Behinderte Menschen 4/5/15 – Fragen an die Inklusion

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Nr. 4/5/2015 • 38. Jahrgang

www.behindertemenschen.at

Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten

Fragen an die Inklusion zum Thema im Magazin

Markus Dederich, Holger Schäfer, Georg Feuser, Kerstin Ziemen, Karin Terfloth, Marc Willmann, Anke Langner, Karin Mannewitz, Ewald Feyerer, Wolfgang Jantzen Keine Wunder, aber so manche Überraschung – vier Jahre inklusiver Unterricht in Bremen Alle Kinder haben das Recht auf ein Miteinander – Interview über Inklusion in Österreich Fernsehen als Integrationshelfer? – kritische Gedanken von Mama Müller Inklusion: Mein Name ist DUMM – Essay von Christel Manske Ohne Hürde am Klavier – Förderung von Musiktalenten in Japan

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P.b.b. • GZ 14Z040023 M • Erscheinungsort Graz • Verlagspostamt 8020 Graz • ISSN 1561-2791 • Preis pro Nummer 12 Euro, außerhalb von Österreich 14 Euro, inkl. MWSt.


Inhalt

Magazin

Thema Fragen an die Inklusion Markus Dederich Zwischen Wertschätzung von D ­ iversität und spezialisierter I­ ntervention Ein behindertenpädagogisches Dilemma 27 im Zeichen der Inklusion

Holger Schäfer Herausforderungen und P­ otenziale ­Inklusiver ­Diagnostik Inklusive Diagnostik ist nicht die alleinige Aufgabe der Sonderpädagogik, sondern ist ebenso den unterrichtlichen Zuständigkeiten der Regelpädagogik 35 zuzuordnen.

Seite 4 Was haben vier Jahre Inklusion dieser Klasse in Bremen gebracht? Foto: Kathrin Spirk

Report Jeannette Otto Keine Wunder, aber so manche Überraschung In einer Bremer Klasse wird tagtäglich um gemeinsames Lernen gerungen …

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Kolumne Birte Müller Fernsehen als I­ ntegrationshelfer? Auch wenn es weh tut – aber bei uns scheitert Inklusion schon in der eigenen Familie.

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Report Karin Chladek Österreich ist barrierefrei. Ja? Nein? Vielleicht? Ab dem 1.1.2016 ist der öffentliche Raum in Österreich ­barrierefrei. Juchu! Oder?

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Aus Grolls Skizzenbuch Erwin Riess Roma Termini und die oberen Zehntausend

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Freaks around the world Barrierefreiheit – da fehlen das Herz und das Gefühl dafür! Franz-Joseph Huainigg trifft den mosambikanischen ­Parlamentarier Younusse Amad

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Wie kann Inklusion in der Schule gelingen? Die Anforderungen an einen inklusiven Unterricht sind hoch; es herrschen ­Ängste und ­Befürchtungen vor, die Herausforderungen nicht bewältigen zu können. Der Ruf nach schnellen und ­praktikablen Lösungen wird immer ­lauter. Wir haben nachgefragt, wie ­inklusiver Unterricht gelingen soll. Antworten gibt es von: Georg Feuser, Kerstin Ziemen, Karin Terfloth, Marc Willmann, Anke Langner, Karin Mannewitz, 45 Ewald Feyerer Wolfgang Jantzen Soziale Inklusion behinderter Menschen und der Einfluss der Kunst auf die ­Entwicklung der Persönlichkeit Reicht das menschenrechtliche und in seiner Folge politische Modell von Behinderung aus, um die Komplexität der Zusammenhänge zu erfassen? 63 Ich denke nein.

Die Einstiegsbilder zu den Themen-Artikeln kommen von Künstlern aus dem Blaumeier-Atelier. Ein Porträt über die „verrückte Kunst aus Bremen“ lesen Sie auf Seite 75.


Inhalt

Magazin

Seite 76

Seite 80

Ohne Hürde am Klavier – musikalische Talente in Japan.

Kunst zum Angreifen.

Foto: Lill

Foto: Markus Hauck (POW)

Essay Christel Manske Inklusion: Mein Name ist DUMM Es ist nun mehr als 40 Jahre her, dass ich als Lehrerin an einer Sonderschule in einem Obdachlosenviertel in München arbeitete …

Bücher zum Thema

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Grenzenlos Felix Lill Ohne Hürde am Klavier Aus Japan drängen sich Musiker auf, die einhändig, ohne Gehör oder mit Down-Syndrom spielen. Besuch bei einer Probe in Tokio.

87–93

Bücher zum Thema

Serie Christian Mürner Buchgestaltung als Bildgeschichte zu Behinderung Buchumschläge von Autobiografien behinderter Autorinnen und 92 Autoren von der Mitte des 20. bis ins 21. Jahrhundert.

Kalender 76

Kultur Michaela Schneider Kunst mit allen Sinnen „sehen“ Als hart, kalt und groß erlebte Patryk die Pietà von Käthe ­Kollwitz im Museum am Dom im unterfränkischen Würzburg. Und hohl habe sie geklungen, ergänzt der 13-jährige Schüler 80 noch.

