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F. Elsensohn Von der Empirie zur Evidenz in der modernen alpinen Notfallmedizin –eine historische und kritische Betrachtung
from Jahrbuch 2011
by bigdetail
Fidel Elsensohn
Von der Empirie zur Evidenz in der modernen alpinen Notfallmedizin –eine historische und kritische Betrachtung
Modern Alpine Rescue Medicine from Empiric Aspects to Evidence Based Medicine – History and Critical Evaluation
SUMMARY
In the early seventies pre-hospital medical care started to establish recommendations and guidelines for on-site treatment of victims. A long process of change within mountain rescue services in Europe began. For decades, evacuation of injured mountaineers was the only and most important goal of every rescue operation not only for sport accidents but even more for catastrophic situations in the mountains. Soon clinical trials showed that early onset of high level treatment improved outcome and reduced recovery time not only in cardiac arrest but also in trauma patients. Though all pre-hospital treatment was mainly based on indoor standards and no preclinical studies have been available we reached the goal of higher survival rates. Implementation of recommendations and guidelines in modern mountain emergency medicine is essential and courses to reach higher standards in treatment of victims in the mountains should be mandatory for all physicians in mountain and air rescue organizations. We summarize the history of mountain emergency medicine, starting with the foundation of IKAR (International Commission for Alpine Rescue) and the structures of establishing recommendations by the medical commission of IKAR (ICAR MEDCOM). Keywords: mountain rescue, evidence based medicine, IKAR MEDCOM
ZUSAMMENFASSUNG
Evidenz basierte Empfehlungen und Richtlinien stellen für alpine Notärzte eine enorme Hilfe dar. Sie zu erstellen, hat sich die medizinische Kommission der IKAR (ICAR MEDCOM) zur Hauptaufgabe gemacht. Jede Richtlinie ist allerdings nur so gut, wie der Arzt, der sie anwendet. Ungünstige Umstände wie Wetter und Gelände erschweren die Umsetzung oft erheblich. Der alpine Notarzt sollte soweit wie möglich diesen folgen, aber dabei nie die eigene Sicherheit, sowie die des Patienten und der Kameraden aus den Augen verlieren. Der Imperativ liegt auf dem Notwendigen und Machbaren, nicht auf dem Möglichen. Um dies zu erlernen gibt es die Ausbildungsangebote der Berg-und Flugrettungsdienste. Für alle Ärzte in Bergrettungsdiensten und Flugrettungsärzte in alpinen Gegenden sollten diese Kurse ein verpflichtender Bestandteil der Ausbildung sein. Schlüsselwörter: Bergrettung, Evidenz basierte Medizin, ICAR MEDCOM
EINLEITUNG
Evidence Based Medicine (EBM) ist in der modernen Medizin das Maß aller Dinge geworden. Die Notfallmedizin wird nach Algorithmen ausgeführt wie viele andere medizinische Fächer auch. Noch vor wenigen Jahrzehnten sind wir Berg- und Flugrettungsärzte zu Einsätzen gerufen worden, für die wir keine anerkannten Behandlungsstrategien zur Hand hatten. Wir haben das gemacht, was wir im Krankenhaus erlernt hatten, allerdings mit keinen nennenswerten Geräten zur Überwachung der Patienten. Und oft genug sind wir in Situationen gekommen, die uns die Grenzen der damaligen Notfallmedizin aufgezeigt haben. Heute gibt es für die meisten Notfälle in den Bergen Empfehlungen, Richtlinien und Algorithmen, die nach wissenschaftlichen Kriterien erstellt sind. Trotzdem unterscheidet sich die Tätigkeit des alpinen Notarztes von derjenigen in urbanen Gebieten. Er muss seine Behandlungsstrategie den Gegebenheiten des Geländes und des Wetters anpassen und nie die eigene Sicherheit und die des Patienten und der Kameraden aus den Augen verlieren.
