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Kapitel 4: Die kleine Maira erschrak sich fürchterlich
from Verschenkbuch 2021
by Bennorca
Kapitel 4 Die kleine Maira erschrak sich ganz fürchterlich
Der Winter zog sich zurück, und das ganze Tal des Lachens war voller Vorfreude. Der kleine Bach war so glücklich, nicht mehr zugefroren zu sein und endlich wieder frei dahinplätschern zu können, dass er voller Übermut gegen die Felsbrocken zischte und seine Gischt hoch in die Luft versprühte. Das Gras stieß seine ersten neuen Blätter wie Messerklingen durch die vertrocknete Schicht der alten Grasdecke nach oben, nur für die Wiesenblumen war es noch etwas zu früh, um sich zu zeigen, obwohl die Minorkos eifrig damit beschäftigt waren, ihre Wurzeln zu düngen und zu gießen. Selbst die Sonne war guter Laune und schickte ihre Strahlen weit übers Land und ihr Licht tanzte durchs ganze Tal.
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Nikolausi aß gerade zu Mittag, als er ein zaghaftes Klopfen an seiner Tür hörte.
„Herein!“, rief er.
Doch niemand folgte seiner Aufforderung. Stattdessen wiederholte sich das schwache Klopfen nach einer Weile.
Nikolausi sprang auf und öffnete die Tür. Vor ihm stand ein kleines Mädchen, das einen noch kleineren Bruder fest an der Hand hielt.
„Bis tu‘s Tlausi?“, fragte sie schüchtern.
„In der Tat, der bin ich, meine Kleine!“, erwiderte er mit einem Lachen und begrüßte die beiden Kinder. „Hereinspatziert! Ihr kommt gerade recht, um mit mir zu Mittag zu essen.“
Er führte sie zu seinem Tisch und servierte ihnen frische Milch und Nusskuchen.
Nachdem sie fertig gespeist hatten, fragte er:
„Warum habt ihr diese lange Reise unternommen? Was führt euch in meine bescheidene Hütte?“
„Ik böchte eine Tatze!“, antwortete das Mädchen, und ihr kleiner Bruder, der noch nicht gelernt hatte zu sprechen, nickte mit dem Kopf und wiederholte wie ein Echo: „Tatze!“
„Oh, ihr wollt also meine Spielzeugkatzen, ist es so?“, sagte Nikolausi. Es erfüllte ihn mit Stolz zu erfahren, dass sein Spielzeug bei den Kindern so beliebt geworden war. Seine beiden kleinen Besucher nickten gleichzeitig.
„Dummerweise“, fuhr Nikolausi fort, „habe ich im Moment nur eine einzige Katze fertig, weil ich erst gestern in die Stadt gelaufen bin, um dort die beiden vorletzten zwei Kindern zu schenken. Und so habe ich jetzt nur noch eine einzige Holzkatze hier und die will ich deinem Bruder geben, weil er viel kleiner ist als du. Doch schon die Nächste, die ich mache, werde ich für dich herstellen.“
Das Gesicht des kleinen Jungen überzog sich mit einem breiten Strahlen, als er von Nikolausi das wertvolle Geschenk erhielt, doch die kleine Maira bedeckte ihr Gesicht mit ihren Händen und begann bitterlich zu weinen.
„Ik … ich bill ei … eine Tatze … etzt!“, jammerte sie.
Ihr Unglück versetzte Nikolausi einen heftigen Stich. Doch dann erinnerte er sich plötzlich an Simbas Besuch im Verlauf des Winters.
„Nicht weinen, Liebes!“, sagte er besänftigend.
„Ich habe da noch ein anderes Spielzeug, das noch viel schöner als eine Katze ist. Das kannst du haben.“
Er ging zum Schrank, holte die Holzlöwin heraus, und stellte sie vor Maira auf den Tisch.
Das Mädchen hob die Arme. Ein kurzer Blick auf die gefährlichen Reißzähne und die funkelnden Augen des wilden Tieres, und ein langer, schriller Schrei des Entsetzens drang aus ihrer Kehle. Voller Panik rannte sie aus der Hütte. Ihr kleiner Bruder folgte ihr auf der Stelle, auch er schrie wie am Spieß, und vor lauter Angst ließ er sogar sein Geschenk fallen.
Einen langen Augenblick stand Nikolausi wie erstarrt, er war völlig verwirrt und erstaunt. Dann legte er die hölzerne Simba wieder in den Schrank zurück, und rannte den Kindern hinterher. Dabei rief er immer wieder, dass sie sich nicht zu fürchten bräuchten.
Tatsächlich blieb die kleine Maira irgendwann erschöpft stehen, und ihr Brüderchen klammerte sich fest an sie. Doch beide warfen angsterfüllte Blicke zurück zur Hütte, bis es Nikolausi endlich gelang, sie davon zu überzeugen, dass die hölzerne Löwin wieder gut verstaut im sicher verschlossenen Schrank lag.