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Kulturtermine Fachveranstaltungen

Impressum und Offenlegung auf der hinteren Umschlagseite innen

Sport Gerhard Einsiedler Vom Triathlon ins L­ eben – ein Buch, das Mut macht Autobiografie eines 32 Jahre alten Kärntners, der mit ­Willens­stärke, Mut und Kampfgeist seinem bis dahin tristen Leben eine Wende gab.

Titelbild von Miel Delahaij: „Inklusives Vertrauen“

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Magazin

Jeannette Otto

In vier Jahren inklusiven Unterrichts hat sich in dieser Klasse in Bremen viel getan.

Foto: Kathrin Spirk

Keine Wunder, aber so manche Überraschung In einer Bremer Klasse wird tagtäglich um gemeinsames Lernen gerungen. Haben all die Kinder, die abweichen von dem, was die Gesellschaft als „normal“ definiert, weil sie langsamer lernen, sich schlecht konzentrieren können oder schneller aggressiv werden, nun wirklich das Gefühl, dazuzugehören? Nur weil man ihnen sagt: Ihr gehört jetzt dazu. Hier ein Rückblick auf vier Jahre gemeinsame, vielfach herausfordernde Entwicklungsarbeit. Wie wird es ihren Schülern ergehen in diesen Tagen? Draußen in der Arbeitswelt? Die beiden Lehrer Frank Dopp und Siebo Donker fragen sich das oft, wenn sie morgens an ihrem Klassenraum vorübergehen anstatt hinein. Kein Laut kommt aus dem Zimmer, in dem die Klasse 9.3 nun schon seit mehr als vier Jahren zusammen lernt. Kein Kichern, kein Flüstern, kein Murat, der ruft „Herr Donker, Herr Donker, können Sie mir helfen?“, kein Alex, der unablässig Werbebotschaften vor sich hin murmelt, kein Tuna, der mit dunkler Männerstimme eine

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Provokation in Richtung Lehrerpult schickt. Die 9.3. ist im Betriebspraktikum. Drei Wochen lang. Jeder Schüler hat einen Platz gefunden, in Büros, Praxen, Werkstätten, Kanzleien. Das ist nicht selbstverständlich, denn in der 9.3 lernen fünf Kinder mit besonderem Förderbedarf. Als der Lehrer Frank Dopp an der Bremer Gesamtschule Ost die Klasse im Spätsommer 2011 übernahm, hatte er schon mehr als 20 Berufsjahre hinter sich. Aber einen Autisten wie Murat hatte er noch nie unterrichtet. Auch niemanden wie Alex, der durch sein

Grunzen, Schreien und Quietschen die gesamte Klasse am Anfang in den Wahnsinn trieb.

Der Sprung ins kalte Wasser Dopp hatte keine Ahnung, wie es sein würde, diesen Kindern Deutsch und Englisch beizubringen, mit ihnen Theater zu spielen oder auf Klassenfahrt zu gehen. Das erste Schuljahr hat ihn an seine Grenzen gebracht, gezeigt, wie ein gestandener Lehrer in Hilflosigkeit und Verzweiflung geraten


Report

Das über Jahrzehnte geschaffene Parallelsystem von separaten Förderschulen will Bremen damit möglichst schnell auf den Sondermüll der ­Pädagogik verbannen. kann. Noch heute kann er die Gefühle von damals zurückrufen: „Es war unmöglich, diese Klasse überhaupt zu unterrichten. Wir hätten fünf Lehrer pro Stunde gleich­zeitig gebraucht.“ Lange fühlte sich Dopp, als käme eine Welle auf ihn zu, „die größer war als alles, was ich vorher gesehen hatte“. Und trotzdem: Frank Dopp war überzeugt davon, dass die Vielfalt der Kinder am Ende ein Gewinn für alle sein wird, dass das gemeinsame Lernen nicht nur den förderbedürftigen und behinderten Schülern zu Gute kommt, sondern auch den schnellen Denkern, den Sprachbegabten und Mathegenies. Die Hansestadt Bremen hat als eines der ersten Bundesländer in Deutschland bereits 2009 die inklusive Schule gesetzlich verankert und sich damit auf den Weg gemacht, die UN-Behindertenrechtskonvention zu erfüllen. Demnach sollen alle Kinder gemeinsam zur Schule gehen, egal, ob sie nicht behindert oder behindert, in ihrer Entwicklung zurückgeblieben oder den anderen Kindern voraus sind. Das über Jahrzehnte geschaffene Parallelsystem von separaten Förderschulen will Bremen damit möglichst schnell auf den Sondermüll der Pädagogik verbannen. Förderschulen wird es in Zukunft nur noch für schwerst- und mehrfach körperbehinderte Kinder, für Blinde und Gehörlose geben. Schon heute gehen 77,1 Prozent der Schüler mit geistigen oder körperlichen Handicaps auf allgemeinbildende Schulen.

in der Werkstatt eines Busunternehmens. Den Sonderschulpädagogen Siebo Donker macht diese Aufzählung besonders stolz. Denn gerade für die Inklusionskinder sei das ein wichtiger erster Erfolg – zu sehen: Wir haben eine Chance. Es gibt einen Platz für uns in der Arbeitswelt. Donkers Ziel ist es, bis zum Ende der neunten Klasse mit den Kindern eine klare berufliche Perspektive zu erarbeiten. Denn die Zeit rast. Noch zwei Jahre, dann werden sie den Schonraum Schule verlassen müssen. Dann können Lehrer wie Frank Dopp, Siebo Donker oder die Sozialpädagogin Astrid Möllmann, die seit Anfang an zum Team gehört, nicht länger unterstützen, motivieren, trösten, aufmuntern und ermutigen.

