Sonderheft Kirill Petrenko

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20.6.– 28.10.19

Organized by the Fine Arts Museums of San Francisco in collaboration with Deutsche Bank

E I N E P U B L I K AT I O N D E R B E R L I N E R P H I L H A R M O N I K E R — K I R I L L P E T R E N K O C H E F D I R I G E N T 2 0 19

Mi – Mo 11 – 18 Uhr, Do bis 21 Uhr Unter den Linden 5, 10117 Berlin db-palaispopulaire.de

Eine neue Energie

Kirill Petrenko Chefdirigent 2019


ANDREA ZIETZSCHMANN

Editorial

ED I TO R I A L

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EINE NEUE ENERGIE

K I R I L L P E T R E N K O C H E F D I R I G E N T 2 0 19

Liebes Publikum,

wenn Kirill Petrenko am 23. August 2019 sein Amt als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker antritt, beginnt eine neue Ära. Dass dies eine Zeitenwende ist, wird besonders anschaulich, wenn man bedenkt, dass die entscheidenden künstlerischen Prägungen in der 137-jährigen Geschichte der Berliner Philharmoniker durch nur sechs Chefdirigenten erfolgten. Jeder Einzelne von ihnen schrieb Musikgeschichte: Hans von Bülow, Arthur Nikisch, Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan, Claudio Abbado und Sir Simon Rattle. In der vergangenen Saison hatten Sie bereits reichlich Gelegenheit, Kirill Petrenko musikalisch kennenzulernen und mitzuerleben, wie sich seine Partnerschaft mit den Berliner Philharmonikern aufs Schönste entfaltet. Mit dem vorliegenden Heft möchten wir Ihnen unseren neuen Chefdirigenten nun auch persönlich vorstellen. Wir verfolgen seinen Werdegang, besuchen seine bisherigen Wirkungsstätten und zeigen auf, was ihn musikalisch bewegt. Ich wünsche Ihnen interessante und faszinierende Begegnungen mit Kirill Petrenko – eine neue Energie für unser Orchester, die Philharmonie und Berlin!

Herzlich, Ihre Andrea Zietzschmann

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A U F TA K T

I N H A LT S V E R Z E I C H N I S

PERSPEK TIVEN

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»Beethovenopolis« Meiningen als heimlicher ­Knotenpunkt der Musikgeschichte

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»Leise, ganz leise« Kirill Petrenko in Wien

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»Der aufregendste Generalmusikdirektor Berlins« Kirill Petrenkos Zeit an der Komischen Oper Berlin

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Schöne Bruchstellen der Musik Mussorgsky, Pfitzner, Puccini: Kirill Petrenkos Frankfurter Opernpremieren

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Der Perfektionist

Inhalt

Kirill Petrenko an der Bayerischen Staatsoper

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»Sehen Sie nicht zu viel hin! Hören Sie zu!« Kirill Petrenko dirigiert den Castorf-Ring in Bayreuth

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EINE NEUE ENERGIE

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PANOR A M A

POSTSKRIPTUM

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Dostojewski, eine schöne Fürstin, zwei Drinks und ein Wunderkind

Wertzuwachs und Bedeutungswandel von Dirigent und Chefdirigent

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Omsk

Mythos Chefdirigent

Bregenz Ein ertrunkener Knabe, ein gelangweilter Haifisch und erstes Opernmachen

Von der Stille bis zum Epilog Das Phänomen Josef Suk

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Wien Ludwig van B. und seine Unsterbliche Geliebte streifen durch Buchläden und Hotels

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Meiningen Hans von Bülow, ein herzöglicher Prinzipienreiter, lauter Bachs und ein Ring

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Berlin Herbert von Karajan, Bruno Ganz und zwei Bier auf der goldenen Schulter

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Tel Aviv Ein utopisches Quartett in einer utopischen Stadt

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München Drei alte Herren staunen und freuen sich auf alte Damen

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Eine schrecklich nette Familie Im Sommer 1914 wurde Richard ­Wagners Lieblingstochter Isolde vom Grünen Hügel verstoßen. Die Folgen waren verheerend.


PERSPEKTIVEN

ÜBERSICHT

Per spe kti ven Der Name ist Programm. In der Rubrik »Perspektiven« betrachten wir von verschiedenen Standpunkten aus Kirill Petrenkos künstlerisches Schaffen und besuchen seine bisherigen Wirkungsstätten. 6


EINE NEUE ENERGIE

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Meiningen als heimlicher Knotenpunkt der Musikgeschichte

Kirill Petrenko an der Bayerischen Staatsoper

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»Beethovenopolis«

»Leise, ganz leise« Kirill Petrenko in Wien

28

»Der aufregendste Generalmusikdirektor Berlins« Kirill Petrenkos Zeit an der Komischen Oper Berlin

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Schöne Bruchstellen der Musik Mussorgsky, Pfitzner, Puccini: Kirill Petrenkos Frankfurter Opernpremieren

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Der Perfektionist

»Sehen Sie nicht zu viel hin! Hören Sie zu!« Kirill Petrenko dirigiert den Castorf-Ring in Bayreuth


PERSPEKTIVEN

MEININGEN

Der im Dezember 1909 eingeweihte Neubau des Meininger Hoftheaters

»Beethovenopolis« Meiningen als heimlicher Knotenpunkt der Musikgeschichte Vo n M a l t e K r a s t i n g

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roße Aufregung herrschte im April 1994 in Meiningen. Das Südthüringer Residenzstädtchen erwartete hohen Besuch: Die Berliner Philharmoniker hatten sich den kleinen Ort im Werratal für ihr viertes Europakonzert ausgesucht. Die ersten drei hatten im Prager Smetana-Saal, im spanischen Escorial und in der Royal Albert Hall stattgefunden. Und nun dieses Meiningen, verwaltungstechnisch ein Mittelzentrum von knapp 25.000 Einwohnern in ehemaliger innerdeutscher Grenznähe mit dem klassizistischen Theater und seinen 726 Plätzen? Bei näherer Betrachtung gab es gute und gewichtige Gründe, warum sich Claudio Abbado und seine Musiker (sie spielten, keineswegs zufällig, die Zweite Symphonie von Johannes Brahms und – mit Daniel Barenboim als Solisten – das Fünfte Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven) für Meiningen entschieden hatten. Es galt, das Zusammenwachsen Europas künstlerisch zu befördern. Auch innerhalb des wiedervereinigten Deutschlands waren alte Verbindungen neu zu knüpfen. Meiningen konnte mit einer weit über die Größe der Stadt hinausreichenden theater- und musikgeschichtlichen Bedeutung aufwarten und war außerdem im 19. Jahrhundert zwischen Frankfurt und Leipzig ein wichtiger finanzpolitischer Umschlagplatz; vor allem aber hatte der erste Chefdirigent der vormals Bilse’schen Kapelle (heute bekannt als Berliner Philharmoniker), Hans von Bülow nämlich, mit der Meininger Hofkapelle in den 1880er-Jahren quasi das moderne symphonische Orchesterspiel erfunden – und 1994 jährte sich sein Todestag zum 100. Mal. Noch war nicht abzusehen, dass nur wenige Jahre später neue musikalische Höhenflüge aus Meiningen berichtet würden, und noch weniger, dass der dafür verantwortliche junge Dirigent, von dem damals noch kaum jemand gehört hatte, zwei Jahrzehnte später als sechster Nachfolger Bülows die künstlerische Leitung der Berliner Philharmoniker übernehmen sollte. Was hatte es auf sich mit der besonderen Rolle dieser kleinen Stadt im Konzert der europäischen Musik?

