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Störenfried und Stadtflaneur

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Das dunkle Volk

Das dunkle Volk

Der Waschbär – ursprünglich Nordamerikaner – fühlt sich in Europa pudelwohl. Mancherorts geht der drollige Kleinbär bedrohten Arten an den Kragen. Ihn auszurotten ist allerdings ein aussichtsloser Kampf. Stör enfri ed un d Stadtflaneur

» J e roter, desto dichter ist ein Gebiet besiedelt«, erklärt Ulf Hohmann. Deutschland, vor allem von Hessen aufwärts und der einstige Osten, ist dunkelrot gefärbt. Hier ist das Hoheitsgebiet des Waschbären, der Stammsitz seiner europäischen Population. Bis halb Polen hinein und hinauf nach Dänemark wird es etwas lichter. In den Niederlanden, Belgien und Tschechien hat er sich beinahe flächendeckend breitgemacht. Schweden blieb, geografisch getrennt, bislang verschont. Dafür taucht er in Ungarn und Rumänien immer öfter auf. Österreich markiert derzeit seinen südlichsten Verbreitungsrand. Und nach Luxemburg und Frankreich frisst er sich von Rheinland-Pfalz kommend vor. Hier, an der Forschungsanstalt für Waldökologie und Forstwirtschaft in Trippstadt, einem Luftkurort im Herzen des Pfälzerwaldes, trägt Hohmann gerade alle Daten über verlässliche Waschbärvorkommen zusammen. Noch ist die Karte unvollständig. Der tiefrote Fleck mitten in Frankreich, erklärt der Verhaltensforscher, verweist auf einen Stützpunkt der US Air Force. »Dort haben Soldaten in den 60er-Jahren Waschbären freigelassen. Bei den Punkten in Spanien vermutet man, dass sie ihren Ursprung von handzahmen Waschbären haben, die sich dann verbreitet haben.«

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Wenn sie fertig ist, wird die Karte im »Handbook of Mammals of Europe« publiziert, dem umfassenden Referenzwerk über die Säugetiere Europas, das spätestens 2021 erscheinen soll. Gemeinsam mit KollegInnen steuert Hohmann das Kapitel über Procyon lotor bei. Ulf Hohmann gilt als der europäische Experte für den Waschbären und der Waschbär mittlerweile als europäische Art. Zumindest aus zoologischer

Text Thomas Weber

2021

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Gestern, heute, morgen: Binnen weniger Jahrzehnte wurde – und wird –Deutschland zum Waschbärland. (Quelle/Prognosen: Wild & Hund/Uni Trier)

Sicht. In Brüssel sieht man das anders. Denn die Europäische Kommission schätzt den nordamerikanischen Kleinbären – als eine von insgesamt 66 Tier- und Pflanzenarten – als »invasive Spezies« ein. Diese soll im großen Stil bekämpft werden, weil sie sich massiv ausbreitet und alteingesessenen Arten den Lebensraum streitig macht. Ziel wäre die Ausrottung.

Vom nützl ichen Tierchen zum »Faunenverfäl scher« Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen. In den Roaring Twenties –also vor hundert Jahren – trug man in europäischen Studentenkreisen Mäntel aus Raccoon. Auch Colliers aus Waschbärpelz waren in Mode und das aus Übersee importierte Fell sündhaft teuer. Um es künftig selbst verfügbar zu haben, holte man sich vom Preußischen Landesjagdamt in Berlin die offizielle Erlaubnis und setzte am 12. April 1934 einige Tiere in Nordhessen aus. Auch in Brandenburg, im Harz und in Sachsen wurden einige Bären angesiedelt. An dem »harmlosen, wenn nicht sogar durch die Vertilgung von Insektenlarven und Mäusen nützlichen Tierchen« – so ein Zeitungsartikel aus dem November 1934 – verlor man allerdings rasch das Interesse, als sein Pelz aus der Mode kam und die Preise dafür verfielen. Bis sich in den 1950er-Jahren die Meinung durchsetzte, der Waschbär würde als »Faunenverfälscher« die heimische Tierwelt bedrohen. 1954 begann man ihn in Hessen massiv zu bejagen – mit dem klaren Ziel, ihn wieder ganz auszurotten. Den Misserfolg dieses Unterfangens zeigt Ulf Hohmanns Karte in eindrucksvollen Farbverläufen von Tiefrot über Orange bis Blassgelb.