Werden sie dann doch nur noch stören? Sortiert man sie wieder aus? Wird Murat, der autistische Junge, der gerne am Flughafen arbeiten will, sein Ziel erreichen? Und wird Alex einen Abschluss schaffen, um Koch zu werden, so wie er sich das wünscht? Für das Betriebspraktikum hat es Alex immerhin schon in eine Küche geschafft. Drei Wochen lang hilft er bei einem Pizzalieferanten. Murat arbeitet in einer Behindertenwerkstatt, bis zum Flughafen fehlt da noch ein ganzes Stück Weg. Die stille Elena Ein Besuch in der Inklusionsklasse ist in einem Friseurgeschäft untergekom- Kurz vor den Sommerferien. Ein heißer men, Max bei einem Elektriker und Tuna Dienstagmorgen, erste Stunde, Mathema-

Wie verändert die Inklusion das System Schule? Mindestens einmal im Jahr besuchen wir Schüler und Lehrer der Bremer Inklusionsklasse, um zu erfahren, ob sich die Perspektiven für Kinder mit Lernstörungen und Behinderungen wirklich ändern, wenn sie gemeinsam mit allen anderen zur Schule gehen. Und ob später – nach der Schule – ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt wirklich größer ist. Wir wollen wissen, wie lange das überhaupt funktioniert: gemeinsam zu lernen. Obwohl die Matheaufgaben komplizierter und die englischen Texte länger werden. Was geschieht mit den fünf Inklusionskindern, wenn sich der Rest der Klasse auf die Abschlussprüfungen vorbereitet?

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a Der Sonderschulpädagoge Siebo Donker mit den Inklusionskindern Alex en kö usg A s e (links) und Max.  Foto: Kathrin Spirk ten erl uck

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Jonas Luksch: „Aphrodite“, 2013, Acryl auf Leinwand, 100 x 70 cm  s. Künstlerporträt auf Seite 75


Thema:

Fragen an die Inklusion

Markus Dederich

Zwischen Wertschätzung von ­Diversität und spezialisierter I­ ntervention Ein behindertenpädagogisches Dilemma im Zeichen der Inklusion Während das Postulat der Anerkennung Diversität grundsätzlich als wertvoll und daher nicht bearbeitungsbedürftig auszuweisen sucht, beruhen spezialisierte Hilfen ebenso wie Früherkennung und Prävention auf einer Unterscheidungslogik, die bestimmte Differenzen als unerwünscht markiert und sonderpädagogische Interventionen legitimiert. Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, diesem Dilemma auf einer handlungspraktischen Ebene zu entgehen? Und wenn ja, wie könnte sie aussehen? Oder verändert sich der Blick, wenn das Problem auf andere Weise als bisher beschrieben wird?

Einführung in die Problemstellung Im Zeichen der Inklusion findet sich die Behindertenpädagogik im Spannungsfeld zweier werthaltiger Grundorientierungen wieder. Auf der einen Seite steht die Forderung nach unbedingter Anerkennung von Menschen mit Behinderungen, die eine von vielen als gleichwertig angesehenen Formen von Verschiedenheit verkörpern. Dies ist, folgt man beispielsweise Prengel (1995), der sozial-ethische Kern der Idee der Inklusion. Diese Wertorientierung scheint unmissverständlich nahezulegen, auf einen defizitorientierten, die Schädigung und Beeinträchtigung fokussierenden Blick, durch den die Behinderung als soziale Tatsache überhaupt erst hervorgebracht wird, zu verzichten. Der kategorisierenden Annäherung, die eine negative Differenz herausstellt und damit hierarchiebildend wirkt, wird ein normatives sozial-ethisches Prinzip entgegengesetzt: die Anerkennung

und Wertschätzung von Verschiedenheit. Hierdurch soll die wertmäßige Gleichheit des empirisch Differenten sichergestellt werden. Hier setzt eine häufig vorgebrachte Kritik einer spezialisierten Pädagogik bei Behinderung an. Sie habe, so der Kern der Kritik, historisch als Normalisierungsinstanz gewirkt und auf theoretischer wie praktischer Ebene die Konstruktion und (auch berufspolitisch motivierte) institutionelle Verbesonderung ihrer Klientel betrieben. Ihr Fortbestehen werde es erschweren oder verunmöglichen, kategoriale, stereotypisierende und hierarchisierende Gruppenbildungen abzubauen. Auf der anderen Seite dürfte es nicht nur in der Behindertenpädagogik, sondern in der Pädagogik überhaupt Konsens sein, dass Beeinträchtigungen der Entwicklung eines Kindes nicht tatenlos hingenommen werden dürfen. Vielmehr werden bestimmte Entwicklungsauffälligkeiten bzw. Entwicklungsrisiken als Anzeichen für Probleme angesehen, die einer spezifischen Bearbeitung

