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Behörden Spiegel: Seit zwei Jahren wird die Tagespolitik durch die Pandemie dominiert, jetzt kommt die Ukraine-Krise bzw. die russische Aggression hinzu. Weiterhin besteht ein hoher Migrationsdruck, der durch Flüchtlinge aus der Ukraine noch verstärkt werden könnte. Bleibt da Zeit und Platz für das große Ziel der Klimaneutralität?

Winfried Kretschmann: Gerade der Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine beweist uns doch: Eine so große Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und einem einzigen Lieferanten ist ein großes Problem. Diese missliche Situation zeigt die dringende Notwendigkeit der ökologischen Transformation! Dem Ausbau von Anlagen zur Erzeugung von Energie aus Wind und Sonne muss jetzt absolute Priorität eingeräumt werden. Dies ist ein Gebot der ökonomischen und ökologischen Vernunft.

Behörden Spiegel: Die Politik macht der Wirtschaft und auch allen Bürgern Auflagen, um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen. Was leistet die Landesverwaltung hierzu bei ihren eigenen Behörden und Betrieben?

Kretschmann: Die Landesverwaltung muss nach dem Klimaschutzgesetz bis 2030 klimaneutral organisiert sein. Damit übernimmt sie eine wichtige Vorbildfunktion: gegenüber Unternehmen, Verbänden und Vereinigungen, Landkreisen, Städten und Gemeinden und der ganzen Bürgerschaft. Für dieses große Ziel der Klimaneutralität haben wir schon 2014 eine erste Startbilanz ausgearbeitet. Die Treibhausgasemissionen der Landesverwaltung wurden dort erfasst und die nächsten Schritte auf dem Weg in die Klimaneutralität beschlossen. Inzwischen wurde schon die dritte Bilanz vorgelegt: Bis 2018 konnten die Emissionen der Landesverwaltung gegenüber 2010 um rund 40 Prozent vermindert werden! Natürlich liegt noch eine große Wegstrecke vor uns. Wir stellen aber fest, dass sich immer mehr Landeseinrichtungen des Themas der CO2 Bilanzierung annehmen. Sie entwickeln ganz eigene Konzepte, um in ihrem Bereich die Emissionen zu vermindern.

Wasserstoff, Photovoltaik und Windkraft

Baden-Württembergs vielschichtige Ansätze, klimaneutral zu werden

(BS) Mit der russischen Invasion der Ukraine sind Erneuerbare Energien als Alternative zu fossilen Importen und damit einhergehenden Abhängigkeiten in den Fokus gerückt. Dies bietet auch die Chance, Emissionen nachhaltig zu reduzieren und die Klimaneutralität in den Blick zu nehmen. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann spricht im Interview darüber, was im Ländle hierfür bereits unternommen wird. Die Fragen stellten Uwe Proll und Malin Jacobson.

“Tatsächlich gilt unser besonderes Augenmerk in der Klima- und Energiepolitik der Rolle von Wasserstoff.”

Ministerpräsident Winfried Kretschmann regiert mittlerweile in dritter Amtszeit in Baden-

Württemberg. Foto: BS/Staatsministerium Baden-Württemberg Behörden Spiegel: In den nächsten sieben Jahren wird wahrscheinlich die 1,5-Grad-Grenze überschritten. Wie lässt sich neuer Schwung beim Erreichen der der Klimaneutralität erreichen?

Kretschmann: Die Klimapolitik in BadenWürttemberg ist schon heute sehr dynamisch und wird es auch in den kommenden Jahren bleiben. Unser Instrumentenkasten ist groß und er wächst weiter. Das Klimaschutzgesetz BadenWürttemberg wurde schon 2020 und 2021 novelliert: Ganz neue Instrumente – wie beispielsweise die PV-Pflicht auf neuen Wohngebäuden und bei grundlegenden Dachsanierungen – wurden eingeführt. Unser neu eingerichteter KlimaSachverständigenrat mit Expertinnen und Experten ganz unterschiedlicher Fachrichtungen berät meine Landesregierung bei unserer Klimapolitik. Auch er wird daran mitwirken, dass das Land auf dem Pfad zur Klimaneutralität bleibt.

