an mich gedacht. Mustafa sagt mir etwas auf Türkisch. Als ich ihn fragend ansehe, übersetzt mir Ahmed, was M ­ ustafa gesagt hat. Im Lehrerzimmer beginnt gleich die Konferenz. Sprache, in gesprochener und geschriebener Form, Sprache, gebärdet, verschlüsselt, offensichtlich, sofern man das „Kodierungssystem“ kennt… Sprache ist allgegenwärtig. Spuren im Sand, Höhlenmalereien oder Gesichter sprechen Bände. Blindenschrift ist für viele Menschen lesbar. Steinmännchen am Wegrand für Wanderer weisen die Richtung. Die Möglichkeiten, sich mitzuteilen, sind vielfältig. Die persönliche Umarmung, die direkte Kommunikation, die digitalen Medien: Mails, Whatsapp, Skype, Telefon … die Möglichkeiten der Kommunikation und Informationsweitergabe sind unzählig und es gab noch nie so viele wie heute. Und dennoch ist es immer wieder eine Herausforderung, alle Kinder, alle Menschen in ­Sprache einzubeziehen, sie gleichberechtigt am Leben teilhaben zulassen.

Mittels Sprache können Menschen behindert oder gefördert werden Sprache, in gesprochener oder geschriebener Form, ist das zentralste Kommunikationssystem unserer Gesell­ schaft. Sie sind so etabliert, dass es jenen, die sie beherr­ schen, schwer fällt, empathisch gegenüber denen zu sein, die sie nicht oder nur eingeschränkt verwenden können. Wie selbstverständlich lesen und schreiben wir und merken nicht, dass es nicht allen so gelingt. Lara „versteht“ nicht, was ich von ihr will. Sam kann nicht hören, was Jasmin sagt und Joaquin beginnt, sich die deutsche Sprache zu erschließen. Menschen aus kom­ munikativen Prozessen auszugrenzen, geschieht meist unbewusst und nicht absichtlich, aber auch Unachtsam­ keit kann Menschen ausgrenzen. Beispiel: Vor wenigen Jahren war ich in einem Schul­ kollegium bei der Zeugniskonferenz anwesend. „Marcel macht keine Hausaufgaben“, klagt eine Lehrerin. „Ich habe ihm schon so oft gesagt, dass es wichtig sei, weil er sonst nicht Lesen und Schreiben lerne. Den Eltern habe ich Briefe geschrieben. Sie antworten nicht – auf keinen Brief. Sie kommen nicht zum Elternabend und

ignorieren alle Einladungen.“ Meine Nachfrage, ob denn die Eltern lesen und schreiben können, verunsichert die Lehrerin. „Daran habe ich gar nicht gedacht.“ Später be­ sucht die Lehrerin das Kind zu Hause und erfährt, dass Marcel bei seiner alleinerziehenden Mutter lebt. Aus dem Verhalten der Mutter kann sie erschließen (ein direktes Ansprechen hätte hier die Privatsphäre verletzt), dass sie ihre Briefe nicht lesen kann. Den telefonischen Einladun­ gen zum Elternabend kommt sie nach und die Lehrerin erkennt, dass sie großes Interesse an ihrem Sohn hat. Der unachtsame Umgang mit Sprache, in schulischen oder alltäglichen Kontexten, kann Menschen behindern. In öffentlichen Bereichen wird – unterschiedlich inten­ siv – am Abbau der Barrieren gearbeitet, wie z. B. durch Texte mit „leichter Sprache“, Piktogramme, Info­center, Schrifttafeln, Lautsprecherdurchsagen etc. Auch in schu­ lischen Kontexten bestehen diverse Möglichkeiten, eine Unterrichtskultur zu schaffen, an der alle Schülerinnen und Schüler teilhaben können. Empathie, Verständnis und genaue Beobachtung sowohl der Schülerinnen und Schüler als auch des (familiären) Umfeldes sind wesentli­ e Si . nsie che Voraussetzungen, um Barrieren abzubauen. Aber e n ön sgabe reichen häufig nicht aus. Fachlich fundierten­Dkiagnosen e Au s von Kindern, die scheinbar unmotivierte ten erle Verhaltens­

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Claudia Osburg

Zur Sprache kommen: Wege der Integrativen Sprachförderung

weisen zeigen oder für die individuelle Lernwege bedeut­ sam sind, können hilfreich sein. Wie erschließt sich Jan, der unter den Bedingungen von Autismus lebt, Sprache und warum kann Jasmin das „k“ nicht bilden?