Die medizinisch und psychologisch geprägte Kategorie „Behinderung“ und ihre funktionellen Äquivalente, allen voran der „sonderpädagogische Förderbedarf“, scheinen substanzielle Barrieren für die Verwirklichung der Inklusion zu sein.   www.behindertemenschen.at

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Markus Dederich

Zwischen Wertschätzung von D ­ iversität und spezialisierter ­Intervention

bedürfen. Daher gelten Früherkennung und Prävention als bedeutsame pädagogische Handlungsfelder, denen die Aufgabe zufällt, unter Rückgriff auf definierte Maßnahmen Entwicklungsrisiken zu verhindern oder zu minimieren. Desweiteren dürfte konsensfähig sein, dass die pädagogische Bearbeitung individueller Beeinträchtigungen und mit ihr einhergehender psychosozialer Problemlagen sonderpädagogische Expertise erfordert. Diese Konstellation hat die Züge eines Dilemmas, vielleicht sogar einer Aporie. Zunächst möchte ich das bisher skizzierte Problemfeld noch etwas zuspitzen.

Behinderung als analytische ­K ategorie und als historisches Konstrukt Viele Beiträge zu einer kritischen Reflexion der Theorie und Praxis der Behindertenpädagogik haben seit den späten 1970er Jahren gezeigt, dass die Kategorie „Behinderung“ ein Problemtitel ist. Der medizinisch und psychologisch geprägte, auf individuelle Funktionsstörungen, Defekte und Defizite eingeengte Behinderungsbegriff wurde nicht nur als unzureichend, sondern als falsch ansetzend zurückgewiesen, weil er historische, soziale und kulturelle Aspekte der Konstruktion von Behinderung, etwa Stigmatisierung, Benachteiligung und Ausgrenzung, mehr oder weniger vollständig ausblendet. In der Folge wurden, etwa im Rahmen der Soziologie der Behinderungen oder der Disability Studies, verschiedene Theorien und Modelle entwickelt, deren gemeinsamer Nenner trotz aller Unterschiede darin besteht, Behinderung nicht auf individuelle Eigenschaften oder Merkmale zurückzuführen, etwa geschädigte Strukturen oder Funktionen, sondern als kontextabhängiges und relationales Phänomen zu fassen. Demnach bezeichnet der Begriff kein Individuum mit spezifischen Störungen oder Beeinträchtigungen, sondern ein mehrdimensionales Geflecht von Beziehungen und Relationen, aus dem erst der soziale Sachverhalt hervorgeht, der als „Behinderung“ bzw. „disability“ bezeichnet wird (Dederich 2009). Diese Theorien und Modelle verwenden Behinderung nicht als klassifikatorische oder diagnostische, sondern als kritisch-analytische Kategorie. Sie fokussieren die Frage, wie sich kulturelle, soziale, politische und wissenschaftliche Resonanzen auf Menschen, die erwartungswidrige Eigenschaften zeigen, zu Deutungsmustern verdichten, als „Wissen“ verankert und durch soziale und institutionell regulierte Praktiken tradiert, aber auch weiterentwickelt und verändert werden. Hier steht mit anderen Worten die Frage im Zentrum des Interesses, wie, unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen Vorstellungen, Deutungsmuster, Theorien und Modelle von negativ bewerteter körperlicher, geistiger, wahrnehmungsund verhaltensbezogener Differenz entstehen. Ich möchte hier nur eines von sehr vielen Beispielen dafür anführen, wie solche Prozesse kritisch rekonstruiert werden können. In Bezug auf die zunehmend institutionalisierte Pädagogik weisen Turmel (2008) und Tervooren (2008) darauf hin, dass die überwiegend aus

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der Psychologie stammenden und von der Pädagogik adaptierten Modelle von Entwicklung und Lernen zugleich deskriptiv und präskriptiv waren. Systematische Beobachtungen, deren statistische Auswertung sowie die Entwicklung von kategorialen Systemen haben seit dem 19 Jh. schrittweise zu einer Theorie der Normalentwicklung und damit zu einer Normalisierung der Kindheit geführt (vgl. Turmel 2008). Diese hat sich unter anderem in Entwicklungskalendern manifestiert, die durch die Zusammenarbeit von Eltern und Professionellen überaus wirkungsmächtig geworden sind. „Der Entwicklungskalender ist auf der Grundlage einer langen Tradition der Beobachtung und Beschreibung von Kindern erstellt worden und dient mit seiner Skala der notwendigen Entwicklungsschritte, die mit feinsten Altersmarkierungen verbunden sind, zur Regulierung und damit letztlich zur Präskription einer als normal aufgefassten Entwicklung. Wenn das tatsächliche Aufwachsen eines Kindes davon abweicht, wird medizinische oder therapeutische Hilfe angeraten oder werden größere Anstrengungen von den Eltern verlangt, um diese Abweichungen auszugleichen“ (Tervooren 2008, 41). Von solchen (und vielen anderen) Beobachtungen ausgehend scheint die Schlussfolgerung zwingend zu sein, dass die Kategorie „Behinderung“ und ihre funktionellen Äquivalente, allen voran der „sonderpädagogische Förderbedarf“, substanzielle Barrieren für die Verwirklichung der Inklusion sind. Daher sind sie nur noch als analytische, auf einer Beobachterperspektive angesiedelte Kategorien legitim, nicht aber in handlungspraktischen Kontexten, wo sie den Individuen spezifische Identitäten zuweisen. Aber ist diese Schlussfolgerung wirklich tragfähig?