sche Pferd gesetzt – mit der Niederlage der bundestreuen Truppen unter Anführung Österreichs blieb ihm nichts anderes übrig, als zugunsten seines Sohnes Georg abzudanken. Der erbte ein überschaubares Reich: Im kurz darauf gebildeten Norddeutschen Bund stand Sachsen-Meiningen unter den 22 Bundesstaaten flächenmäßig zwar immerhin an neunter und von der Bevölkerungszahl her an zehnter Stelle, dies änderte aber nichts daran, dass es sich jeweils um weniger als 1% der Größe Preußens handelte. Über seinen politischen Einfluss machte sich Georg keine Illusionen; mit Meiningen, Hildburghausen, Schmalkalden als Metropolen seines kleinen Territoriums waren machtpolitisch keine großen Sprünge zu machen. Er nahm seine Aufgabe gleichwohl ernst, wurde zeitlebens auch als umsichtig agierender Landesvater geachtet, sah seine eigentliche Berufung aber anderswo. Künstlerisch hochgebildet, formte er aus seinem Herrschaftsbereich ein Theater mit angeschlossenem Herzogtum. Mit Amtsantritt übernahm er für fast fünf Jahrzehnte als heimlicher Intendant und Spiritus Rector die Verantwortung für das Meininger Hoftheater und entwarf im Grunde das, was wir heute unter Theaterregie verstehen. Er war damit Vorreiter im Metier des Inszenierens – mit textgetreuer Wiedergabe der Stücke, historisch recherchierten Bühnenbildern und Kostümen, psychologisch genauen Charakterstudien und einer künstlerisch-ästhetischen Einheitlichkeit der Gesamtgestaltung. In der Essenz also, »das Drama, den Dichter über den Darsteller, das Ensemble über den Einzelnen« zu stellen. Die sogenannten »Meininger Prinzipien« haben das Theater grundlegend reformiert, noch heute werden sie gelehrt und beachtet. Neben den epochalen Klassikeraufführungen (von Shakespeare bis Schiller) setzte sich Georg II. auch für die bis dahin kaum gespielten Dramen Heinrich v. Kleists und moderne Skandinavier wie Henrik Ibsen und Bjørnstjerne Bjørnson ein. Georg führte sein Schauspielensemble mit Musteraufführungen und europaweiten Tourneen zu Weltruf und ging selbst als »Theaterherzog« in die Geschichte ein. Dass die Meininger mit ihrer Methode irgendwann in »Meiningerei« erstarrten, ist der Lauf der Welt: Die Neuerungen, für die sie gekämpft hatten, waren nun zur Selbstverständlichkeit geworden.

DIE MEININGER THEATERREFORM Seit 1690 gibt es in Meiningen eine Hofkapelle; professionell Theater gespielt wird dort seit dem 18. Jahrhundert. Der Vorgängerbau des Meininger Theaters wurde 1831 eröffnet. Doch der Moment, in dem dieses Meininger Theater ernstlich auf den Plan trat, kam erst später, und zwar nach einer politischen Zäsur. 1866 kulminierten die Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern des Deutschen Bundes im kurzen preußisch-österreichischen Krieg. Herzog Bernhard II. von Sachsen-Meiningen hatte aufs fal-

DR AMA ZUM HÖREN Was Georg mit seinen Schauspielern gelungen war, das wollte er auch mit seiner Hofkapelle erreichen. Er hatte zwar gleich zu Anfang seiner Regentschaft die Oper abgeschafft, weil er es für unmöglich hielt, das Niveau im Sprech- und im Musiktheater gleichzeitig zu steigern. "

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PERSPEKTIVEN

MEININGEN

Das Orchester bestand aber weiterhin, und es hatte sich bereits eine gewisse Reputation erspielt: Die Meininger Musiker stellten bei der Uraufführung von Richard Wagners »Ring des Nibelungen« 1876 immerhin ein Drittel des Bayreuther Festspielorchesters. Wagner dankte es mit zwei Sentenzen, die jeder kunstsinnige Meininger zitieren kann: »Es gibt viele Meinungen, aber nur ein Meiningen« und »Wie viele über mich herzogen, ich kenne nur einen Herzog«. Sogar den die Stadt mit einem Hauptstrom und zahlreichen Wassergräben durchziehenden Fluss ehrte er mit dem Satz »Die Werra ist meine Freundin«. Aber Georgs Ambitionen gingen darüber hinaus. 1880 sah er den Augenblick gekommen und wandte sich an Hans von Bülow, der als Pianist ebenso wie als Opernkapellmeister, als der er »Tristan und Isolde« und die »Meistersinger von Nürnberg« in München uraufgeführt hatte, bereits eine musikalische Berühmtheit war. Bülow nahm die Einladung an, neuer musikalischer Leiter der Kapelle zu werden – denn den Herzog und den Musiker einte das Ziel, ein Orchester zu schaffen, dessen Spiel den Werken ebenbürtig wäre, und beide waren sich auch darin einig, womit das zu bewerkstelligen sei, nämlich mit der Musik Ludwig van Beethovens. »Die Konzentration auf Beethoven schien mir Bedingung, die Gründung eines Stils zu versuchen«, sagte Bülow und setzte in seiner ersten Saison als Hofkapellmeister daher ausschließlich Beethoven-Werke aufs Programm – eine »Reise um Beethoven in 80 Tagen«, wie er sie nannte, die in dem legendären Konzert im Dezember 1880 kulminierte, in dem er die Neunte Symphonie gleich zweimal spielen ließ. Schon in einem programmatischen Brief an seinen zukünftigen Dienstherrn stellte Bülow seine Absicht in einen größeren Zusammenhang: »Eine Beethoven’sche Symphonie ist in meiner Auffassung ein Drama für die hörende Phantasie.« Um diesen Anspruch zu unterstreichen, benannte Bülow den Ort kurzerhand um und machte aus Meiningen sein persönliches »Beethovenopolis«: als Beethoven geweihte Stadt. Bülow war einer der ersten Dirigenten, die ganze Abende ausschließlich den Werken eines einzigen Komponisten widmeten. Er konzipierte seine Programme inhaltlich und nicht zur Demonstration virtuoser Fähigkeiten, plante immer eine ganze Saison und nicht nur eine Folge von verschiedenen Konzerten – er prägte die Programmgestaltung, wie man sie heute kennt und erwartet. Sein Dirigierstil muss dabei außerordentlich theatralisch gewirkt haben, expressiv alle Möglichkeiten gestischer und mimischer Darstellung nutzend. Oft genug wurde er dafür kritisiert und karikiert. Diese »Dirigentenpantomimik«, wie Bülow sie selbst nannte, diente ihm allerdings der »Verdeut-

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lichung der satz- und orchestertechnischen Komplexität« (Hans-Joachim Hinrichsen). Die Mission der Komponisten, meinte er, sei zu »pro-, meine zu reproduzieren«. So hob er einzelne Orchesterstimmen hervor, stellte Motive heraus und kontrastierte Formabschnitte, indem er das Tempo teils erheblich modifizierte. Mit diesem eigenwilligen Modellieren brachte er eine große sinnliche Wirkung hervor und verlieh der Musik eine sprechende Qualität: Er machte sie eben zu einem »Drama für die hörende Phantasie«.

