Behörden Spiegel April 2022

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Behörden Spiegel / April 2022

Länder

Behörden Spiegel: Seit zwei Jahren wird die Tagespolitik durch die Pandemie dominiert, jetzt kommt die Ukraine-Krise bzw. die russische Aggression hinzu. Weiterhin besteht ein hoher Migrationsdruck, der durch Flüchtlinge aus der Ukraine noch verstärkt werden könnte. Bleibt da Zeit und Platz für das große Ziel der Klimaneutralität?

Wasserstoff, Photovoltaik und Windkraft Baden-Württembergs vielschichtige Ansätze, klimaneutral zu werden (BS) Mit der russischen Invasion der Ukraine sind Erneuerbare Energien als Alternative zu fossilen Importen und damit einhergehenden Abhängigkeiten in den Fokus gerückt. Dies bietet auch die Chance, Emissionen nachhaltig zu reduzieren und die Klimaneutralität in den Blick zu nehmen. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann spricht im Interview darüber, was im Ländle hierfür bereits unternommen wird. Die Fragen stellten Uwe Proll und Malin Jacobson.

Winfried Kretschmann: Gerade der Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine beweist uns doch: Eine so große Abhängig­ keit von fossilen Energieträgern und einem einzigen Lieferanten ist ein großes Problem. Diese missliche Situation zeigt die dringende Notwendigkeit der ökologischen Transformation! Dem Ausbau von Anlagen zur Erzeugung von Energie aus Wind und Sonne muss jetzt absolute Priorität eingeräumt werden. Dies ist ein Gebot der ökonomischen und ökologischen Vernunft.

Kretschmann: Vielleicht mal ein paar Zahlen: Der Anteil der Erneuerbaren Energien bei der Bruttostromerzeugung im Jahr 2020 hatte hierzulande einen Anteil von mehr als 40 Prozent. Im Wärmebereich trugen die Erneuerbaren Energien über 15 Prozent zum Endenergiever­ brauch bei. Im Verkehr lag der Anteil an Biokraftstoffen im Jahr 2020 bei mehr als sechs Prozent, der Anteil Erneuerbarer Energien am Gesamtenergieverbrauch lag im Jahr 2020 hierzulande bei etwa 16 Prozent. Tatsächlich gilt unser besonderes Augenmerk in der Klima- und Energiepolitik der Rolle von Wasserstoff. Ein Großteil des deutschen und des baden-württembergischen Was­ serstoffbedarfes wird langfristig jedoch durch Impor­ te abgedeckt werden “Ökologie und Ökonomie stellen müssen. Dies gilt auch keinen Widerspruch dar.” für Strom, weswe­ gen dem Ausbau der Stromnetze eine große Behörden Spiegel: Durch Bedeutung für Baden- Württem­ welche Förderprogramme kön- berg zukommt. nen Kommunen und lokale Klimaneutralitätsprojekte besser Behörden Spiegel: Badenund wirksamer gefördert werden Württemberg ist engagiert bei Photovoltaik-Anlagen auf unbeals bisher? nutzten Flächen, bspw. am StraKretschmann: Es gibt einen ßenrand oder auch in Form von bunten Strauß an Unterstüt­ Agri-Photovoltaik-Modellanlagen. zungsangeboten. Ein Beispiel Was ist hier konkret geplant und ist etwa das Förderprogramm wie sehen die zeitlichen Ziele aus? “Klimaschutz-Plus”, das vor al­ Kretschmann: Wir sind hier lem Kommunen auf dem Weg in die Klimaneutralität unter­ sehr rege dabei. Mit Verabschie­ stützt. Inzwischen sind auch dung der sogenannten Freiflä­ mehr als 450 Kommunen dem chenöffnungsverordnung im Jahr von den kommunalen Landes­ 2017 hat sich Baden-Württem­ verbänden und dem Land aus­ berg ja dazu verpflichtet, den gearbeiteten Klimaschutz-Pakt flächenschonenden Photovolta­ beigetreten. Das ist ein klares ikausbau wirklich breit voran­ Bekenntnis zum Klimaschutz. zubringen. Um die noch unge­ Die Unterstützung des Landes nutzten Potenziale aufzuzeigen, wird auch flankiert durch För­ hat das Umweltministerium zwei derprogramme des Bundes und Studien in Auftrag gegeben, de­ der EU flankiert. Bei den noch ren Fertigstellung am Anfang des vor uns liegenden Herausfor­ zweiten Quartals dieses Jahres derungen muss man natürlich geplant ist. Zum Voranbringen auch ständig überprüfen, ob es der Agri-PV – also der gleichzeiti­ weitere Möglichkeiten gibt, die gen Nutzung von Flächen für die Kommunen auf dem Weg in die landwirtschaftliche Produktion Klimaneutralität noch besser zu und die Photovoltaik – arbeiten unterstützen. unser Umweltministerium und das Ministerium für Ländlichen Behörden Spiegel: Wo steht Raum sehr eng zusammen. Baden-Württemberg momentan Derzeit fördern wir das Projekt bezüglich regenerativer Energie- “Modellregion Agri-PV”. Dabei quellen und der Gewinnung und sollen noch in diesem Jahr fünf des Einsatzes von Wasserstoff? Pilotanlagen über Obst- und