Feststellungspraxen und I­ nterventionen bei besonderem Bedarf Die nachfolgenden Überlegungen beruhen auf der Annahme, dass Differenzen zwischen Kindern nicht nur irgendwie in sich wertvoll und daher zu achten sind, sondern als Unterschiede, die einen Unterschied machen, auch theoretisch und handlungspraktisch zu be-achten sind. Die ausdrückliche Beachtung der Differenzen wird aus pädagogischer Sicht dann unumgänglich, wenn sie Bildungs- und Partizipationsmöglichkeiten einschränken und diesen Einschränkungen nicht mit den üblichen pädagogischen Mitteln und Interventionen begegnet werden kann. Wenn diese Annahme zutritt, stehen die Befürworter der Dekategorisierung, sofern sie nicht der Idee einer Individualisierung pädagogischer Maßnahmen widersprechen, vor einem erheblichen erkenntnistheoretischen Problem. Es muss nämlich ernsthaft angezweifelt werden, dass beispielsweise Früherkennung, Prävention und die Bereitstellung früher Hilfen ohne Begrifflichkeiten und kategoriale Differenzierungen überhaupt möglich sind. Pädagogisch sinnvoll und gezielt auf etwas einzugehen, setzt voraus, dieses als etwas wahrzunehmen und


Thema: Fragen an die Inklusion

Wie soll es möglich sein, eine spezifische Hilfe zu planen, wenn nicht klar gesagt werden kann oder darf, wobei, wozu und mit welchen Mitteln die Hilfe erfolgen soll? zu erkennen. Obwohl das Erkennen von etwas als etwas eine sinnliche Dimension hat und mit Empfindungen und Gefühlen einhergeht, erfordert es spätestens dann sprachliche Bezeichnungen, wenn es verbalsprachlich kommuniziert werden soll. Dies gilt unabhängig von der sprachphilosophischen Frage, ob bewusste Erkenntnis nicht ohnehin grundsätzlich sprachlich verfasst ist. Zumindest war Immanuel Kant dieser Ansicht, als er feststellte, dass Anschauungen ohne Begriffe blind seien (vgl. hierzu Dederich 2015). Es ist schwer nachzuvollziehen, wie es gelingen soll, der Entstehung einer möglichen Problemlage durch Prävention vorzubeugen oder ihre Folgen durch frühe Hilfen abzumildern, wenn es als sozialethisch bedenklich eingestuft wird, diese Problemlage auch zu benennen. Wie soll es möglich sein, eine spezifische Hilfe zu planen, wenn nicht klar gesagt werden kann oder darf, wobei, wozu und mit welchen Mitteln die Hilfe erfolgen soll? Problemlagen können nur dann handlungspraktisch angemessen gewürdigt werden, wenn sie klar eingegrenzt und hinreichend konsistent erklärt werden können. Dies gilt trotz der Problematik, dass sich die Klassifizierung solcher Problemlagen in jungen Jahren allein aufgrund der kindlichen Entwicklungsdynamik als schwierig erweist und Prognosen unsicher sind. Insofern muss festgehalten werden: Begriffe und Kategorien, die pädagogisch relevante Differenzen markieren, sind unverzichtbar. Wenn dies zutrifft, stellen sich jedoch sogleich zwei weitere Fragen: Erstens: Anhand welcher Kriterien wird eine besondere Problemlage festgestellt? Und zweitens: Ist die Feststellung einer Problemlage in Absehung von individuellen Merkmalen oder Eigenschaften des Kindes möglich? Wie viele andere bemerkt Seitz (2012), die Zuweisung von Leistungen der Frühförderung über kindbezogene Defizite sei ein Qualitätshemmnis für die Inklusion. Dies sei deshalb der Fall, weil andere, vor allem sozialökologische Problemhorizonte mit der Folge ausgeblendet würden, kontextabhängige Aspekte der spezifischen Bedarfs- oder Problemlage zu individualisieren. Seitz stellt fest, „dass die administrative Praxis individuumsbezogener Ressourcenvergabe in inklusiven Kindertageseinrichtungen das Denken der pädagogischen Fachkräfte insofern prägt, als sie die kindbezogene Diagnose als ‚Schlüssel‘ für Unterstützung in der pädagogischen Arbeit werten, auch wenn sie um die Umfeldbedingtheit der Auffälligkeit wissen“ (S. 321). Diesem Hinweis von Seitz kann problemlos zugestimmt werden. Ohne Zweifel sind systemische oder ökologische Rahmenbedingungen kindlicher Entwicklungs- und Bildungsprozesse, etwa der soziokulturelle Hintergrund oder die soziale Lage der Familie, von ent-