Auf dem Weg zur Sprache Wie machen Kinder das, wenn sie sprechen lernen, wenn sie sich den Sprachklang, die Satzmelodie, einzelne Wör­ ter, die Grammatik erschließen, wenn sie lernen, andere zu verstehen, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen? Wie machen sie das, wenn sie sich mit fragenden Gesten („Das da?“) Wissen erschließen, wenn sie zwei Sprachen auf einmal lernen, wenn sie Sprache lernen, obwohl ihnen das akustische Erschließen von Sprache nur sehr eingeschränkt möglich ist (vgl. dazu ausführlich Dehn/ Oomen-Welke/Osburg 2012)? Bewegung, Blick und Geste sind für das Sprachlernen zentral. Wiederkehrende Situationen, vertraute Umge­ bungen, Geborgenheit, die Koordination von Sehen und Bewegung, die Kontrolle der Muskelspannung, der Auf­ bau neuronaler Vernetzungen und vieles mehr sind we­ sentliche Fähigkeiten, die das Sprachlernen erleichtern. Auf dem Weg vom vorsprachlichen Austausch zur sprachlichen Kommunikation sind „Turn-Takings“ be­ obachtbar, eine dialogische Struktur der Interaktion „Ich bin dran, du bist dran“, die abwechselnde natürliche Inter­ aktion zwischen Kind und Bezugsperson. Ein großes Interesse des angesehenen (Entwicklungs-) Psychologen Jérôme Seymour Bruner galt pädagogischen Fragen, insbesondere jenen, wie Kinder in interaktionis­ tischen Kontexten Sprache entdecken. Jerome Bruner (1974/75) zeigt, dass es Kindern (meist sind sie zwischen 8 und 13 Monaten alt) gelingt, den Blick zwischen einem Gegenstand und der Bezugsperson herzustellen. Die Kin­ der zeigen auf etwas, blicken dann den Gesprächspartner an, so als wollten sie fragen: „Was ist das?“ Der Blick wan­ dert zwischen dem Gegenstand und der Bezugsperson hin und her, wie in einem „Beziehungsdreieck“. Dieses gemeinsame Schauen auf ein Objekt ist nach Bruner eine zentrale Grundlage für die Entwicklung der sprachlichen Referenz. Beide Kommunikationspartner beziehen sich gemeinsam auf etwas. Die promovierte und diplomierte Logopädin Barbara Zollinger knüpft an die Untersuchungen an und belegt, dass dieser „trianguläre oder referentielle Blickkontakt“ zentral für den Spracherwerb ist. In einer Studie (2000, vgl. auch 1996) zeigt sie, dass es Kindern, die diesen trian­ gulären Blickkontakt (noch) nicht oder kaum erworben haben, erschwert ist, Sprache zu lernen. Sie demonst­ riert Unterschiede bei Kindern, die schlicht auf etwas zeigen und bei solchen, die sich vergewissern, dass die Bezugsperson auf denselben Gegenstand schaut. Letztere erschließen sich Sprache „effektiver“.