GESCHICHTE
Die erste Bergrettung Österreichs, wenn nicht vielleicht überhaupt in den Alpen entstand anfangs des letzten Jahrhunderts in Wien. Bergsport war zu jener Zeit überwiegend ein Sport der Begüterten, die nicht jeden Tag mit dem Kampf ums Dasein beschäftigt waren. Bergsteigerkollegen organisierten Rettungstrupps um ihre verunglückten Kameraden zu bergen, was oft gleichbedeutend mit einer Totbergung war. Die damalige Kletter- und Eistechnik ist aus heutiger
Sicht eher als fahrlässig zu betrachten und der „Heldentod“ nach einem Kampf gegen den Berg wurde nicht zuletzt auch durch den Nationalsozialismus zu einem völkischen Ereignis hochstilisiert. Die Retter, die sich meist unter ebenso gefährlichen Bedingungen an die Bergung machten, versuchten, trotz einer kaum nennenswerten technischen Rettungsausrüstung und einer nach heutigen Maßstäben rudimentären medizinischen Versorgung, ihre Kollegen lebend ins Tal zu bringen. In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann der enorme wissenschaftliche Aufschwung der präklinischen Notfallmedizin und mit ihm ein Paradigmenwechsel. Nicht die Bergung allein stand mehr im Vordergrund, sondern das Überleben der Patienten. Es zeigte sich, dass eine möglichst frühe und optimale Therapie am Unfallort nicht nur das Überleben der Patienten garantieren konnte, sondern dass auch die Folgeschäden und die Rekonvaleszenz deutlich vermindert wurden. Der Bedarf an standardisierten Behandlungsstrategien war da, aber es gab keine nach wissenschaftlichen Kriterien erstellten Studien für eine Notfallmedizin in den Bergen. Wir versuchten den Patienten so gut es ging am Leben zu erhalten. Viele Infusionen ohne Kenntnisse der wirklich notwendigen Menge („viel hilft viel“), intubieren, wenn der Patient
nicht mehr richtig atmet, waren die entscheidenden Behandlungsstrategien. Rudimentäre Monitoringsysteme (keine Temperaturmessung, keine Pulsoxymetrie und Kapnometrie) machten jede Anwendung von starken Analgetika und Narkotika zu einem Hochseilakt für Patient und Arzt. Die alpine Notfallmedizin war „eminence based“. Zudem war der Notarzt an der Unfallstelle in den Bergen immer noch eher die Ausnahme als die Regel. Notärztlicher Erfahrungsaustausch im deutschsprachigen Raum bot allein die von Prof. Gerhard Flora organisierte Innsbrucker Bergrettungsärztetagung und ihre Kongressbände.
IKAR (INTERNATIONALE KOMMISSION FÜR ALPINES RETTUNGSWESEN)
Im Jahr 1948 trafen sich Vertreter von Bergrettungsorganisationen aus Österreich, Deutschland, der Schweiz und Frankreich zu einer gemeinsamen Tagung in Obergurgl. Mit dabei auch ein Arzt aus der Schweiz, Dr. Rudi Campell aus Pontresina. Es wurden verschiedene Rettungsgeräte demonstriert und immer noch ging es in erster Linie um die Bergung aus Felswänden und den möglichst raschen Abtransport. Ein kurzer Film über dieses Treffen ist eines der wenigen Zeugnisse aus dieser Ära der Bergrettung. Die weiteren Jahre liegen einigermaßen im Dunkeln und erst in den Siebziger-Jahren des letzten Jahrhunderts nahm der Gedanke einer internationalen intensiven Zusammenarbeit der Rettungsorganisationen Fahrt auf. Die IKAR traf sich nun jährlich, es wurden Subkommissionen gegründet und mit dabei auch eine medizinische Kommission. Entsendungen in diese Kommission waren Ehrensache für verdiente und aktive Bergrettungsärzte, wenn auch manches für heutige Verhältnisse unorganisiert und eher einem kameradschaftlichen Gedankenaustausch näher kam.