scheidender Bedeutung. Die Genese und Manifestation von Beeinträchtigungen und Behinderungen erfolgt nicht nach einfachen und unilinearen Ursache-Wirkungs-Prinzipien. Vielmehr ist immer eine Vielzahl von intervenierenden Variablen im Spiel, etwa eine komplexe Konstellation von Risiko- und Schutzfaktoren. Ohne Zweifel sind der auf das Kind eingeengte klinische und pädagogische Blick sowie entsprechende Interventionspraktiken viel zu eng. Sie führen nicht nur zu einer nicht begründbaren Reduzierung von Komplexität, sondern münden häufig auch in Interventionen, die die an sie gerichteten Erwartungen allein deshalb nicht erfüllen können, weil sie Probleme, deren Ursachen in den Kontexten zu suchen sind, ausblenden beziehungsweise am Kind zu reparieren suchen. Zugleich aber dürfte es sich genau wegen dieser Komplexität in den meisten Fällen als unmöglich erweisen, nur mit Blick auf ein Umfeld oder eine Lebenssituation auf einen spezifischen Bedarf eines Kindes zu schließen und passende pädagogische Interventionen daraus abzuleiten. Hieraus folgt die (pädagogisch eigentlich triviale) Erkenntnis, dass es unumgänglich ist, nicht nur die häusliche, sozioökonomische und kulturelle Lebenswirklichkeit eines Kindes, gegebene institutionelle Kontexte usw. in den Blick zu nehmen, sondern auch das Kind selbst. An dieser Stelle könnte man nun einwenden, nicht der Blick auf das Kind sei das Problem, sondern die in der Sonderpädagogik traditionsreiche Defizitorientierung. Tatsächlich ist kaum zu bestreiten, dass auch und vielleicht sogar in erster Linie die Stärken und Kompetenzen eines Kindes im pädagogischen Fokus stehen und mit vorhandenen Ressourcen unterschiedlichster Art gearbeitet werden sollte. Wenn aber ein Kind beispielsweise offenkundige Probleme hat, sich altersangemessen verbalsprachlich zu artikulieren, dann reicht es nicht aus, auf seine lebhafte Körpersprache und seine ausdrucksstarken Bilder zu verweisen oder sich mit der Feststellung eines prekären häuslichen oder sozio-kulturellen Hintergrundes zu begnügen. Dann müssen auch individuelle Voraussetzungen des Kindes in den Blick genommen werden. Dazu gehört beispielsweise die Abklärung, ob funktionelle Beeinträchtigungen vorliegen. Aus diesem Grund greift der Ansatz der systembezogenen Ressourcenzuweisung, den Seitz (2012) und viele andere fordern, zu kurz. Ich wiederhole: Die Herstellung einer individuell zugeschnittenen, möglichst optimalen Passung zwischen Bedarf und Angebot erfordert zwingend eine kontextualisierende Betrachtung des einzelnen Kindes. Dieser sowohl kontextsensible als auch individualisierende Blick ließe sich überhaupt nur e n Si e. dann vermeiden, wenn alle – ungeachtet individueller e n b n Unterschiede – das Gleiche bekämen, Differenzen sga n kö Aualso e s e gerade nicht berücksichtigt würden. erl ten

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Sport Gerhard Einsiedler

Vom Triathlon ins ­Leben – ein Buch, das Mut macht Fesselnd und unterhaltsam geschrieben, erzählt die kürzlich erschienene Autobiografie das Leben eines 32 Jahre alten Kärntners, der mit Willens­ stärke, Mut und Kampfgeist seinem bis dahin tristen Leben eine Wende gab. Foto: www.christian-troger.com

Christian Troger wurde am 8. Oktober 1983 in Spittal an der Drau geboren und lebt seit seiner Kindheit in Seeboden am Millstättersee. Seit seiner Geburt fehlen ihm sowohl sein linkes Bein als auch seine Hüftpfanne. Damals erklärten Ärzte seinen Eltern, dass ihr Sohn niemals würde gehen können. Bereits im zarten Alter von nur 14 Monaten lieferte er den Ärzten den erfreulichen Gegenbeweis. Mit 24 Jahren war Christian Troger Kettenraucher, ließ keine Party aus und wankte orientierungslos durchs Leben. Er verlor immer mehr den Halt und drohte abzustürzen. Sein eigenes Leben lief an ihm vorbei. 2005 besuchte er das erste Mal mehr oder weniger durch Zufall einen Ironman, einen Triathlon über die längste Distanz. Sein Freund meinte, das sei schon ein Sportwettkampf, aber am Abend gebe es eine lässige Party und lässige Mädels. „Und ich habe nur Party gehört“, erinnert sich Troger. Doch es kam anders: Die Beobachtung, wie sich die Athleten abquälten und abkämpften, weil sie ein Ziel hatten, nämlich vor Mitternacht über die Ziellinie zu kommen, faszinierte ihn. Eine Idee setzte sich in seinem Kopf fest: „Ich möchte auch so einen Ironman machen.“ 2011 schließlich – nach Jahren des Trainings und der Entbehrung – schaffte er