Behörden Spiegel: Durch welche Förderprogramme können Kommunen und lokale Klimaneutralitätsprojekte besser und wirksamer gefördert werden als bisher? Kretschmann: Es gibt einen bunten Strauß an Unterstützungsangeboten. Ein Beispiel ist etwa das Förderprogramm “KlimaschutzPlus”, das vor allem Kommunen auf dem Weg in die Klimaneutralität unterstützt. Inzwischen sind auch mehr als 450 Kommunen dem von den kommunalen Landesverbänden und dem Land ausgearbeiteten KlimaschutzPakt beigetreten. Das ist ein klares Bekenntnis zum Klimaschutz. Die Unterstützung des Landes wird auch flankiert durch Förderprogramme des Bundes und der EU flankiert. Bei den noch vor uns liegenden Herausforderungen muss man natürlich auch ständig überprüfen, ob es weitere Möglichkeiten gibt, die Kommunen auf dem Weg in die Klimaneutralität noch besser zu unterstützen. Behörden Spiegel: Wo steht Baden-Württemberg momentan bezüglich regenerativer Energiequellen und der Gewinnung und des Einsatzes von Wasserstoff? Kretschmann: Vielleicht mal ein paar Zahlen: Der Anteil der Erneuerbaren Energien bei der Bruttostromerzeugung im Jahr 2020 hatte hierzulande einen Anteil von mehr als 40 Prozent. Im Wärmebereich trugen die Erneuerbaren Energien über 15 Prozent zum Endenergieverbrauch bei. Im Verkehr lag der Anteil an Biokraftstoffen im Jahr 2020 bei mehr als sechs Prozent, der Anteil Erneuerbarer Energien am Gesamtenergieverbrauch lag im Jahr 2020 hierzulande bei etwa 16 Prozent. Tatsächlich gilt unser besonderes Augenmerk in der Klima und Energiepolitik der Rolle von Wasserstoff. Ein Großteil des deutschen und des badenwürttembergischen Wasserstoffbedarfes wird langfristig jedoch durch Importe abgedeckt werden müssen. Dies gilt auch für Strom, weswegen dem Ausbau der Stromnetze eine große Bedeutung für Baden Württemberg zukommt. Behörden Spiegel: BadenWürttemberg ist engagiert bei Photovoltaik-Anlagen auf unbenutzten Flächen, bspw. am Straßenrand oder auch in Form von Agri-Photovoltaik-Modellanlagen. Was ist hier konkret geplant und wie sehen die zeitlichen Ziele aus? Kretschmann: Wir sind hier sehr rege dabei. Mit Verabschiedung der sogenannten Freiflächenöffnungsverordnung im Jahr 2017 hat sich BadenWürttemberg ja dazu verpflichtet, den flächenschonenden Photovoltaikausbau wirklich breit voranzubringen. Um die noch ungenutzten Potenziale aufzuzeigen, hat das Umweltministerium zwei Studien in Auftrag gegeben, deren Fertigstellung am Anfang des zweiten Quartals dieses Jahres geplant ist. Zum Voranbringen der AgriPV – also der gleichzeitigen Nutzung von Flächen für die landwirtschaftliche Produktion und die Photovoltaik – arbeiten unser Umweltministerium und das Ministerium für Ländlichen Raum sehr eng zusammen. Derzeit fördern wir das Projekt “Modellregion AgriPV”. Dabei sollen noch in diesem Jahr fünf Pilotanlagen über Obst und Beerenanbauanlagen errichtet werden. Außerdem wird derzeit in einer vom Verkehrsministerium beauftragten Marktanalyse das Interesse von Energieversorgern für Photovoltaikanlagen auch entlang von Verkehrswegen erhoben.

“Ökologie und Ökonomie stellen keinen Widerspruch dar.”

Behörden Spiegel: Die Topografie Ihres Bundeslandes stellt besondere Anforderungen an den ÖPNV, zumindest andere als an vorrangig flache Regionen. Welche Ansätze gibt es in Baden-Württemberg, den ÖPNV einerseits klimaneutral und andererseits trotzdem funktional zu entwickeln?

Kretschmann: Für einen klimafreundlichen und leistungsfähigen ÖPNV muss hierzulande insbesondere die schienengebundene Infrastruktur konsequent modernisiert und ausgebaut werden. Und auch wenn der Ausbau des Schienennetzes die Aufgabe des Bundes ist, engagiert sich BadenWürttemberg hier in ganz beträchtlichem Umfang! Für den ÖPNV auf der Straße haben wir schon vor einiger Zeit das Programm “Regiobuslinien” aufgelegt. Damit fördern wir den Betrieb von Buslinien zur Anbindung von Mittelzentren, Unterzentren, Flughäfen und auch von Nationalparks ohne guten Anschluss an den SPNV. Nicht zuletzt sind auch synthetische Kraftstoffe, die auf regenerativ erzeugtem Wasserstoff basieren, ein ganz wichtiger Baustein für den Klimaschutz im ÖPNV – und an der Erforschung und Entwicklung dieser Kraftstoffe arbeitenwir schon lange.

Behörden Spiegel: Das Bundesland Baden-Württemberg ist auch ein Autoland. Was erwarten Sie von der Autoindustrie konkret in welchen zeitlichen Schritten zur Erreichung des großen Ziels der Klimaneutralität und wie kann das Bundesland der Autoindustrie dabei helfen?