Bülow ließ Strauss, kaum, dass der seine Stellung angetreten hatte, bald allein in Meiningen und wurde kurz darauf, 1887, erster Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Auch mit diesem Orchester – das in seiner Amtszeit die Grundlage seines weltweiten Rufs legte – setzte er seine Beethoven-Interpretationen fort. Als Bülow, bereits schwer krank, seine Berliner Position 1893 niederlegte und im Jahr darauf starb, blieb das Orchester zwei Jahre ohne Chef; die meisten Konzerte in dieser Zeit dirigierte kein anderer als der – mittlerweile berühmte – ehemalige Meininger Richard Strauss. Der Fäden, die Meiningen mit München und Berlin verbanden, sollten noch mehr werden.

FORTFÜHRUNG UND NACHFOLGE Zum Schwerpunkt Beethoven trat bald ein weiterer Komponist. 1881 bot Bülow Johannes Brahms die Möglichkeit, sein Zweites Klavierkonzert vor der offiziellen Premiere auszuprobieren, um die Orchestrierung zu überprüfen. Daraus entwickelte sich eine enge, von Freundschaft geprägte Zusammenarbeit, die auch Georg und seine Familie einschloss: »Eine Reise nach Meiningen eröffnet stets die schönsten Aussichten«, schrieb Brahms vier Jahre später an den Meininger Herzog – da ging es schon um die Uraufführung seiner Vierten Symphonie, die er der Meininger Hofkapelle anvertraut hatte, denn »wie wohl und behaglich mir in Mitten der Capelle ist«, meinte er, »darüber könnte ich ein langes, lautes Danklied singen«. So entstanden auch mit Brahms’ Werken Musteraufführungen, die Bülows Nachnachfolger Fritz Steinbach weiter ausbaute, bis hin zu veritablen Brahms-Festspielen. Vorher kam allerdings für kurze Zeit ein anderer junger Musiker zum Zuge, in dessen Lebenslauf – genau wie bei Bülow – Meiningen neben den Stationen München und Berlin eine wichtige Rolle spielen würde. Im fünften (und letzten) Jahr seines Meininger Wirkens, 1885/86, ging Bülow seines Assistenten Franz Mannstädt verlustig. Zum Ersatz erwählte sich Bülow einen kaum 20-jährigen Musiker, der ihm kurz zuvor als »geborner Dirigent« aufgefallen war: den jungen Münchner Richard Strauss. Der ob dessen jugendlichen Alters skeptische Herzog konnte schnell von Talent und Befähigung des Kandidaten überzeugt werden; er hat das Wagnis nicht bereut. Dieses Engagement wurde eine Weichenstellung in Strauss’ Laufbahn: Er, der vorher praktisch nie vor einem Orchester gestanden hatte, wuchs innerhalb kurzer Zeit zu einem der wesentlichen Dirigenten seiner Generation heran. Noch Jahre später meinte er, dass »mich Bülow zum Dirigenten in seinem und Wagners Sinne erzogen hat«. Selbst dessen expressive Gestik machte er sich zu eigen, zum Leidwesen seines Vaters Franz, der ihn aufforderte, die »Schlangenbewegungen« und das »Faxenmachen« bleiben zu lassen.

VORSPULEN IN DIE GEGENWART Noch einmal wirkte in Meiningen ein prominenter Musiker und Komponist als Hofkapellmeister: Max Reger in den Jahren 1911 bis 1914. Viele achtbare Musiker folgten auf ihn, die jedoch – auch seit die Opernsparte in den frühen 1920er-Jahren peu à peu wieder aufgebaut wurde – Herzog Georgs Analyse nicht immer widerlegen konnten: dass Höchstleistungen auf allen drei Hauptgebieten, Schauspiel, Konzert, Musiktheater, zur selben Zeit schwer zu erbringen waren und sind. Nichtsdestoweniger strahlte von Meiningen immer wieder etwas von der künstlerischen Integrität aus, die Georg dem Theater eingepflanzt hatte. Zwischenzeitlich galt das Haus neben dem Berliner Ensemble als »zweite Brechtbühne in der DDR« (Alfred Erck), und Namen von Dirigenten wie Heinz Bongartz und Rolf Reuter – der gemeinsam mit dem Regisseur Harry Kupfer später die Komische Oper in Berlin leiten würde – sprechen für sich. In der Nachwendezeit sorgte der früh verstorbene Intendant Ulrich Burkhardt mit seinem ebenso cleveren wie klugen Spielplan für überregionales Aufsehen. Er holte August Everding, Ephraim Kishon, Mikis Theodorakis, Loriot und Klaus Maria Brandauer nach Meiningen, das Publikum kam in Scharen aus Ost und West, Meiningen war wieder das »Theater mit Stadt« drumherum, wie Gustav Mahler gesagt haben soll. Doch erst Christine Mielitz gelang es, mit einem spektakulären Coup Meiningen wieder zur Musikstadt zu machen und dem Werk Wagners ein Zuhause zu geben. »Dass es Meiningen gibt, war mehr als bekannt, aber wo es lag und wie es aussah, wusste ich nicht«, erzählt sie in einem Interview mit dem Journalisten Siggi Seuß. »Und dann habe ich mich sehr schnell auf die Geschichte des Orchesters besonnen. Mir fiel ein, dass ja die Lesen SieUrurgroßväweiter in ter der Meininger Musiker bei Wagner spielten, und ich der aktuellen Ausgabe habe mich gefragt: Was hat denn der Burkhardt mit "