Spiegelneurone 28

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In der Interaktion von Säuglingen und Bezugsper­ sonen erkennt man ein ähnliches Minenspiel. Kinder imitieren Erwachsene (und auch andersherum), sie ah­ men ihre Sprache nach, imitieren sie, erfahren von ih­ nen eine Resonanz. Jene Prozesse der Imitation finden wechselseitig statt. Die italienischen Neurophysiologen und Wissenschaftler Giacomo Rizzolatti und Corrado Sinigaglia (2008) demonstrieren eindrucksvoll, dass den Spiegelneuronen für Lernkontexte eine zentrale Rolle zukommt. Sie sind von Geburt an aktiv und bleiben es lebenslang. „Aus der Neurobiologie wissen wir schon längere Zeit, dass bestimmte Nervenzellen Handlungen steuern (Handlungsneurone). Neu ist, dass bestimmte Nervenzellen auch aktiv sind, wenn wir Handlungen beobachten: Das sind die Spiegelneurone. Sie sind ver­ antwortlich für die Resonanz, also das ‚Mitschwingen‘ und Miterleben beim Beobachten und auch für die Re­ aktion darauf.“ (Dehn/Oomen-Welke/Osburg 2012, S. 12). Die Spiegelneurone sind eng mit Handlungen verknüpft. Durch sie ist es möglich, Handlungen intuitiv, auch ohne Sprache, zu verstehen. Diese Form der „Nachahmung“ ist auch bei Erwach­ senen aktiv. Wir werden auf der Straße angelächelt und lächeln zurück, wir gähnen, wenn wir jemanden gäh­ nen sehen, ohne darüber nachzudenken. Spiegelneurone steuern damit unbewusst unsere „Perspektivübernahme“ – im Sinne von „Ich fühle, wie du fühlst.“. In der frühen „Mutter-Kind-Interaktion“, der soge­ nannten „Motherese“ (vgl. Zollinger 2000), spielen auch die Spiegelneurone eine wichtige Rolle. Die Bezugsper­ son ahmt die kindlichen Äußerungen in Teilen nach, er­ weitert sie (verbal „Ja, da ist ein Ball!“ oder durch auffällige Prosodie oder nonverbal durch Zeigen). Zentral ist nun, dass dieser kommunikativ-interaktive Dialog nur dann entsteht, wenn beide den „Wunsch“ des gemeinsamen Austausches haben und auch die Fähigkeit, die „Sprache“ des anderen zu verstehen.

Erschwerte kommunikative-­ interaktive Prozesse Bei Menschen, die unter den Bedingungen von Autis­ mus leben, wird vermutet, dass ihr Stammhirn „nicht so gut“ entwickelt sei. Der Diplompsychologe und Pro­ fessor für Erziehungswissenschaft André Frank Zim­ pel kritisiert Behauptungen, dass jene Menschen keine Spiegel­neuronen hätten und so, analog der „Theory of Mind“, sich nicht in andere Personen hineinversetzen könnten. Er bezieht sich auf Untersuchungen, die zei­ gen, dass jene Menschen nicht weniger, sondern mehr Neuronen im Stammhirn hätten und sie mit jenem Neuronen­überschuss wenig arbeiten können, weil „ih­ nen die dafür notwendigen Informationen verrauschen. Gesichts­mimik, Gesten und Stimmklang nehmen sie so detailreich wahr, dass sie sprichwörtlich vor lauter Bäu­ men den Wald nicht sehen.“ (Zimpel 2015, S. 34, vgl. auch Zimpel 2012). Wie genial sind sie, wenn sie sich Gestik, Mimik und Stimmklang unter erschwerten Bedingungen und kreativen Nachahmungen erschließen müssen und trotzdem erfolgreich Sprache lernen?


Thema: Zur Sprache kommen Wird Interaktion als ein Prozess aufgefasst, bei dem sich die Handlungen von zwei Sprechern aufeinander beziehen und diese Handlungen sich wieder beeinflus­ sen, so kann eine Veränderung einer bestimmten Verhal­ tensweise des Kindes zu einer veränderten Handlung bei der Mutter führen. Auch hier macht Barbara Zollinger (2000, S. 53) bedeutsame Beobachtungen: Es gibt signi­ fikante Unterschiede bezüglich den sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungsmustern von Müttern mit Kindern, denen diese Interaktion gelingt und jenen, die diese Interaktion kaum oder nicht aufbauen (können). Geben wir einen Impuls zu einem potenziellen Kom­ munikationspartner und erwidert dieser jenen nicht, so brechen wir irgendwann den Kontakt ab. So auch Be­ zugspersonen. Beim Wickeln z. B. lächelt die Mutter das Kind an; bleibt das erwidernde Lächeln aus, unternimmt die Mutter einen neuen Versuch. Tritt die erwartete Re­ aktion auch nach wiederholten Animationen nicht ein, wird der Impuls abgebrochen. Ein Kreislauf entsteht: Die Mutter verkürzt ihre Interaktion, das Wickeln z. B. wird nicht mehr als eine Möglichkeit der kommunikativen Interaktion genutzt, sondern ist schlicht auf Reinigung gerichtet. Das Kind erhält weniger Anregungen und hat dadurch verringerte Lernchancen für interaktive Prozesse.