„Ein Held ist für mich prinzipiell jeder, der persönliche Ziele hat, egal wie groß sie sind.“

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das Unglaubliche und kam beim Ironman Austria nach 3,8 km Schwimmen, 180 km Radfahren und 42,2 km Laufen ins Ziel. Der mittlerweile mehrfache Welt- und Europameister Christian Troger erzählt in seinem Buch seine ganz persönliche Geschichte. Er berichtet, wie er den Weg aus der Sackgasse gefunden hat, den Weg in ein erfolgreicheres, erfüllteres, glücklicheres und zufriedeneres Leben. Ausführlich schildert er, wie er gelernt hat, mit Extremsituationen, Schwierigkeiten, Hindernissen, Ängsten und Niederlagen umzugehen. In seinem autobiografischen Ratgeber lädt Christian Troger seine Leserinnen und Leser dazu ein, das Leben anhand seiner Handlungen, Erfahrungen und Einsichten zu betrachten. Zudem zeigt er Bilder aus seiner Kindheit und Jugend sowie von den bisher größten Erfolgen seiner Karriere. „Das vorliegende Buch wird Menschen berühren und begeistern. Vor allem aber soll es jenen Menschen Hoffnung schenken, die durch Schicksalsschläge vom Weg abgekommen sind und die Mut für den Beginn eines neuen Lebensabschnittes benötigen“, schreibt Franz Klammer im Vorwort. Durch den Verkauf dieses Buches wird außerdem eine wohltätige Sache unterstützt. Für jedes verkaufte Buch fließt ein Euro an die Franz Klammer Foundation. Hauptaufgabe dieser Organisation ist die Unterstützung von Personen, die in Zusammenhang mit Sport in Not geraten sind. „Das Buch erzählt meine ganz persönliche Geschichte. Es soll Menschen Hoffnung und Motivation schenken“, betont Christian Troger. Vielen Menschen ist es zu wünschen, sich auf diese Autobiografie und den in jeder Zeile spürbaren Mut einzulassen – und ihr Leben neu zu gestalten.

Vorträge und Seminare Überzeugt von dem Gedanken, dass seine Geschichte auch andere Menschen motivieren kann, hält Christian Troger Vorträge und Seminare. Die Kernbotschaft dabei: „Wir alle können scheinbar Unmögliches erreichen. Dinge, die uns zu Beginn viel zu weit weg erscheinen. Egal ob im Berufs- und Privatleben oder im Sport … Jeder Mensch sollte Ziele haben, für die es sich zu leben lohnt“ – frei nach Trogers Lebensmotto: „Wir sehen uns an der Ziellinie!“

Christian Troger Geht nicht – läuft! Mein Triathlon ins Leben – ein auto­biografischer Ratgeber Bilanz Verlag GmbH 2015 Gebundene Ausgabe: 192 Seiten (inkl. 16 Seiten Bildteil) 24,20 Euro ISBN:978-3-200-04185-1

Erhältlich im gut sortierten Buchhandel, auf der Homepage des Autors (www.christian-troger.com) oder auf der Homepage der Bilanz Verlag GmbH (www.bilanzbuchring.at).


Bücher

Markus Dederich

Philosophie in der Heil- und ­Sonderpädagogik Kohlhammer 2013

Philosophische Grundlegungen der Erziehung und Bildung behinderter Menschen haben die Geschichte des Fachs begleitet. Um eine vordergründig nominelle Interpretation heranzuziehen: Die philosophische Begründung einer christlichen Heilpädagogik bekannte sich zum „Heil des Heilzöglings“ (Linus Bopp, 1930). Eine sonderpädagogische Anthropologie betonte die „Sonderform“ des Behinderten, dessen Wert und Gleichheit zu achten sei (Karl Heinrichs, 1931). Die Rückschau auf solch traditionelle Bestände macht deutlich, wie weit wir uns von derartigen Sinngebungen entfernt haben. Die ausführliche Berücksichtigung philosophischer Lehrmeinungen, mit der Dederichs Buch imponiert, zeigt in ihrer Vielfalt zudem die geradezu fundamentalen Wandlungen unseres Fachs auf. Dabei mutet die stereotype Tautologie von „Heil- und Sonderpädagogik“ eher wie ein Schönheitsfehler an, wo doch nur synonym das Ganze der Behindertenpädagogik gemeint ist. Die Konzeption des Buchs lässt sich mit einer großen Ellipse vergleichen, mit der essenzielle Themen der Behindertenpädagogik umrissen sind. Ihre beiden Brennpunkte sind einmal durch das Verhältnis von Gleichheit, Verschiedenheit und radikaler Differenz und zum anderen durch die Figur der Grenze, der Begrenztheit von Verstehen und Kommunikation gegeben. Unter diesen Gesichtspunkten werden Grundfragen der Behindertenpädagogik in acht Kapiteln ausformuliert, „in welcher Hinsicht und in Bezug auf welche Problemstellungen die Philosophie mit Blick auf die Heil- und Sonderpädagogik und das Thema ‚Behinderung’ von Bedeutung ist“. Und: „Philosophie in der