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PERSPEKTIVEN

WIEN

»Leise, ganz leise« Kirill Petrenko in Wien von Wilhelm Sinkovic z

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ie Saison war fast schon zu Ende, Urlaubsstimmung machte sich breit. Im Ausklang der Spielzeit 1996/1997 machte aber unter Kennern noch rasch der Name eines jungen Dirigenten die Runde: Kirill Petrenko hieß er und hatte soeben die Kapellmeisterausbildung an der Musik-Universität Wien abgeschlossen. Sein Auftritt im Diplomkonzert riss die Kundigen unter den anwesenden Musikfreunden noch einmal aus der Sommerruhe: »Wenn der nicht Karriere macht, dann weiß ich nicht«, lautete der Kommentar eines Mannes, dessen Stimme nicht nur in Wien Gewicht hat. Der Auftritt des frisch diplomierten Maestros am Pult des Wiener Radiosymphonieorchesters im großen Musikvereinssaal war so etwas wie der tönende Beweis für eine viel zitierte Psychologenthese: Bei einem Bewerbungsgespräch, heißt es, fällt die Entscheidung in den ersten paar Sekunden. Petrenko bewarb sich hier, freilich ohne es zu ahnen, um eine Position an der vordersten Linie des internationalen Musiklebens – und hatte sie am Abend des 9. Juni 1997 nach ein paar Takten quasi in der Tasche. Freilich auch deshalb, weil er gutem Ratschlag folgte und die Früchte seines unleugbaren Talents nicht sogleich genießen wollte. Studienabgänger von solchem Potenzial finden ja heutzutage rasch den Weg an die ersten Adressen und machen dann mit Schostakowitsch- und MahlerSymphonien mühelos Weltkarriere. Deren Breitwandsound übertönt jegliche Unzulänglichkeit. Je später die erste Auseinandersetzung mit einer Mozart- oder HaydnSymphonie folgt, desto länger bleiben technische und vor allem musikalische Schwachstellen verborgen.

Die im Dezember 1898 eröffnete Volksoper

WIENER LEHRJAHRE Genau diesen Weg wollte Petrenko nicht wählen. Statt verlockende Angebote anzunehmen, verschwand er von der Bildfläche. Jedenfalls von jener der großen Konzertpodien. Eine echte Kapellmeisterausbildung absolviert man nach theoretischem Grundstudium in der zähen Praxis des Opernbetriebs. Das ist eine Binsenweisheit, der freilich kaum mehr jemand traut. Doch Petrenko ging nach Meiningen – bevor sich noch sein Name über die Wiener Stadtgrenze hinaus hätte herumsprechen können. Das wurde später viel kommentiert und erwies sich als goldrichtige Entscheidung. Gleich nach dem Diplom fand man den jungen Mann auch in Wien zunächst einmal dort, wo der Musikbetrieb am haarigsten ist: im Operettenrepertoire der Volksoper. »Leise, ganz leise«, nicht im notorischen Einheitsforte klang er »durch den Raum«, der »Walzertraum« von Oscar Straus. Von solchen Operettenpartituren hatte Herbert von Karajan einmal gemeint, die »Walküre« sei ein Kinderspiel "

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PERSPEKTIVEN

dagegen: Ein Kapellmeister, der das hier verlangte, unberechenbare Rubato beherrsche, von dem dürfe man behaupten, er könne »wirklich dirigieren«. Petrenko konnte. Nicht nur das Publikum, auch die Musiker staunten, wie er sie mit suggestiven Gesten, vor allem aber mit beschwörendem Augenkontakt aus der allabendlichen Lethargie in Regionen echter Pianissimi lockte und Tempi sensibel mit dem Bühnengeschehen ausbalancierte. Petrenko übernahm noch manch heikle Aufgabe unterschiedlichsten Zuschnitts, von Mozarts »Così fan tutte« über Mussorgskys »Boris Godunow« oder Orffs »Bernauerin« bis zu Lehárs »Lustiger Witwe«. Als er nach dem legendären Meininger »Ring« dann nach Berlin an die Komische Oper berufen wurde, resümierte er: »Ich war sehr glücklich, erst an der Volksoper und dann in Meiningen das Handwerk weiter vervollkommnen zu können und vor allem begreifen zu lernen, was Qualität ausmacht. Was es an Arbeit kostet und wo man wirklich investieren muss.«

WIEN

Angst haben zu müssen. Die Aufführung der Haydn-Symphonie mit dem Radiosymphonieorchester Wien rief in ihrer Detailgenauigkeit, ihrem Witz und ihrem, sagen wir ruhig, Drive das erste Mal einen Vergleich auf den Plan, der seither immer wieder bemüht wurde: Carlos Kleiber hatte eine andere G-Dur-Symphonie Haydns, die »mit dem Paukenschlag«, in einem Konzert der Wiener Philharmoniker einmal zu einem ähnlich luziden, alle direkten Vergleiche deklassierenden Ereignis werden lassen. Kleiber war jener Dirigent, der auch als Vorbild für eine weitere Eigenschaft Petrenkos benannt werden kann: das Sichrarmachen. Kaum riefen Rezensenten, Publikum und Veranstalter einhellig »da capo«, war Petrenko unauffindbar. Herausforderungen nahm er immer erst an, wenn ihm die Zeit reif dünkte. Wie oft haben sich die Wiener Philharmoniker bemüht, den mittlerweile längst Arrivierten zu einer ihrer Sonntagsmatineen zu bitten? Sie hatten das eine oder andere Mal, selten genug, mit ihm an der Staatsoper musiziert – zuletzt 2014 in einer denkwürdigen, an musikalischen Pointen überreichen Aufführungsserie des »Rosenkavaliers«. Aber Konzerte gibt es nur alle heiligen Zeiten. Wer Kirill Petrenko erleben möchte, muss jetzt nach Berlin pilgern – oder gespannt auf die beiden traditionellen Termine gegen Ende der Salzburger Festspiele warten. Insofern ist es für die Wiener jetzt wieder ein bisschen so wie zu Karajans Zeiten. <

SICHERES HANDWERK Es war eines der wenigen Interviews, die Kirill Petrenko gegeben hat. Er redet nicht gern, vor allem beantwortet er ungern typische Journalistenfragen. Hingegen konnte man zumindest in den ersten Wiener Jahren mit ihm in einem Beisel in der Nähe des Theaters an der Wien, wo er einige wenige Opernproduktionen einstudierte, die Zeit vergessen. Zum Beispiel, weil er froh war, jemanden gefunden zu haben, mit dem er über Edward Elgars Zweite Symphonie fachsimpeln konnte. Der dieserart vorbereitete Wiener Kritiker war daher am allerwenigsten erstaunt über die für manche seltsam scheinende Repertoirewahl Petrenkos für seine Auftritte mit den Berliner Philharmonikern. Elgars Zweite – und später Franz Schmidts Vierte Symphonie, zwei große Brocken der spätesten Romantik. Die Musik des ehemaligen Akademie-Rektors Schmidt hatte Petrenko schon in Wien kennen und lieben gelernt: »Endlich eine mir völlig unbekannte Musik, die groß im Geist und in der Idee war, perfekt im Aufbau, in der Form und meisterhaft in der Ausführung«, schwärmte er – und verlangte diese Vierte schon für sein Debüt beim WDR in Köln. Auch sein erster »offizieller« Wiener Konzertauftritt – nach etlichen Repertoire-Opern und -Operetten – galt der Schmidt-Symphonie und, nicht zu vergessen, der quirlig-hintergründigen Achtundachtzigsten von Haydn. Das war Petrenkos Stärke von Anbeginn: Er war sich seines Handwerks sicher genug, um vor den Klassikern keine

Wilhelm Sinkovicz studierte Komposition und Musikwissenschaft in Wien. Als Musikkritiker ist er Mitglied der Redaktion der österreichischen Tageszeitung »Die Presse«.

