Berliner Extrablatt 97

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58 Berliner Schloss – Extrablatt Nr. 97

Z e n s u r vo n G e s c h i c h t e ?

Zensur der Geschichte?

Zum Programm der Balustradenfiguren von Peter Stephan

Im November 2020 erhielten das Westportal (Portal III) des Schlosses und die Risalite des SchlüterPeter Stephan hofs ihren freiplastischen Skulpturenschmuck. Dieses Jahr wurde der Figurenbesatz für den Kuppeltambour ausgeschrieben. Als Aufgabe bleibt nunmehr die Bestückung der Süd- und der Nordfassade. Deren originaler Schmuck war bereits um 1817 wegen Einsturzgefahr entfernt worden. Als Ersatz wurden die Risalite in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit neuen Figuren bestückt. Dabei erhielten jene Figuren, die den Portalrisalit V am Lustgarten krönten, die Gesichtszüge der damaligen Herrscherfamilie: König Wilhelms I. und seiner Gemahlin Augusta sowie des Kronprinzenpaares Friedrich Wilhelm und Victoria. Außerdem waren, dem Stilideal des Spätklassizismus folgend, die Gesichter und Gewänder der neuen Figuren gröber gearbeitet als bei den barocken Vorgängern, die Körperhaltung erschien steifer. Daher wirkten die Statuen im Verhältnis zu den Fassaden Andreas Schlüters und Johann Friedrich Eosanders wie Fremdkörper. Ihre Rekonstruktion ist daher sowohl aus ästhetischen wie aus politisch-ideologischen Gründen umstritten – ähnlich wie das Kreuz und die Inschrift an der Schlosskuppel. Was den ästhetischen Aspekt betrifft, so reagierte der neue Stil auf die zunehmende Monumentalisierung des Stadtraums: auf die Bauten der Museumsinsel sowie auf die ab 1842 einsetzenden Entwürfe für einen Neubau des Doms, die zum Teil eine Höhe von bis zu 180 Metern (!) anstrebten. Die baro-

cken Figuren waren für das Ambiente des barocken Lustgartens und die kleinteilige Häuserzeile am damaligen Schlossplatz konzipiert worden. Innerhalb des späteren Kontextes hätten sie sich nicht behaupten können. Versuche, sie in irgendeiner Weise zu rekonstruieren, ergäben keinen Sinn. Daher ist eine Wiederherstellung des spätklassizistischen Figurenschmucks unter städtebaulichen Gesichtspunkten alternativlos. Doch wie verhält es sich mit den politischen Implikationen? Wie immer empfiehlt sich bei einer solchen Frage der Blick auf die ikonographischen und historischen Zusammenhänge. Ihren Ausgang nahm die figürliche Neuausstattung der Fassaden an der Kuppel, die Friedrich August Stüler von 1845–1854 als Hofkapelle errichtet hatte. Um diese Funktion sichtbar zu machen, schmückte er das Äußere mit einem Zyklus alttestamentlicher Propheten. Das darunter befindliche Portal III erhielt an der Außenseite die vier Kardinaltugenden Stärke, Mäßigung, Gerechtigkeit und Weisheit, an der Innenseite die drei theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe, ergänzt um die Personifikation des Gebets. Die dem Lustgarten zugewandte Schulterrücklage des Westflügels wurde mit Darstellungen der Wahrheit und der Treue bekrönt. Es ist unschwer zu erkennen, dass Friedrich Wilhelm IV. mit seinem Bildprogramm eine völlige Abkehr vom imperialen Herrschaftsverständnis des Absolutismus vollzog. Bekanntlich hatte Eosander das Portal III nach dem Vorbild römischer Triumphbögen entworfen, deren Figurenschmuck in der Regel besiegte Barbaren zeigte. Über das Portal gedachte er einen 100 Meter hoch aufragenden Ruhmestempel zu setzen, dessen prachtvolle Architektur den preußischen König symbolisch unter die Götter erhoben hätte. Nun aber

Machtzuwachs und Beseitigung durch Retusche: Josef W. Stalin auf immer demselben Foto. Die Herren neben ihm werden nach und nach beseitigt.

unterstellte der König sich und seine Herrschaft der christlichen Pflichtethik: durch die Kuppelinschrift sowie die ergänzenden Propheten und Tugendallegorien. Diese Tendenz setzte sein Nachfolger Wilhelm I. fort, indem er am Portalrisalit V, hinter dem sich der barocke Thronsaal befunden hatte, die Herrschertugenden der Hochherzigkeit, der Milde, der Freigebigkeit und der Tapferkeit anbringen ließ – wie gesagt mit den Gesichtszügen seiner Familie. Das geschah nicht etwa auf seinen Wunsch hin. Wie schon in der Gotik üblich, wurden damals die Auftraggeber von Gemälden im Volk mit abgebildet. Hie wussten die Bildhauer, dass auf sie ein Auftrag über 29 Figuren kommt. Mit den Gesichtern der königlichen Familie machten Sie sich beliebt, in der Hoffnung auf weitere königliche Aufträge. Eine etwas andere Aussage besaßen die Personifikationen von Handel, Kunst, Industrie und Schifffahrt über Portal IV. Ihren Abschluss fand die Kampag-

ne 1888, als Kaiser Friedrich III. für die Südseite die Allegorien von Berg­bau, Ackerbau, Eisenbahnbau, Fischerei (Portal II) sowie von Kriegskunst, Wissenschaft, Gesetzgebung, Staatskunst (Portal I) in Auftrag gab. Sucht man nach einem den gesamten Zyklus verbindenden Generalthema, so ist am ehesten an das römische Staatsideal der Salus Publica, des Gemeinwohls, zu denken. Dieses Gemeinwohl, so die Botschaft, wird durch die Weisheit und Tugendhaftigkeit der Herrscher, die Moral und Frömmigkeit der Bürgerschaft sowie durch das Können und Wissen von Künstlern, Philosophen, Handwerkern, Ökonomen und Ingenieuren garantiert. Diese Vorstellung einer ständeübergreifenden Gesamtverantwortung für Staat und Gesellschaft entsprach ganz dem Selbstverständnis des aufgeklärten Bürgertums. Karl Friedrich Schinkel hatte es, inspiriert durch die Gebrüder Humboldt, bereits 1825–1830 in Gestalt des Alten


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