Mehraufwand der hierzulande oft schwierigeren Windrad-Bauten ausgleichen. Hoffentlich geht es bei dem Thema nun auch voran. Im vergangenen Herbst haben wir in Baden-Württemberg deswegen eine Task Force zur Beschleuni­ gung des Ausbaus der erneuerba­ ren Energien ins Leben gerufen. Erste Ergebnisse liegen schon vor: Wir müssen bei Planungs- und Genehmigungsverfahren mindes­ tens doppelt so schnell werden! Behörden Spiegel: In den nächsten sieben Jahren wird wahrscheinlich die 1,5-Grad-Grenze überschritten. Wie lässt sich neuer Schwung beim Erreichen der der Klimaneutralität erreichen?

“Tatsächlich gilt unser besonderes Augenmerk in der Klima- und Energie­ politik der Rolle von Wasserstoff.”

Behörden Spiegel: Die Politik macht der Wirtschaft und auch allen Bürgern Auflagen, um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen. Was leistet die Landesverwaltung hierzu bei ihren eigenen Behörden und Betrieben? Kretschmann: Die Landes­ verwaltung muss nach dem Klimaschutzgesetz bis 2030 klimaneutral organisiert sein. Damit übernimmt sie eine wich­ tige Vorbildfunktion: gegenüber Unternehmen, Verbänden und Vereinigungen, Landkreisen, Städten und Gemeinden und der ganzen Bürgerschaft. Für dieses große Ziel der Klimaneut­ ralität haben wir schon 2014 eine erste Startbilanz ausgearbeitet. Die Treibhausgasemissionen der Landesverwaltung wurden dort erfasst und die nächsten Schritte auf dem Weg in die Klimaneu­ tralität beschlossen. Inzwischen wurde schon die dritte Bilanz vorgelegt: Bis 2018 konnten die Emissionen der Landesverwal­ tung gegenüber 2010 um rund 40 Prozent vermindert werden! Natürlich liegt noch eine große Wegstrecke vor uns. Wir stellen aber fest, dass sich immer mehr Landeseinrichtungen des Themas der CO2-Bilanzierung annehmen. Sie entwickeln ganz eigene Kon­ zepte, um in ihrem Bereich die Emissionen zu vermindern.