Sprachstörungen Sprachlernen ist ein aktiver Konstruktionsprozess. Die (unbewusste) Orientierung an den Bezugspersonen ist charakteristisch. Babys können zunächst alle Phone­ me, also die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten einer Sprache, in ihren Nuancen erkennen, eine Fähigkeit, die uns erwachsenen Sprechern nicht mehr möglich ist. An der Universität Würzburg hat die Verhaltens­physiologin Kathleen Wermke (2008) belegt, dass bereits Neugeborene die Muttersprache von anderen unterscheiden können. Nun müssen sie lernen, welche Phoneme in der Muttersprache bedeutsam sind. Ein „ge­ lispeltes“ [s] ist in der deutschen Sprache nicht relevant; die Bedeutung in Wörtern ändert sich nicht; wird das [s] jedoch durch ein [t] ersetzt, hat das semantische Kon­ sequenzen („Haus“, „Haut“). In der englischen Sprache hingegen kann ein interdental gebildeter [s]-Laut Aus­ wirkungen auf die Bedeutung haben, wie in “sick” versus “thick” (vgl. Osburg 1997). Lispelt eine Bezugsperson, so verwundert es nicht, wenn das Kind dieses nachahmt. Auch die Prosodie, Gestik oder Mimik sind ein Resultat aus „aktiver Imitation“ und Konstruktion, die aus sozi­ alem Referenzieren entspringen. Um Phonemen Bedeutung zu geben oder sich die Grammatik und Semantik der Sprache zu erschließen, bedarf es komplexer kognitiver Fähigkeiten. Kinder, wel­ che die Bedeutungsunterscheidung von Phonemen nicht erkannt haben, können den Wörtern nur unzureichen­ de Bedeutungen beimessen. Interessant ist jedoch, dass Kinder mit sogenannten phonologischen Auffälligkeiten häufig die Sprache der anderen „verstehen“, auch wenn sie selbst die Sprachlaute nicht adäquat realisieren, also z. B. „Topf“ zum „Kopf“ sagen.

Kompliziert ist auch das grammatische System der Sprache. Während es vielen Kindern scheinbar prob­ lemlos gelingt, sich das Regelwerk anzueignen, haben andere Kinder Schwierigkeiten. Petra beispielsweise (vgl. Löffler 2011, S. 93ff ) war im Laufe ihrer Kindheit häufig an Mittelohrentzündungen erkrankt. Sind ihre zeitweiligen Hörbeeinträchtigungen ein Grund für ihre Schwierigkei­ ten beim Grammatikerwerb? Welchen Einfluss hat ihre Umgebung auf ihren Spracherwerb? Und wie schwer fällt es ihr, Regeln über grammatische Strukturen zu konstruieren und zu überprüfen? Sprachlernen, das wird deutlich, ist ein Vorgang, der durch eine lernförderliche Umgebung und „intakte“ Sinnesleistungen unterstützt werden kann, der jedoch in höchstem Grade ein komplexes kognitives Verstehen ist. Und eins ist wunderbar: Fehlen begünstigende Faktoren, kann das Kind viele dieser ausgleichen und kompensie­ ren. Je mehr Hilfe es durch die Umwelt bekommt, desto leichter kann ihm dies gelingen.