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Aufregende Klanglandschaft Auftakt zu einer neuen Ära! Mit Beginn der Saison 2019/2020 übernimmt Kirill Petrenko das Amt des Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker. Als Vorgeschmack ist jetzt in einer ersten gemeinsamen CD-Edition Tschaikowskys Sechste Symphonie erhältlich. Zu hören ist eine gefeierte Aufführung, die feinste Farbnuancen ebenso erlebbar macht wie große Seelendramen. »Ein einziger gemeinsamer Atem verbindet Maestro und Orchester auf dem Weg durch diese aufregende Klanglandschaft« (Münchner Merkur). Peter Tschaikowsky Symphonie Nr. 6 »Pathétique« Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko Dirigent CD/SACD · LP

Jetzt erhältlich unter www.berliner-philharmoniker-recordings.com und im Shop der Philharmonie Mehr erfahren: www.petrenko-live.de


PERSPEKTIVEN

FR ANKFURT

Schรถne Bruchstellen der Musik Mussorgsky, Pfitzner, Puccini: Kirill Petrenkos Frankfurter Opernpremieren Vo n W o l f g a n g S a n d n e r

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Die 120 Meter lange Glasfassade der Städtischen Bühnen in Frankfurt

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PERSPEKTIVEN

E

in zentraler Gedanke von John Cage wäre auch als ästhetischer Glaubenssatz Kirill Petrenkos vorstellbar: »Lasst uns ein für alle Mal anerkennen, dass die Linien, die wir ziehen, nicht gerade sind.« Der radikale Avantgardist Cage hat nie schnurstracks gedacht, vielmehr ein Leben lang mit seinem künstlerischen Wirken gegen die Diktatur des rechten Winkels in der musikalischen Architektur opponiert. Kirill Petrenkos Haltung als Dirigent muss auf einer ähnlichen Idee basieren. Überdenkt man die drei Opernpremieren, die unter seiner künstlerischen Leitung in größeren zeitlichen Abständen zwischen 2005 und 2011 in Frankfurt am Main stattfanden – andere Städte wie Meiningen, Berlin und München hatten bisher mehr Glück, Zeugen seiner kontinuierlichen Arbeit zu sein –, dann hat man den Eindruck, Kirill Petrenko sei stets auf der Suche nach einem vollendeten künstlerischen Ausdruck menschlicher Unvollkommenheit. Um Hans Pfitzners Musik ist, zumal in Deutschland, lange Zeit ein großer Bogen gemacht worden, wobei die polarisierende Persönlichkeit des Komponisten oft keinen ungetrübten Blick auf die Faktur seiner Musik zuließ. Vor der Frankfurter Premiere der Oper »Palestrina« hat Kirill Petrenko dagegen ein vehementes, wenngleich auch ungläubiges Staunen hervorrufendes Bekenntnis zu Pfitzners Werk – nicht zu Pfitzner selbst – abgegeben, das durch die Aufführung ihren hintergründigen Sinn offenbarte. Petrenkos Interpretation hat die Brüche der Partitur auf grandiose Weise offenbart, statt sie gnädig zuzuschminken.

FR ANKFURT

hunderts sei: »Sie gehört ins gebrochene 19. Jahrhundert. Das wirkt auf mich wie eine mittelalterliche Ikone, durch die sich Risse ziehen. Kein Bogen wird zu Ende geführt, das musikalische Geschehen bricht irgendwo ab oder geht in chaotische Chromatik über. Aber diese alte Ikone mit ihren ganzen Bruchstellen ist trotzdem schön.« Dass die Oper auf dem schmalen Grat zwischen Wagner oder Strauss, deren Weg Pfitzner nicht mehr gehen konnte, und den Neutönern, die er hasste, nicht abgestürzt ist, hat Petrenkos uneingeschränkte Bewunderung gefunden: »Es ist vielleicht nicht die allererste, aber eine sehr ehrliche Musik. Ich bekomme Gänsehaut beim Dirigieren.« Auch das hat die Frankfurter Inszenierung zu einem Ereignis von Rang gemacht. In der wimmelnden Vielfalt instrumentaler Farben und Dissonanzen, im Changieren zwischen alter Mehrstimmigkeit und neuer Monodie bei gleichzeitigem Blick aus der spätromantischen Vogelperspektive wird das Ringen um eigenständigen musikalischen Ausdruck Pfitzners, seine riskante Wanderung am Abgrund hörbar gemacht und zugleich das Puzzle heterogener Klangereignisse mit seinen überraschenden Übergängen und disparaten Leitmotiven sinnfällig zusammengefügt. INNERE BEFINDLICHKEIT Wer einen solchen Kraftakt bewältigt, für den müsste Puccinis »Tosca« gewissermaßen sensualistisches Kinderspiel sein, allerdings eines, bei dem an jeder schönen Stelle die Gefahr einer Überdosis Sentiment lauert. Im Grunde muss diese viel gespielte Oper – wie es Theodor Adorno für Bachs Werke reklamierte – gegen ihre Liebhaber verteidigt werden. Es wäre verwunderlich gewesen, hätte Kirill Petrenko diese Problematik nicht bewusst gemacht. Gehörte Pfitzners »Palestrina« für ihn, wiewohl 1917 uraufgeführt, ästhetisch noch ins 19. Jahrhunderts, so spürte er bei Puccinis im Januar 1900 in Rom erstmals inszenierter »Tosca« schon die Nähe zur Expressivität von Alban Bergs »Wozzeck«. Dass Petrenko dabei in einer der Schlüsselszenen – der Folterung Cavaradossis im szenischen Off – Edvard Munchs berühmtes Gemälde »Der Schrei« assoziiert, ein überwältigender Schmerzensausbruch, der bildmächtig stumm bleibt, mag bezeichnend sein für sein Verständnis musikalischer Übertragungsmechanismen menschlichen Verhaltens. Bei Dieter Schnebels zwischen 1967 und 1974 entstandenen radikalen Vokalkompositionen unter dem Sammeltitel »Maulwerke« gibt es eine Stelle, wo ein Darsteller plötzlich den Mund weit aufreißt und ihn dann in langsamster Zeitlupe Millimeter um Millimeter schließt, bis er endlich mit einem kleinen Ruck gänzlich zuklappt. Es ist das