„Warum warst du so erschrocken, als du sie gesehen hast?“, fragte er. „Es ist doch nur ein Spielzeug aus Holz, mit dem man spielen kann …“
„Es is becht!“, antworte Maira voller Überzeugung. „Un un banz schlimm. Nit böten, bie Tatze!“
„Hm, vielleicht hast du Recht“, erwiderte Nikolausi nachdenklich. „Aber wenn ihr zurückkommt ins Haus, dann mache ich sofort eine schöne Katze.“
Die beiden ließen sich nicht zweimal bitten. Sie fassten wieder Vertrauen zu Nikolausi. Voller Erwartung sahen sie ihm zu, wie er aus einem Stück Holz eine Katze schnitzte und mit den Farben der Minorkos anmalte. Es dauerte gar nicht lang, da er inzwischen viel Übung hatte und sehr geschickt geworden war. Und Maira liebte ihr Spielzeug umso mehr, als sie mit ansehen durfte, wie es entstanden war.
Nachdem sich seine kleinen Besucher wieder verabschiedet hatten, um mit ihren Geschenken nach Hause zu laufen, saß Nikolausi noch lange in tiefen Gedanken versunken da. Schließlich beschloss er, dass solche furchterregende Wesen wie seine Löwen-Freundin als Vorlagen für Spielzeug nicht recht taugten.
„Die Kleinen dürfen sich nicht erschrecken“, überlegte er. „Für mich ist der Umgang mit Simba etwas ganz Normales. Weil wir uns seit langer Zeit gut kennen, habe ich auch keine Angst vor ihr. Aber es ist natürlich, dass Kleinkinder, die ihr Bild sehen, sich fürchten. Wenn sie etwas größer geworden sind, ist das sicherlich anders, aber solange sie noch so klein sind … Ich werde mir für die Zukunft freundlichere Tiere als Vorlagen aussuchen. Eichhörnchen, Kaninchen, Rehe und Lämmchen sind vielleicht besser geeignet, mein Spielzeug nach ihnen zu formen. Die Kleinen sollen sie lieben und nicht fürchten.“
Von diesem Tag an begann er, neue Tiere herzustellen, und bevor er zu Bett ging, hatte er schon ein Kaninchen und ein Lamm fertiggestellt. Allerdings waren sie nicht ganz so lebensecht wie die Katzen, die er bis dahin gemacht hatte, da er sie aus dem Gedächtnis formen musste. Die ganze Zeit über saß Nessy neben ihm und beobachtete, was Nikolausi da tat.
Dennoch erfreuten auch die neuen Holztiere die Kinder und der Ruf seiner Fertigkeit, schönes Spielzeug herstellen zu können, breitete sich rasch von Dorf zu Dorf aus.
Besonders gern brachte er seine Geschenke zu den kranken Kindern, die nicht stark genug waren, bis zu ihm ins Tal des Lachens zu laufen und ihn dort darum zu bitten. Schon bald entstand ein richtiger Pfad zwischen der weiten Ebene, die sich an das Tal anschloss, und der Hütte des Spielzeugmachers.
Zuerst kamen all die Kinder, mit denen Nikolausi schon gespielt hatte, bevor er begann, Spielzeug anzufertigen. Es versteht sich von selbst, dass diese Kinder von ihm gut versorgt wurden.
Dann hörten die weiter entfernt lebenden Kinder von den wundervollen Dingen und unternahmen lange Reisen zum Tal des Lachens, um mit eigenen Augen die beliebten Figuren zu sehen. All diese Kleinen waren Nikolausi herzlich willkommen und keines ging wieder mit leeren Händen zurück nach Hause.
Diese enorme Nachfrage nach den Erzeugnissen seiner Handwerkskunst ließ Nikolausi kaum noch zur Ruhe kommen. Doch er war glücklich, weil er wusste, dass seine Spielsachen wiederum die Kinder glücklich machten. Die Unsterblichen ihrerseits freuten sich über seinen Erfolg und unterstützten ihn, so gut sie konnten. Die Aischen suchten für ihn unablässig nach gutem, leicht zu bearbeitendem und nicht zu hartem Holz, das sich mit seinen Messern gut schnitzen ließ; die Minorkos versorgten ihn mit allen Arten von Farben und Pinseln, die er benötigte; die Feen entdeckten, dass viele Arbeiten mit Werkzeugen wie Meißel, Säge, Feile, Hammer und Nägel leichter vonstattengingen und brachten all diese hilfreichen Gegenstände herbei, ebenso wie neue Messer mit scharfen Klingen in unterschiedlicher Größe.
Schon bald hatte sich die frühere Wohnstube in seiner Hütte zu einer gut ausgestatteten Werkstatt gemausert. Nikolausi baute sich eine Werkbank, die er direkt unter das Fenster stellte.
Von dort konnte er jedes Stück, an dem er arbeitete, und jedes Werkzeug, das er dazu benötigte, gut erreichen.
Und während er ein Spielzeug nach dem anderen vollendete, dazu bestimmt, die Herzen der Kinder zu erfreuen, spürte er, wie er selber Stück für Stück zufriedener wurde, sodass er gar nicht mehr aufhören konnte, den ganzen Tag, während er herumwerkelte, fröhlich zu lachen und zu singen und heitere Melodien zu pfeifen.
„Das kommt, weil ich im Tal des Lachens lebe, in dem ohnehin alles lacht!“, sagte Nikolausi.
Doch das war nicht der einzige Grund.
Das alles tat Nikolausi einzig aufgrund seiner Güte, mit der er die Herzen aller anderen erobern wollte.
Und es wundert nicht, dass er seit damals an jedem Ort rund um die Welt willkommen war und freudiger begrüßt wurde, als dies je einem König widerfahren war.