Zum Beispiel Semantik Wenn kleine Kinder Wörter sprechen, dann sind diese Einwortäußerungen Sätze mit Bedeutungen. „Da!“ kann bedeuten: „Ich möchte das Brot haben!“ „Ball“, verbun­ den mit einem fragenden Blick, kann bedeuten: „Wollen wir Ballspielen?“ Irgendwann explodiert der Wortschatz, Kinder erschließen sich die Welt. Sie lernen Wörter, verbinden sie mit Bedeutungen und abstrahieren sie zu begrifflichem Wissen. Der Begriff ist nicht stabil, er ist ständig im Wandel. Über- und Unterdehnungen sind im Spracherwerb bei allen Kindern beobachtbar. So steht „Wauwau“ z. B. für alles, was vier Beine hat, für den Hund, die Katze, das Kaninchen – oder „Ball“, für alles, was rund ist. Warum Kinder über- bzw. unterdehnen, darüber ist sich die Wissenschaft nicht einig (vgl. Szagun 2007, S. 66). Man weiß aber, dass das Denken kleiner Kinder stark an der unmittelbaren Erfahrung haftet. Sind Namen austauschbar? Das ist eine der Fragen, die der bedeutende Entwicklungspsychologe und Biologe Jean Piaget mit Kindern geführt hat. Erst im Alter von ca. fünf bis acht Jahren erfahren Kinder, dass Wörter austauschbar sind.

Jemand fragt ein Kind: „Hätte man die ‚Sonne‘ auch ‚Mond‘ und den ‚Mond‘ auch ‚Sonne‘ nennen können? – Nein. – Warum nicht? Weil die Sonne stärker scheint als der Mond.“ […] „Wenn aber alle Leute die Sonne ‚Mond‘ und den Mond ‚Sonne‘ genannt hätten, hätte man dann wissen können, dass das falsch ist? – Ja, denn die Sonne bleibt immer größer. Sie bleibt, wie sie ist, und der Mond bleibt, wie er ist. – Ja, aber es soll ja nicht die Sonne geändert werden, sondern nur ihr Name […]. – Nein. Weil der Mond am Abend am Himmel Sie aufsteigt und die Sonne am Tag.“ (Piaget 2005, S. 84) nen

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Aus meinem Leben Michaela Schneider

Barrieren gibt es nur in den Köpfen „Oft kann ein Schicksal ein wirkliches Geschenk sein. Es rückt die Prioritäten zurecht. Schließlich weiß keiner von uns, ob er am nächsten Tag noch da sein wird oder nicht.“ Michael Herolds Augen leuchten, während er über sein Leben erzählt – ein Leben, das kaum erfüllter sein könnte, denn oberste Maxime des Unterfranken ist es, keine Wünsche aufzuschieben. Der junge Mann aus Wertheim hat die Welt bereist und eine Zeit lang in Neuseeland gelebt. Er arbeitet in internationalen Teams als 3D-Animator, wirkt zurzeit an einer Filmproduktion in Wien mit. Er war in der Karibik tauchen und ist vom Skytower in Auckland gesprungen. Das alles klingt schon für sich nach großen Abenteuern. Doch mit Abenteuer sind diese Erlebnisse erst recht verbunden, weil Michael Herold an einer schweren Form von Muskelschwund erkrankt ist. Als Michael drei Jahre alt war, merkte die Mutter, dass sich der Junge beim Treppesteigen viel schwerer tat als Gleichaltrige. Eine Diagnose ließ nicht lange auf sich warten, allerdings zunächst die verkehrte: Das Kind werde nicht bis zum Teenager-Alter leben, prognostizierten die Ärzte. Ein gutes Jahr später folgte mit Spinaler Muskelatrophie die richtige Diagnose, Mediziner redeten nun von einer höheren Lebenserwartung. Michael selbst hat seine ganz eigene Erklärung: „Ich glaube, irgendwann hat meine Erkrankung aufgegeben und ihren Job an den Nagel gehängt. Es war wohl zu viel Arbeit, mich klein zu kriegen.“ Seine Kindheit sei recht normal verlaufen. Im Sportunterricht sei er nicht benotet worden, aber immer dabei gewesen. Auch wenn die Freunde am Nachmittag tobten, machte Michael mit: „Ich war halt der, der nicht bis in die Baumspitze hochkam.“ Mit den Wachstumsschüben verschlimmerte sich der Muskelschwund: „Das kam schleichend. Irgendwann konnte ich mich zum Beispiel nicht mehr vorbeugen und den Rucksack aufheben.“ Heute kann er am Stück mit Stock noch rund 100 Meter gehen. Bei längeren Strecken ist er auf den Rollstuhl angewiesen. Diese Erfahrungen prägten den heute 36-Jährigen früh: „Ich bin gewohnt, dass mir Sachen weglaufen. Deshalb schiebe ich nichts auf.“ Und das ist übrigens nur einer von sieben Gründen, weshalb der junge Mann seine Behinderung liebt, wie er in seinem Blog www.michaelherold.de schreibt.