WANDERUNGEN AM ABGRUND Es sei die schönste Oper, mit der er sich jemals beschäftigt habe, meinte Petrenko damals auf die Frage nach der Bedeutung dieses Werkes für ihn und fügte hinzu: »Mich fasziniert die Thematik eines Künstlers, der nicht mehr schaffen will und dessen Leben eigentlich passé ist. Trotzdem verlangt man von ihm noch einmal ein großes Werk. Denn das ist seine Bestimmung auf der Welt. Diese Problematik kennt jeder Künstler. Ich habe oft selbst das Gefühl, nicht mehr zu können. Aber da sage ich mir, wenn ich eine Berufung habe, dann muss ich sie auch erfüllen. Diese Oper hilft mir sehr dabei.« Vielleicht ist es das, was Petrenkos Lesart des Werkes in Frankfurt so überzeugend wirken ließ. Die oberste Priorität für die Sache einer kräftezehrenden Musik verbindet den Schöpfer des Werkes, das Subjekt im Mittelpunkt des Operngeschehens und den Interpreten unauflöslich miteinander. Petrenkos Auffassung von Schönheit gewinnt eine noch klarere Kontur bei seiner Antwort auf die Frage, ob diese Oper stilistisch ein Werk des 19. oder des 20. Jahr-

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Wegbleiben des Atems, das solche stummen Aktionen schreiend werden lässt. Kirill Petrenko muss die Wirkungsmacht der Reduktion bei seiner Gestaltung von Puccinis »Tosca« stets im Sinn gehabt haben. In leisen Tönen lauert das Böse, nicht im Poltergeist, dessen Gefährlichkeit mit dem emotionalen Ausbruch auch schon wieder verpufft ist. Bei der Szene im dritten Akt mit dem schlaftrunkenen Cavaradossi kurz vor seiner Hinrichtung erklingen die Kirchenglocken, die hinter und über der Bühne von vier Schlagzeugern geschlagen werden. Aber sie klingen nicht unerschütterlich machtvoll, eher verhalten meditativ. Es gehe um eine innere Befindlichkeit Cavaradossis, meint Petrenko dazu und stellt die Frage in den Raum, ob der bedauernswerte Gefangene in dieser schweren Stunde die Glocken vielleicht gar nicht wirklich höre, sondern nur imaginiere. Es sind solche Subtilitäten, das Eingehen auf Details der Handlung, die im Klang und im Vokalen ihre Entsprechung finden, die Ruhe in der musikalischen Grundierung von Episoden und die allen Klangbombast und unangemessenen orchestralen Schmelz meidende, nahezu schon musikdramatische, wenn man will: sprechende Diktion in der Umsetzung der Partitur, die so für diese Aufführung einnehmen.

Bild einer nicht die Radikalität des Klanggeschehens wählenden, nachdenklichen und vielleicht auch noch nach einem angemessenen Ausdruck suchenden Realisierung. Möglicherweise aber muss eine so abwägend tastende Interpretation gar keine Fragen mehr stellen. Der fragmentarische Gestus des Werkes gibt schon im Sinne von John Cage die Antwort. Mussorgskys kompositorische Linien sind unvollendet und nie gerade. Sie sind human. <

KOMPOSITORISCHE LINIEN Hans Pfitzners Musik gegen die Skeptiker an seiner Persönlichkeit in Schutz nehmen, Puccinis Feinheiten gegen die Liebhaber einer hypertrophen Arienseligkeit verteidigen: Was muss bei Modest Mussorgskys »Chowanschtschina« geschehen? Zunächst sollte jenes Dilemma erkannt werden, das vor allem Rimsky-Korsakow, Mussorgskys kongenialen Instrumentator, beschäftigte und das Anatoli Ljadow in Worte fasste: »Man weiß nicht recht, was man tun soll. Lässt man es so, wie Mussorgsky es niederschrieb, ist es oft plump, falsch und unschön, bringt man aber Ordnung hinein – so ist es kein Mussorgsky mehr.« Das muss auch Kirill Petrenko beschäftigt haben, als er beim Podiumsgespräch vor der Frankfurter Premiere freimütig erklärte, auch er fände die schnörkellose, karg harmonisierte Musik »schwer verständlich«. Seine Realisierung von Mussorgskys »Chowanschtschina« wurde in Frankfurt dann konsequenterweise so etwas wie ein verfremdetes Hauptwerk, bei dem alles Schrille vermieden wurde, die Zerrissenheit der geschichtlichen Konstellation sich eher in differenzierten Klangfarben und kontrastreichen Tableaus äußerte, als habe Arnulf Rainer mit seinen Übermalungen am musikalischen Konzept mitgewirkt. Und auch die Strawinsky-Lösung am Ende des Werkes mit jenem eindringlich verlöschenden Pianissimo-Gesang der Altgläubigen passte ins

Der promovierte Musikwissenschaftler Wolfgang Sandner war Produzent der Plattenfirma Wergo, bevor er 1981 zur »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« wechselte, für die er fast drei Jahrzehnte als Musikredakteur arbeitete.

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ÜBERSICHT

Pan ora ma Üblicherweise verfasst Albrecht Selge Romane und hört Musik. In der Rubrik »Panorama« begibt er sich nun auf eine phantastische Zeitreise zu den Orten, die in Kirill Petrenkos Biografie eine Rolle spielen. 52


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Dostojewski, eine schöne Fürstin, zwei Drinks und ein Wunderkind

Ein utopisches Quartett in einer utopischen Stadt

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Ein ertrunkener Knabe, ein gelangweilter Haifisch und erstes Opernmachen

Drei alte Herren staunen und freuen sich auf alte Damen

Omsk

Tel Aviv

Bregenz

München

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Wien Ludwig van B. und seine Unsterbliche Geliebte streifen durch Buchläden und Hotels

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Meiningen Hans von Bülow, ein herzöglicher Prinzipienreiter, lauter Bachs und ein Ring

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Berlin Herbert von Karajan, Bruno Ganz und zwei Bier auf der goldenen Schulter

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enn der ruhelose Fjodor Michailowitsch Dostojewski gelegentlich wieder in Omsk vorbeischaut, im fernen Sibirien am Zusammenfluss von Irtysch und Om, dann wundert er sich jedes Mal: so viel neues Russland dort, das längst auch schon altes Russland geworden ist! Er spaziert durch die Straßen und schaut sich die Mariä-Entschlafens-Kathedrale mit ihren goldenen und türkisen Türmchen an und die gigantische GazpromRaffinerie, das scheinbar aus Klein-Petersburg stammende Omsker Schauspielhaus und die verdieselte Traktorenfabrik Belarus. Und kehrt manchmal in die elegante Panorama-Bar in der Ulitsa Gagarina ein, um dort einen (rechtgläubig alkoholfreien) Drink zu nehmen. Bitterkalt – was auch sonst? – war’s im Januar 1850, als er zum ersten Mal in Omsk eintraf: keine dreißig damals und noch ohne den orthodoxen Rauschebart der späteren Jahre. Verhaftet wegen revolutionärer Verschwörung, durch eine Scheinhinrichtung traumatisiert und schließlich begnadigt zur Verbannung in die Katorga, ein sibirisches Straflager. Ach, ein elendes Kaff war Omsk damals, keine zwanzigtausend Einwoh-