Kretschmann: Uns allen ist klar: Es gibt kein Zurück zum Verbrennungsmotor. Deswegen haben sich sämtliche badenwürttembergische Automobilhersteller ja heute schon konkrete Ziele für den Ausstieg aus dem Verbrenner gesteckt – dies teilweise sogar schon ab Mitte dieses Jahrzehnts. Dieser einschneidende technologische Wandel hat auch auf die vielen Zuliefererbetriebe im Land massive Auswirkungen. Insgesamt hängen hierzulande ja fast eine halbe Million Arbeitsplätze an der Automobilbranche! Um diese zu sichern und noch mehr Wertschöpfungspotenziale im Land zu heben, habe ich schon 2017 den “Strategiedialog Automobilwirtschaft BW” ins Leben gerufen. Dort arbeitet meine Landesregierung gemeinsam mit der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft daran, die Herausforderungen für die wichtige Automobilindustrie zu meistern. Als Vorreiterregion in Europa wollen wir aufzeigen: Ökologie und Ökonomie stellen keinen Widerspruch dar.

Behörden Spiegel: Die neue Bundesregierung ist nun drei Monate unter Beteiligung von Bündnis90/Die Grünen im Amt. Reichen Ihnen die bisherigen Impulse in der Klimapolitik aus Berlin oder, anders gefragt, was erwarten Sie für Initiativen aus Berlin?

Kretschmann: Die Pläne des Bundes zum Klimaschutz geben uns Rückenwind. Viele Punkte, die wir in BadenWürttemberg schon angegangen sind, etwa beim Windkraftausbau, finden sich endlich auch auf Bundesebene wieder. Bei der Energieversorgung müssen wir jetzt zwar erst mal kurzfristig Lösungen finden. Mittelfristig führt aber kein Weg daran vorbei, dass wir den Ausbau der Erneuerbaren weiter vorantreiben. Zuversichtlich stimmt ja auch, dass jetzt sogar Christian Lindner bei den erneuerbaren Energien von “Freiheitsenergien” spricht. In meiner Regierungszeit haben wir in BadenWürttemberg den Strom aus Windkraft mehr als verfünffacht. Trotzdem könnten wir da viel weiter sein. Mit verfehlten Regeln darf es der Bund den Südländern einfach nicht mehr so schwer machen, bei Ausschreibungen erfolgreich zu sein. Wir dürfen den Betreibern ja immer noch nicht den Mehraufwand der hierzulande oft schwierigeren WindradBauten ausgleichen. Hoffentlich geht es bei dem Thema nun auch voran. Im vergangenen Herbst haben wir in BadenWürttemberg deswegen eine Task Force zur Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien ins Leben gerufen. Erste Ergebnisse liegen schon vor: Wir müssen bei Planungs und Genehmigungsverfahren mindestens doppelt so schnell werden!

Behörden Spiegel: Herr Ministerpräsident, befürchten Sie, dass im Zusammenhang mit der Invasion Russlands fossile Energieträger in Deutschland wieder mehr Bedeutung gewinnen und damit womöglich der Ausstieg aus diesen Energiequellen verlangsamt wird?

Kretschmann: Die derzeitige Situation zeigt schonungslos, wie abhängig wir heute noch von fossilen Energieträgern sind. Eine reduzierte Lieferung durch Russland würde Verbraucherinnen und Verbrauchern und Firmen wohl weiter steigende Energiepreise bescheren. Die Bundesregierung hat nun Maßnahmen erarbeitet, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Sie erkundet etwa die Versorgung mit Importen aus anderen Ländern oder mildert die hohen Energiepreise ab. Doch insbesondere der schnelle Ausbau der Erneuerbaren Energien und Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz sind im Sinne des Klimaschutzes und auch mit Blick auf die Versorgungssicherheit und die Energiepreise essenziell – gerade jetzt!

MELDUNG Schwimmende LNG-Terminals

(BS/mj) “Hamburg würde als Hafenstadt gern einen Beitrag leisten, die Unabhängigkeit von russischen Energieimporten voranzutreiben”, erklärt Michael Pollmann, Staatsrat für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirtschaft, anlässlich der Überlegung schwimmende LNGTerminals anzumieten. Die Floating Storage and Regasification Units (FSRU) – schwimmende, mobile Plattformen auf denen Flüssiggas gelagert werden kann – könnten in einer Übergangszeit die Versorgungssicherheit in Deutschland erhalten und Gas aus Russland zu einem guten Teil ersetzen. Das Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) plant derzeit mit drei schwimmenden LNGTerminals, für die verschiedene Hafenstandorte in Norddeutschland in Betracht kommen. Da Hamburg über ein gut ausgebautes Erdgasnetz auch im Hafengebiet verfügt, könnten dort die Leitungsbaumaßnahmen vermutlich vergleichsweise gering ausfallen, führt Pollmann aus. Hamburgs Behörde für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirtschaft prüft aktuell in enger Abstimmung mit den Hamburger Energiewerken, mit Gasnetz Hamburg und der Hamburg Port Authority sowie dem BMWK ob und wie die Hansestadt FSRU eingesetzt werden könnten. Pollmann: “Bislang haben wir in unserem Land keine Möglichkeit, LNG zu importieren. Mit den gecharterten Terminals könnte dies sehr kurzfristig geändert werden.”

Der Hamburger Hafen verfügt bereits über ein gut ausgebautes Erdgasnetz und kommt daher grundsätzlich als Standort für schwimmende Flüssiggas-Terminals in Betracht. Foto: BS/Marco Federmann, pixabay.com

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