Vom Bungee-Jumping …

derung derart erfüllt sei, durchlief er eine schwierige Phase. „Ich hatte keine Arbeit, es ging mir schlecht“, erinnert er sich an einen Morgen am Frühstückstisch. Bei einer Tasse Kaffee griff er zu Stift und Papier und notierte, was er alles tun würde, wenn er gesund wäre. „Das war für mich ein Manifest ans Leben nach dem Motto „Wegen dir, Krankheit, habe ich das alles nicht.“ Als die Liste mit ungefähr 20 Punkten auf dem Tisch lag, stand Manifest ans Leben der Wunsch, einmal Drachen zu fliegen, an Ehe Michael begriff, dass sein Leben nicht erster Stelle. In dem Moment machte es das trotz, sondern gerade wegen der Behin- berühmte Klick im Kopf: „Ich beschloss, ich

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mach es trotzdem!“ Das Problem: Ohne Anlauf schafft man es selbst beim Tandemflug nicht in die Luft. Michael ließ sich nicht entmutigen und nach unzähligen Anrufen und vielen Absagen fand er tatsächlich einen Drachen mit Fahrgestell. „In der Luft übergab mir der Pilot plötzlich die Lenkstange. In dem Moment war ich wieder ein vierjähriger Junge, der sagt: Ich kann alles“, erinnert sich der 36-Jährige. Stück für Stück „arbeitete“ er seine To-doListe ab: Ein Freund jobbte damals in Neuseeland und sagte: Komm vorbei, wenn du Lust hast“. Michael hatte Lust. Eigentlich hätte er mit Blick auf die Gesundheit zu jener Zeit einen Rollstuhl gebraucht, setzte sich trotzdem mit nichts als einem Koffer ins Flugzeug nach Neuseeland. Er besorgte sich ein Auto, eine Wohnung, Arbeit und fand neue Freunde. „Ich sah, was ich mir in kurzer Zeit aufbauen kann. Das gab mir viel Kraft.“ In den vergangenen Jahren arbeitete Michael als 3D-Animator an großen Produktionen wie „Die Pinguine aus Madagaskar“ mit. Er absolvierte im Rollstuhl in den USA eine Ausbildung zum Fitnesstrainer. Er flog in einem Kunstflugzeug – übrigens inklusive Ohnmacht. Er tauchte und tanzte. Und als er den ersten Rollstuhl erhalten hatte, ging es mit einem Freund auf direktem Weg nach Südtirol, um auf den Mountainbike-Strecken im Gebirge auszutesten, was das Gefährt alles kann.

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B ü c h e r zu „zur Sprache kommen“

Bücher zum Thema (aktuell und grundlegend) bearbeitet von Willi Prammer

1

Grohnfeldt, Manfred (2012)

Grundlagen der Sprachtherapie und Logopädie München: Reinhardt Verlag

Dieses Grundlagenwerk zur Sprachtherapie und Logopädie gibt eine systematische und fundierte Übersicht über das Fach. Neben den Basics zu Diagnose und Therapie und einem Blick auf die Klientel steht differenziertes Wissen für eine theoriegeleitete Praxis im Zentrum. Die wesentlichen Störungs- 1 3 phänomene werden in ihrer Erscheinungsform, Diagnostik und Therapie beschrieben. Aufgabenbereiche und Handlungsfelder von Sprachtherapeutinnen, Sprachtherapeuten 2 und Logopädinnen, Logopäden werden aufgezeigt. Definitionen, Zusammenfassungen und Stichwörter in der Randspalte sorgen ergebnisse und den aktuellen Stand zu für Übersichtlichkeit und eine schnelle Ori- Schwerpunkten des Spracherwerbs bzw. Sprachentwicklungsstörungen im Jugendentierung. und Erwachsenenalter.