ner, nicht mal ein Fünfzigstel der heutigen Stadt. Und dennoch nicht ohne Geist! Denn fünfundzwanzig Jahre vor Dostojewski waren bereits Hunderte hochgebildete adlige Offiziere nach Sibirien geschickt worden, die Dekabristen, die sich in Sankt Petersburg gegen die zaristische Autokratie erhoben hatten. Mit ihnen kam, paradox genug, westlich orientierte Kultur in die Steppe. Die Ideen der Dekabristen gingen in der Verbannung keineswegs unter, sondern lebten und wuchsen in der geschlossenen Gemeinschaft. Und manchmal trifft Dostojewski in der Panorama-Bar einen der Dekabristen, oder auch die aus Irkutsk herübergereiste Fürstin Maria Nikolajewna Wolkonskaja mit ihren hinreißenden schwarzen Korkenzieherlocken, die seinerzeit gegen den Widerstand der Familie ihrem Mann in die Verbannung folgte. Sie unterhalten sich dann über die »Botschaft nach Sibirien«, die Puschkin aus Hochachtung über ihren Entschluss dichtete, oder über die »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus«, die Dostojewski schrieb, als er nach vier Jahren aus Lesen Sie weiter in der Katorga entlassen wurde. Oder aber sie plaudern über die Absurditäten moderder aktuellendes Ausgabe nen Lebens. Über den sibirischen Eislauf etwa, einen "

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WIEN

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e ein Stück Sachertorte und eine Melange to go auf der Hand, treten Ludwig van Beethoven und seine Unsterbliche Geliebte auf die Straße hinaus. Nur einen flüchtigen Blick werfen sie auf die andere Straßenseite, zur Hinterseite der Wiener Staatsoper, bevor sie in die Kärntner Straße gehen. Die Staatsoper ist ja lang nach ihrer Zeit, das Hotel Sacher freilich auch, aber mit dem verbindet die beiden, ihn vor allem, noch etwas anderes als diese zu Tode gerühmte Torte (gegen die freilich gar nichts einzuwenden ist): nämlich dass hier einst das Kärntnertor-Theater stand, wo – ehe die Meyerbeers und Wagners und Verdis kamen – Rossinis Opern tutta Vienna den Kopf verdrehten. Aber eben auch der früher durchgefallene »Fidelio« bei seiner Wiederaufnahme große Erfolge feierte. Vor allem aber war da jener 7. Mai 1824. Das Konzert, in dem erstmals die Neunte erklang. Von »glänzendem, äußerst zahlreichem Auditorium« schrieb der Geiger Böhm, der mitspielte, und von »gespanntester Aufmerksamkeit«, von »enthusiastischem, rauschendem Beifall«. Ein gewisser Rosenbaum aber, Sekretär des Grafen Esterházy, schrieb in sein Tagebuch: »Schön, aber langweilig – nicht sehr voll.« Nun ja.

Beethovens Begleiterin aber, seine Unsterbliche Geliebte, geht auch wegen Anna Maria Sacher ganz gern in dieses Hotel, das auf dem Grundstück des (nach einer letzten Rossini-Aufführung!) abgerissenen Kärntnertor-Theaters entstand, hinter der neuen k.u.k. Hofoper: jener Anna Maria Sacher, die man nie ohne Zigarre und Französische Bulldoggen sah, ihre Sacher-Bullys, und die das Hotel als tatkräftige Witwe führte, auch wenn manch einer die Nase über die Emanze rümpfte. Und manchmal, wenn ihr die endlosen Spaziergänge mit Beethoven zu anstrengend werden, trinkt die Unsterbliche Geliebte mit Anna Maria Sacher ein feines Likörchen oder auch zwei. Denn anstrengend ist Beethoven ja immer noch, und auch seine Tischmanieren sind leider nicht besser geworden. Sachertorte im Gehen macht die Sache übrigens nicht leichter. In der Kärntner Straße preist Beethoven krümelnd und lauthals die Architekten Holzbauer und Windbrechtinger, Jahrein Lesendie Sie150 weiter nach der Uraufführung der »Neunten« die Autos hier rausder aktuellen Ausgabe schmissen. Seinerzeit aber holperten von hier die Stellwagen nach Baden ab, wo Beethoven oft die Sommer verbrachte "

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BERLIN

BERLIN D

en schönsten Blick über Berlin hat man doch immer noch von der Goldelse«, sagt Herbert von Karajan, als er sich, mit im Wind wehendem Haar, auf die Schulter der Viktoria setzt und dem vor sich hinsinnenden Bruno Ganz das mitgebrachte Wegbier reicht. »Niemand, lieber Karajan«, entgegnet Bruno Ganz, während er danknickend das Bier nimmt, »wirklich niemand in Berlin sagt ›Goldelse‹. So viele Jahre war ich Engel und bin nun seit einigen Monaten wieder Engel, und nicht ein einziges Mal habe ich einen Berliner ›Goldelse‹ sagen hören. Oder ›Schwangere Auster‹ oder ›Langer Lulatsch‹. Das steht nur in den Reiseführern.« »Tatsächlich?«, fragt Karajan. »Nicht mal ›Zirkus Karajani‹ sagen sie?« »Zirkus Karajani erst recht nicht«, sagt Ganz mit Nachdruck. Und sie blicken über die weiten grünen Wipfel des Tiergartens hinüber zum im Abendsonnenlicht glänzenden goldgezackten Dach der Philharmonie. Nehmen dabei einen Schluck. »Und Wegbier? Sagt man das etwa auch nicht?« »Glaube nicht. Höchstens wenn man es wirklich auf dem Weg zur Arbeit trinkt. Aber ›Fußpils‹ oder ›Faustmolle‹ schon

gar nicht. Doch nun mal im Ernst, lieber Karajan: Sie laufen mit einer Bierflasche in der Stadt herum?« »Na, wir sind in Berlin. Und man muss mit der Zeit gehen. Zum Beispiel mehr Frauen in die Orchester, an die Pulte, auf die Spielpläne. Habe ich das nicht schon immer gesagt?« »Haben Sie?« »Anderes Thema mal, lieber Ganz. Was halten Sie denn von diesem Umbau rund um die Philharmonie?« »Na, ich würde sagen: Es konnte nur besser werden als diese alte Parkplatzwüste. Und überhaupt verändern sich ja die Zeiten so sehr. Aber unser lieber Curt Bois, der geht immer noch östlich von der Philharmonie herum und sagt: ›Ich kann den Potsdamer Platz nicht finden‹. So wie er es im ›Himmel über Berlin‹ schon tat. Nur dass er damals den Potsdamer Platz in einer apokalyptischen Steppenlandschaft nicht fand und ihn jetzt zwischen Sony-Glas und Daimler-Terrakotta nicht findet. Apropos, wohin gehen Sie eigentlich, wenn nachin Lesen SieSie weiter einem Konzert in der Philharmonie noch was trinken wollen?« der aktuellen Ausgabe »Schwieriges Thema. Am besten ist wohl immer noch ein " Bier auf der Schulter der Gold… der Siegesgöttin.«