ICAR MEDCOM (INTERNATIONAL COMMISSION FOR MOUNTAIN EMERGENCY MEDICINE)
Mit der Betrauung von Dr. Urs Wiget 1995 als Kommissionspräsident entwickelte sich die Diskussionsrunde zu einer an konkreten Empfehlungen arbeitenden Kommission in der gesamten IKAR. Wie zufällig trotzdem die ganze Sache war, zeigt sich daran, dass ich in diesem Jahr als lokaler Bergrettungsarzt überhaupt von der IKAR erfahren habe und zur Tagung nach Windischgarsten gefahren bin. Erstaunlicherweise war ich der einzige österreichische
Arzt am Ort und der damalige Präsident des ÖBRD, Oskar Vonier, ernannte mich kurzerhand zum zukünftigen Delegierten. Die Überzeugung von Urs Wiget war, dass die wesentlichste Aufgabe der ICAR MEDCOM darin besteht, das gesammelte Wissen in Empfehlungen für Bergrettungsärzte zu gießen. Damals wie heute sind ein Großteil dieser Ärzte Allgemeinmediziner in ländlichen Gegenden, die zu Einsätzen gerufen werden, bei denen sie oft an die medizinischen Leistungsgrenzen stoßen. Die ausgearbeiteten Empfehlungen sollten in die jeweilige Landessprache übersetzt werden und mangels Internet über die internen Verteilungswege an die Kollegen gebracht werden. Das Echo war gering. In den neunziger Jahren wurde begonnen, auch alpinmedizinische Themen in peer reviewed journals nach wissenschaftlichen Kriterien zu veröffentlichen. Der „break through“ war die Arbeit von Hermann Brugger und Markus Falk über die Überlebenswahrscheinlichkeit von ganzverschütteten Lawinenopfern. Sie war die erste nach wissenschaftlichen Kriterien erstellte Arbeit und sollte fortan die Strategie bei Lawinenunfällen grundlegend verändern (Falk M., Brugger H., Adler-Kastner L. Avalanche survival chances. Nature1994;368:21) Der Impact auf die alpine Notfallmedizin war so entscheidend, dass die Arbeit in Nature veröffentlicht wurde. In weiterer Folge wurde eine ganze Reihe wissenschaftlicher Artikel zum Management von Lawinenopfern in international hoch anerkannten Journalen publiziert.

Im Jahr 2002 wurden die bis dahin erarbeiteten Empfehlungen und Guidelines in Buchform zusammen mit den Empfehlungen der UIAA Medcom herausgegeben (Consensus Guidelines in Mountain Emergency Medicine and Risk Reduction. Casa Editrice Stefanoni, Lecco). Seither sind alle Empfehlungen der ICAR MEDCOM in wissenschaftlichen Journalen erschienen.
Bisher publizierte Empfehlungen der ICAR MEDCOM:
2002 Field Management of Avalanche Victims 2003 On-Site Treatment of Hypothermia The Rational Use of Helicopters in Mountain Rescue 2005 The Use of Automated External Defibrillators in Mountain Rescue Survey of Medical Emergency Services in the Mountains in Europe and North America Lightning Injuries: Prevention and On-Site Treatment 2006 DVD: Time is Life 2007 Avalanche Rescue Devices BLS Ventilation in Mountain Rescue Venomous Snakebites in the Mountains: Prevention and Treatment 2008 The Use of Extrication Devices in Crevasse Accidents 2009 Current Status of Medical Training in Mountain Rescue Fluid Management of Traumatic Shock Eye Problems in Mountain Rescue Immobilization and Splinting in Mountain Rescue 2010 Medical Backpacks in Mountain Rescue 2011 Medical Standards for Mountain Rescue Operations Using Helicopters
Fertige Empfehlungen in Publikation
Assessment of Casualties in the Mountains Termination of Cardiopulmonary Resuscitation in Mountain Rescue Management of Avalanche Victims
Als große Anerkennung der wissenschaftlichen Arbeit der Kommission ist die Implementierung der Guidelines für die Behandlung von Lawinenopfern in die ILCOR Guidelines 2010. Hermann Brugger und Jeff Boyd haben hier großartige Arbeit geleistet.