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Ministerpräsident Winfried Kretschmann regiert mittlerweile in dritter Amtszeit in BadenWürttemberg. Foto: BS/Staatsministerium Baden-Württemberg

Beerenanbauanlagen errichtet werden. Außerdem wird derzeit in einer vom Verkehrsministerium beauftragten Marktanalyse das Interesse von Energieversorgern für Photovoltaikanlagen auch entlang von Verkehrswegen er­ hoben. Behörden Spiegel: Die Topografie Ihres Bundeslandes stellt besondere Anforderungen an den ÖPNV, zumindest andere als an vorrangig flache Regionen. Welche Ansätze gibt es in Baden-Württemberg, den ÖPNV einerseits klimaneutral und andererseits trotzdem funktional zu entwickeln? Kretschmann: Für einen kli­ mafreundlichen und leistungs­ fähigen ÖPNV muss hierzulande insbesondere die schienengebun­ dene Infrastruktur konsequent modernisiert und ausgebaut werden. Und auch wenn der Ausbau des Schienennetzes die Aufgabe des Bundes ist, engagiert sich Baden-Württemberg hier in ganz beträchtlichem Umfang! Für den ÖPNV auf der Straße haben wir schon vor einiger Zeit das Programm “Regiobuslinien” aufgelegt. Damit fördern wir den Betrieb von Buslinien zur An­ bindung von Mittelzentren, Un­ terzentren, Flughäfen und auch von Nationalparks ohne guten Anschluss an den SPNV. Nicht zuletzt sind auch synthetische Kraftstoffe, die auf regenerativ erzeugtem Wasserstoff basieren, ein ganz wichtiger Baustein für den Klimaschutz im ÖPNV – und an der Erforschung und Entwick­ lung dieser Kraftstoffe arbeiten­ wir schon lange. Behörden Spiegel: Das Bundesland Baden-Württemberg ist auch ein Autoland. Was erwarten Sie von der Autoindustrie konkret in welchen zeitlichen Schritten zur Erreichung des großen Ziels der Klimaneutralität und wie kann das Bundesland der Autoindustrie dabei helfen? Kretschmann: Uns allen ist klar: Es gibt kein Zurück zum Verbrennungsmotor. Deswegen haben sich sämtliche badenwürttembergische Automobil­ hersteller ja heute schon kon­ krete Ziele für den Ausstieg aus

dem Verbrenner gesteckt – dies teilweise sogar schon ab Mit­ te dieses Jahrzehnts. Dieser einschneidende technologische Wandel hat auch auf die vielen Zuliefererbetriebe im Land mas­ sive Auswirkungen. Insgesamt hängen hierzulande ja fast eine halbe Million Arbeitsplätze an der Automobilbranche! Um die­ se zu sichern und noch mehr Wertschöpfungspotenziale im Land zu heben, habe ich schon 2017 den “Strategiedialog Auto­ mobilwirtschaft BW” ins Leben gerufen. Dort arbeitet meine Landesregierung gemeinsam mit der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft daran, die Herausforderungen für die wichtige Automobilindustrie zu meistern. Als Vorreiterregion in Europa wollen wir aufzeigen: Ökologie und Ökonomie stellen keinen Widerspruch dar. Behörden Spiegel: Die neue Bundesregierung ist nun drei Monate unter Beteiligung von Bündnis90/Die Grünen im Amt. Reichen Ihnen die bisherigen Impulse in der Klimapolitik aus

Berlin oder, anders gefragt, was erwarten Sie für Initiativen aus Berlin? Kretschmann: Die Pläne des Bundes zum Klimaschutz geben uns Rückenwind. Viele Punkte, die wir in Baden-Württemberg schon angegangen sind, etwa beim Windkraftausbau, finden sich endlich auch auf Bundesebe­ ne wieder. Bei der Energieversor­ gung müssen wir jetzt zwar erst mal kurzfristig Lösungen finden. Mittelfristig führt aber kein Weg daran vorbei, dass wir den Aus­ bau der Erneuerbaren weiter vor­ antreiben. Zuversichtlich stimmt ja auch, dass jetzt sogar Christian Lindner bei den erneuerbaren Energien von “Freiheitsenergien” spricht. In meiner Regierungszeit haben wir in Baden-Württem­ berg den Strom aus Windkraft mehr als verfünffacht. Trotzdem könnten wir da viel weiter sein. Mit verfehlten Regeln darf es der Bund den Südländern einfach nicht mehr so schwer machen, bei Ausschreibungen erfolgreich zu sein. Wir dürfen den Betrei­ bern ja immer noch nicht den