Heil- und Sonderpädagogik bedeutet, zentrale Begriffe und theoretische Grundorientierungen, etwa anthropologische Annahmen, erkenntnistheoretische Denkfiguren, sozialphilosophische Modelle oder ethische Positionen, zu prüfen, zurückzuweisen oder weiterzuentwickeln.“ Von dem Philosophen Wilhelm Windelband stammt das Wort, Philosophie sei das Zuende-Denken der Tatsachen. Also etwas, das hinter die bloßen Fakten zurückgeht, ihnen zugrunde liegt, sowohl ihre Begründungen als auch ihre Folgerungen umfasst. Insofern gibt es eine Philosophie der Behindertenpädagogik und eine Philosophie für die Behindertenpädagogik. Nun existiert aber nicht die Philosophie. Vielmehr kennen wir differente und sich vielfach ausschließende kulturelle, historische und weltanschauliche Ausprägungen des Nachdenkens über den Menschen und seine Welt – von der griechischen Antike über Kants Aufklärungsphilosophie und die marxistische Orthodoxie bis hin zu Karl Jaspers „philosophischem Glauben“. Ein geschlossenes System der reinen Lehre hat es für die Fundierung pädagogischen Tuns leichter als die Bezugnahme auf Positionen mit unterschiedlichen Aussagewerten. Dederich entgeht diesen Schwierigkeiten trotz eines weitreichenden Ausgriffs auf mannigfache philosophische Strömungen durch die erkenntnisleitende Ausgangssituation der Behindertenpädagogik. Sie ermöglicht einen kohärenten Eklektizismus, der die Vereinbarkeit der aus diversen Referenzrahmen stammenden Philosophielehren gestattet. Insofern ist sein Werk ein Stück angewandter Philosophie auf Erziehung, Unterricht und Therapie von behinderten Menschen. Würde man Dederich nach einer vorwiegenden philosophischen Ausrichtung einordnen wollen, so könnte man ihm Affinität zur neuzeitlichen Phänomenologie bescheinigen. In den einzelnen Kapiteln werden die philosophischen Gesichtspunkte der Behindertenpädagogik auf ihre Legitimation hin diskutiert. Erkenntnistheorie: Wie gewinnen wir wahre Erkenntnis über menschliches Behindertsein? Wissenschaftstheorie: Wie lässt sich angesichts der Vielfalt wissenschaftstheoretischer Erklärungsweisen und subjektiver Standortgebundenheit eine gesicherte Orientierung erzielen? Anthropologie: Können die Besinnung auf ein sozialintegratives Menschenbild und anthropologische Reflexion behinderten Men-

schen ein Mehr an Anerkennung, Schutz und Würde verleihen? Technik: Muss die Rolle der Technik in ihrer Ambivalenz – einerseits vielfaches prothetisches Hilfsmittel zur Lebenserleichterung und andererseits Zeichen eines Prozesses der Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen mit einer Normabweichung – nicht revidiert werden? Ethik: Werden die Forderungen der Ethik einen Schutzbereich für die Anerkennung behinderter Menschen bringen? Selbstbestimmung und Stellvertretung: Wie lassen sich Selbstbestimmung und Stellvertretung für Behinderte als sich widersprechende Aspekte vereinbaren? Anerkennung: Wie kann Anerkennung die soziale Benachteiligung von behinderten Menschen mildern und ihre Identität befördern? Politik und Gerechtigkeit: In welcher Weise ist politische Willensbildung in der Lage, zu Gleichheit und Gerechtigkeit sowie den Teilhabechancen für behinderte Menschen beizutragen? Was die Breite und Intensität des philosophischen Zugriffs auf grundsätzliche Perspektiven der Behindertenpädagogik anbetrifft, ist das Werk – das übrigens bei aller szientifischen Komplexität seines Gegenstands gut lesbar ist – beispiellos. Einige Teilstücke finden sich bereits in früheren Veröffentlichungen von Dederich. Sie liegen jetzt systematisch geordnet vor. Der Psychologe Max Wertheimer würde das Vorgehen Dederichs als divergierendes Denken bezeichnet haben, das – neben der ausführlichen Referierung der bisherigen philosophischen Beiträge zur Behindertenpädagogik – abseits der gewohnten, ausgetretenen Interpretationspfade zu neuartigen Ausblicken gelangt, beispielsweise etwa in der philosophischen Aufarbeitung der Technikfragen. Wesentliche Erkenntnisse und Haltungen werden neu bedacht. Das dürfte für die wissenschaftliche Theoriebildung, aber auch für den praktischen Umgang mit benachteiligten Menschen, von beträchtlicher Bedeutung sein. Ulrich Bleidick (red. gekürzt)

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