2

Braun, Otto / Lüdtke, Ulrike (Hrsg.) (2012)

Sprache und Kommunikation – ­Enzyklopädisches Handbuch der ­Behindertenpädagogik, Bd. 8

Schöler, Hermann / Welling, Alfons (Hrsg.) (2007)

Stuttgart: Kohlhammer

Göttingen: Hogrefe

Dieser Band bietet eine umfassende Gesamtdarstellung zentraler Theorien, Konzeptansätze und Inhalte der Bereiche „Sprache und Kommunikation“ mitsamt ihren anwendungsorientierten Fragestellungen. Das thematische Spektrum umfasst den Laut- und Schriftspracherwerb über Gebärdensprache und Unterstützte Kommunikation bis hin zur Mehrsprachigkeit und Deutsch als Zweitsprache. Darüber hinaus werden die Übergänge zwischen den Förderschwerpunkten, wie Hören, Lernen, emotionale und soziale Entwicklung etc., gerade auch in inklusiven Kontexten erläutert. Ringmann, Svenja / Siegmüller Julia (Hrsg.) (2014)

Handbuch Spracherwerb und ­Sprachentwicklungsstörungen: ­Jugend- und Erwachsenenalter

Handbuch Sonderpädagogik, Bd. 1: Sonderpädagogik der Sprache

In den sechs Abschnitten dieses Handbuchs werden zahlreiche Aspekte von Sprache durch führende Vertreterinnen und Vertreter aus Linguistik, Logopädie, Pädagogik, Phoniatrie, Psychologie und Psychiatrie systematisch und umfassend beschrieben und analysiert. Das Buch hilft allen, die sich mit Sprache und Schriftsprache sowie ihren Auffälligkeiten und Störungen im Unterricht, in Diagnostik, in Frühförderung, Therapie und Beratung professionell beschäftigen. Iven, Claudia / Grötzbach, Holger / Hollenweger Haskell, Judith (Hrsg.) (2014)

Konzept für die Rehabilitation in Deutschland gesetzlich verpflichtend ist, hat das Buch folgende Ziele: • in die Denk- und Arbeitsweise der ICF einzuführen • die Umsetzung der ICF in klinische Routinen darzustellen • die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der ICF für die Rehabilitation von Kindern und Erwachsenen mit einer Sprach-, Sprech-, Stimm-, Schluck- oder Kommunikationsstörung zu beschreiben • die Arbeit mit der ICF anhand von klinischen Beispielen zu verdeutlichen.

3

Albers, Timm (2015)

Das Bilderbuch-Buch: Sprache, Kreativität und Emotionen in der Kita fördern Weinheim: Beltz

Erzieher/innen erfahren in diesem Buch, wie Bilderbücher die Entwicklung von Kindern positiv beeinflussen, wie sie die Bilderbuchbetrachtung abwechslungsreich und sprachförderlich gestalten können und wie die Familie in die frühpädagogische Arbeit einbezogen werden kann. Begleitet werden die einzelnen Kapitel von vielen BilderbuchTipps für Kinder von null bis sechs Jahren.

ICF und ICF-CY in der Sprachtherapie. ­Umsetzung und Anwendung in der ­logopädischen Praxis Idstein: Schulz-Kirchner Verlag GmbH

Das Besondere an der ICF (Internationale Klassifikation für Gesundheit) ist, dass sie Das Handbuch schlägt die Brücke zwischen Funktionsfähigkeit und Behinderung aus Forschung und Praxis. Es gibt einen gut les- biologischer, individueller und gesellschaftbaren Überblick über klassische Forschungs- licher Perspektive beschreibt. Da die ICF als München: Urban & Fischer

4

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