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ar nicht so einfach, in der Gegend um die Bayerische Staatsoper ein Lokal nach Gusto zu finden. Nicht etwa, weil es so wenige gäbe! Im Gegenteil. Aber Richard Strauss und Hermann Levi kommen nicht leicht überein, wohin, und wenn sich wie heute auch mal wieder der Felix Mottl dazugesellt, ja dann wird’s vollends haarig. In dieses Café dort mögen sie jedoch alle drei nicht rein. Denn da sitzt oft der verrückte König drin, und dass der arg anstrengend ist, darin sind sie sich einig. Wobei, dass der sich vor ein paar Jahren als Modeschöpfer mit Yorkshire Terrier reinkarnierte – Respekt, das kriegt nicht jeder Geist hin! Im Bierkeller nebenan hocken dagegen die Wagnerianer, und auch wenn die nicht mehr ganz so unausstehlich sind wie früher, lieber auch da nicht rein. Gibt sonst nur peinliche Situationen. Strauss könnte dann den Mottl wieder damit aufziehen, dass der keine jüdischen Sänger und Musiker bei den Bayreuther Festspielen haben wollte. »Narrisch war das, Felix, narrisch!« Aber natürlich wissen sie, dass narrisch viel zu harmlos gesagt ist. Und was das Reizthema Wagner angeht, hat Strauss

auch so seine Siegfriedferse. Als junger Mann bei Cosima Wagner über Levis jüdisches Dirigat des »Parsifal« beschwert … und hätte er bloß damals diesen saudepperten (auch das viel zu harmlos) »Protest der Richard-Wagner-Stadt München« nicht unterschrieben! Knappertsbusch hatte den angeleiert, ihr alter Kollege Kna, gegen Thomas Manns Essay »Leiden und Größe Richard Wagners«. Der, muss Strauss heute sagen, gar nicht uninteressant ist, wenn auch a bissl verstiegen. Gut übrigens, dass nicht auch noch Kna dabei ist oder gar Clemens Krauss, dann würde es kompliziert. Und so spazieren Strauss, Mottl und Levi einfach durch die Straßen rund um die Staatsoper. Gibt nichts Schöneres, als nachts durch München zu laufen. Da tratscht es sich unbeschwerter, als wenn man zusammenhockt. Auch Hermann Levi erzählt nun ein bisschen von Wagner, ganz entspannt. Dabei hätte Levi ja nun am meisten Grund zu mosern, als großer Wagner-Dirigent aus jahrhundertealter Rabbinerfamilie, des-in Lesen Sie weiter sen Ansehen man mit Füßen getreten hat. Und Mottl, der ja der aktuellen Ausgabe wohl weiß, dass er was gutzumachen hat, grantelt über den Freistaat Bayern, der Hermann Levis Grab in "

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Posts krip tum Das »PS« ist der Abschluss unseres Heftes. Wir erfahren, warum ­C hefdirigent kein alltäglicher Beruf ist, warum Josef Suk ein großartiger Komponist war und warum man mit Richard Wagners Lieblingstochter Isolde nicht tauschen möchte. 76


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Mythos Chefdirigent Wertzuwachs und Bedeutungs­wandel von Dirigent und Chefdirigent

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Von der Stille bis zum Epilog Das Phänomen Josef Suk

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Eine schrecklich nette Familie Im Sommer 1914 wurde Richard ­Wagners Lieblingstochter Isolde vom Grünen Hügel verstoßen. Die Folgen waren verheerend.

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MY THOS CHEFDIRIGENT

MYTHOS CHEFDIRIGENT

POSTSKRIPTUM

Wertzuwachs und ­B edeutungswandel von Dirigent und Chefdirigent Vo n W o l f g a n g S c h r e i b e r

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in Vergleich liegt auf der Hand, aber er klingt unstimmig. Anders als der Chefarzt, der Chefkoch oder der Chefredakteur, Führungspersonen (männliche wie weibliche) mit Weisungsbefugnis gegenüber Mitarbeitern, muss sich der Chefdirigent keineswegs als Vorgesetzter fühlen. Auch wenn die Geschichte der Dirigenten bisher ausreichend von Befehlshabern, Alleinherrschern, Autokraten oder gar Despoten bevölkert wurde. Der Chefdirigent – oder in letzter Zeit auch zunehmend die Chefdirigentin – ist der »künstlerische Leiter« eines Kollektivs, das an einer höchst diffizilen, nur in individuellen Versuchsphasen zu erreichenden Herstellung symphonischer Musik zu arbeiten hat. Er probiert, lenkt und koordiniert die Prozesse musikalischer Klangfindung und Sinnstiftung. Und wenn schon das »gewöhnliche« Dirigententum den Mythos vom Maestro heraufbeschworen hat, um wieviel mehr scheint der »Chefdirigent« im Olymp der mythischen Überhöhung zu leben. Die Bereitschaft, den Dirigenten, zugespitzt die herausgehobene Figur des Chefdirigenten, in den Bereich des »Mythos« zu versetzen, ihn in einen fast transzendenten Ausnahmerang zu befördern, der mehr im romantischen Geniekult als in der bürgerlichen Berufskultur wurzelt, lässt sich aus verschiedener Sicht nachvollziehen. Zum einen dürfte es die symphonische Übergröße einiger Komponisten sein, von Beethoven, Brahms und Bruckner bis hin zu Tschaikowsky, Mahler und Schostakowitsch, die dazu verführt, im Dirigenten der Werke auch deren Schöpfer zu feiern. Desweiteren haben die Dirigenten selbst – und ihre Dramaturgen, Propheten und Verwerter – viel dafür getan, dass die musikalische Führungsarbeit irrational verklärt, quasi metaphysisch aufgeladen werden kann. Zudem leistet die Bewunderung und Verehrung des Publikums jeder Art von Idealisierung Vorschub. Und wem die Geschichte des Dirigierens präsent ist, fokussiert in den großen Figuren von Wagner bis Furtwängler, von Toscanini bis Karajan, dem wird die heroische Erhebung zum Mythos fast selbstverständlich. KÖNNEN UND AUTORITÄT Die Berliner Philharmoniker, wie überhaupt die großen Symphonieorchester, ferner die Musiktheater, sie wurden das, was sie sind und was sie ihrer Bedeutung nach öffentlich bewirken, gewiss durch die Energie all ihrer Mitwirkenden, vor allem aber durch das Charisma ihrer Chefdirigenten. Chefdirigent eines Klangkörpers zu sein heißt: die künstlerische Verantwortung für einen musikalischen OrLesen Sie weiter in ganismus innezuhaben, aber auch dessen Wegstrecke aktuellen Ausgabe über einen längeren Zeitraum zuder gestalten. Das setzt eine " unmittelbare Nähe zu den Künstlern voraus,

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IMPRESSUM

Das Sonderheft »Kirill Petrenko – Chefdirigent

ISSN 2194-0694

2019« wird herausgegeben von der

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