Kretschmann: Die Klimapolitik in Baden-Württemberg ist schon heute sehr dynamisch und wird es auch in den kommenden Jahren bleiben. Unser Instrumentenkas­ ten ist groß und er wächst weiter. Das Klimaschutzgesetz BadenWürttemberg wurde schon 2020 und 2021 novelliert: Ganz neue Instrumente – wie beispielsweise die PV-Pflicht auf neuen Wohnge­ bäuden und bei grundlegenden Dachsanierungen – wurden ein­ geführt. Unser neu eingerichteter Klima-Sachverständigenrat mit Expertinnen und Experten ganz unterschiedlicher Fachrichtun­ gen berät meine Landesregierung bei unserer Klimapolitik. Auch er wird daran mitwirken, dass das Land auf dem Pfad zur Kli­ maneutralität bleibt. Behörden Spiegel: Herr Ministerpräsident, befürchten Sie, dass im Zusammenhang mit der Invasion Russlands fossile Energieträger in Deutschland wieder mehr Bedeutung gewinnen und damit womöglich der Ausstieg aus diesen Energiequellen verlangsamt wird? Kretschmann: Die derzeitige Situation zeigt schonungslos, wie abhängig wir heute noch von fos­ silen Energieträgern sind. Eine reduzierte Lieferung durch Russ­ land würde Verbraucherinnen und Verbrauchern und Firmen wohl weiter steigende Energie­ preise bescheren. Die Bundes­ regierung hat nun Maßnahmen erarbeitet, um diesen Heraus­ forderungen zu begegnen. Sie erkundet etwa die Versorgung mit Importen aus anderen Ländern oder mildert die hohen Energie­ preise ab. Doch insbesondere der schnelle Ausbau der Erneuerba­ ren Energien und Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffi­ zienz sind im Sinne des Klima­ schutzes und auch mit Blick auf die Versorgungssicherheit und die Energiepreise essenziell – ge­ rade jetzt!

MELDUNG

Schwimmende LNG-Terminals (BS/mj) “Hamburg würde als Hafenstadt gern einen Beitrag leisten, die Unabhängigkeit von russischen Energieimpor­ ten voranzutreiben”, erklärt Michael Pollmann, Staatsrat für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirtschaft, anlässlich der Überlegung schwimmende LNGTerminals anzumieten. Die Floating Storage and Rega­ sification Units (FSRU) – schwim­ mende, mobile Plattformen auf denen Flüssiggas gelagert wer­ den kann – könnten in einer Übergangszeit die Versorgungs­ sicherheit in Deutschland erhal­ ten und Gas aus Russland zu einem guten Teil ersetzen. Das Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) plant derzeit mit drei schwimmenden LNG-Terminals, für die verschiedene Hafenstandorte in Norddeutschland in Betracht kommen. Da Ham­ burg über ein gut ausgebautes Erdgasnetz auch im Hafenge­ biet verfügt, könnten dort die

Der Hamburger Hafen verfügt bereits über ein gut ausgebautes Erdgasnetz und kommt daher grundsätzlich als Standort für schwimmende Flüssiggas-Terminals in Betracht. Foto: BS/Marco Federmann, pixabay.com

Leitungsbaumaßnahmen ver­ mutlich vergleichsweise gering ausfallen, führt Pollmann aus. Hamburgs Behörde für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirt­ schaft prüft aktuell in enger Abstimmung mit den Hambur­ ger Energiewerken, mit Gasnetz Hamburg und der Hamburg Port

Authority sowie dem BMWK ob und wie die Hansestadt FSRU eingesetzt werden könnten. Pollmann: “Bislang haben wir in unserem Land keine Möglichkeit, LNG zu importieren. Mit den gecharterten Terminals könnte dies sehr kurzfristig geändert werden.”


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