Daneben ist eine große Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten unserer Kommissionsmitglieder in verschiedenen Fachzeitschriften erschienen. Seit 2009 verfügt die Alpine Notfallmedizin mit dem Institut an der EURAC in Bozen auch über ein universitäres Institut, das sich ausschließlich mit spezifischen Fragen auf diesem Gebiet beschäftigt. Die Empfehlungen der ICAR MEDCOM werden von einem Autorenteam unter der Führung eines Erstautors als Entwurf erstellt und auf der Frühjahrstagung erstmals präsentiert. Dabei wird nach dem Prinzip der PICO Questions (Patient/Population, Intervention/Indicator, Comparator/ Control, Outcome) vorgegangen und für diese Fragen ein Konsens in Übereinstimmung mit der vorhandenen Literatur gesucht. Die Autorengruppe formuliert den Inhalt und stellt sie im Diskussionsforum im Internet zur Diskussion. Auf der Jahrestagung der IKAR im Herbst wird im Plenum das gesamte Papier besprochen und beschlossen. Seit einigen Jahren sieht die ICAR MEDCOM auch eine Aufgabe in der Ausbildung von Notärzten in Ländern, die versuchen, eine notärztliche Versorgung in Gebirgsregionen aufzubauen. Der Erste Kurs fand 2005 in Patagonien statt. 2009 wurde ein weiterer Kurs in Nepal und 2010 in Peru durchgeführt. Es ist sehr erfreulich zu sehen, mit welchem Enthusiasmus Ärzte und Paramedics in diesen Ländern versuchen, Basiswissen in alpiner Notfallmedizin zu erlernen. Das Ziel besteht nicht nur darin, Bergsteigern die Segnungen moderner Medizin zukommen zu lassen, sondern überwiegend auch, die Lage der eigenen Bevölkerung in entlegenen Gebieten zu verbessern.

UMSETZUNG EVIDENZ BASIERTER RICHTLINIEN IN DIE TÄGLICHE PRAXIS DER ALPINEN NOTFALLMEDIZIN
Die Erstellung von Empfehlungen und Richtlinien sind eine Sache, die Implementierung in die tägliche Arbeit ein andere. Eine kürzlich erstellte Studie an der Universität Innsbruck zeigt, dass trotz klarer Triagekriterien für ganzverschüttete Lawinenopfer diese in den letzten Jahren vielfach nicht angewandt worden sind. Das Wissen muss in der Ausbildung von alpinen Notärzten immer wieder vertieft werden. Hier setzen die Diplome in Mountain Medicine und Mountain Emergency Medicine an. Zusammen mit der medizinischen Kommission der UIAA (International Climbing Federation und der ISMM (International Society for Mountain Medicine) hat die ICAR MEDCOM Kurrikula für beide Diplome ausgearbeitet. In vielen Ländern des Alpenraumes, aber auch in Großbritannien, Nordamerika und heuer erstmals in Nepal werden Kurse in Gebirgsmedizin angeboten. Eine der ersten und sicherlich die erfolgreichsten sind die Alpinärztekurse der ÖGAHM mit bisher weit über 4000 Teilnehmern. Ein deutlich geringeres Kursangebot gibt es für Kurse in Mountain Emergency Medicine. Aber gerade diese wären für viele Berg- und Flugrettungsärzte von enormer Wichtigkeit. Notärzte in den Bergen arbeiten in einer herausfordernden Umwelt und un-
Gruppenbild Nepal 2009

ter weit schwereren Bedingungen als in urbanen Gebieten. Wind und Wetter stellen sie vor Entscheidungen, die oft nur schwer in Einklang mit den Richtlinien zu bringen sind. Der typische Bergrettungseinsatz spielt sich meisten in der Nacht oder bei schlechten Wetterbedingungen ab. Der alpine Notarzt muss seine Tätigkeit in der Gesamtheit des Einsatzes sehen. Er ist nicht nur für die Sicherheit des Patienten verantwortlich, sondern auch zusammen mit dem Einsatzleiter für die seiner Kameraden. Die Kunst des Arztes besteht darin, nicht die maximale sondern die optimale Therapie durchzuführen. Ein Arzt, der in der Abarbeitung von Algorithmen und Befolgung von Richtlinien seine Hauptaufgabe sieht, kann zu einer großen Gefahr für alle werden. Das unbedingt Notwendige und Machbare steht deutlich vor dem Möglichen, denn die Zeit spielt bei vielen Unfällen eine entscheidende Rolle. Ebenso deutlich muss der Arzt werden, wenn Lebensgefahr für die anderen Helfer nicht unbedingt ersichtlich ist. In diesen Fällen muss er Führungsqualität beweisen und seine Kompetenz klar unter Beweis stellen.
Links: www.alpinmedizin.org www.ikar-cisa.org www.bergrettung.at www.eurac.edu