Heute hat die ursprünglich gebietsfremde Art auch nach bundesdeutschem Recht den Status einer »heimischen Art«. Anfangs drang der ausgesprochen ortstreue Waschbär auffällig langsam in neue Gebiete vor. Doch seit der Jahrtausendwende ging alles plötzlich sehr rasant. Das belegen auch die Abschusszahlen des Deutschen Jagdverbands. Während in Bayern noch 2008 gerade einmal 371 Tiere erlegt wurden, waren es zehn Jahre später plötzlich schon 2581. Und der Freistaat ist in Hohmanns Karte noch weitgehend gelb gehalten. Was diese Explosion auslöste, beschäftigt die Forschung. Man vermutet, dass dafür eine genetische Frischzellenkur verantwortlich ist, die durch das Verschmelzen ehemals getrennter Populationen zustande kam. Beleg dafür, dass die Jagd den Waschbären unter Kontrolle hat, sind die steigenden Abschusszahlen aber keiner. »Eher im Gegenteil«, sagt Ulf Hohmann, »diese Zahlen zeigen nur, dass er sich überall ausbreitet und immer höhere Populationsdichten erreicht.« Wie viele Tiere es insgesamt gibt? Aus kleinen, überschaubaren Gebieten weiß man, dass JägerInnen maximal fünf bis zehn Prozent des Bestands erwischen. Bundesweit könne man in Deutschland also vielleicht sogar mit zwei Millionen Waschbären rechnen.

Guter Sc hwimmer, geschick ter Kletterer Die Tiere mögen wärmeliebend sein und baumlose Gegenden meiden, besonders wählerisch sind sie nicht, was ihren Lebensraum angeht. Das belegte 2016 auch eine paneuropäische Studie, die zeigte, dass ausgedehnte Waldgebiete und ein hoher Anteil landwirtschaftlicher Flächen eine Ausbreitung des Kleinbären fördern. »Im Feld dürften vor allem Maisfelder eine wichtige Rolle spielen, da diese sowohl Deckung als auch Nahrung für die Allesfresser bieten«, berichteten Mike Heddergott vom Luxemburger Museum für Naturkunde und Johannes Lang, Biologe an der Universität Gießen, in der Zeitschrift »Wild & Hund«. Am schnellsten dringt der gute Schwimmer und geschickte Kletterer über Flussläufe in neue Gebiete vor. Besonders profitiert das urbanophile Tier von Städten. Dort gibt es Populationsdichten von mehr als 100 Tieren pro 100 Hektar. Allein für Berlin mit seinem Stadtgebiet von 891,8 Quadratkilometern wären das – theoretisch – bis zu 90.000 Waschbären. Das sind Dichten, die von keinem vergleichbaren Wildtier erreicht werden. In Österreich, wo der erste Kleinbär bereits 1974 im Bundesland Salzburg nachgewiesen wurde, definierte 2017 eine Studie Städte wie Wien, Salzburg, Linz, Wels und Graz als »future hotspots« der Bäreninvasion.

Metall manschette fü r die Dachrinne Gefahr für den Menschen geht vom Waschbären keine aus. Tollwut ist in unseren Breiten ausgerottet, Wirtstier für den gefährlichen Fuchsbandwurm ist er keines und die Angst vor seinem Spulwurm, der den Mensch als Fehlzwischenwirt befallen kann, ist übertrieben. In ganz Deutschland gibt es dafür bislang

Im urbanen Raum könnte der Waschbär als invasive Art – undenkbar in Europa, gängige Praxis im neuseeländischen Naturschutz beim Zurückdrängen eingeschleppter Säugetiere –nur mit Giftködern bekämpft werden.

zwei dokumentierte Fälle – bei Menschen, die auf engstem Raum mit handaufgezogenen Waschbären zusammenlebten. Ein Störenfried bleibt er, zumal wenn er in Städten gefüttert wird. »Es ist ein großes Missverständnis, dass viele Menschen glauben, das arme Wildtier würde in der Stadt kein Futter finden und müsse deshalb gefüttert werden«, sagt Ulf Hohmann. »Denn die Vororte und Städte sind ein ideales Habitat. Er findet überall Futter und auf dem kahlgeschorenen Rasen kommt er ideal an Regenwürmer heran.« Kein Hindernis, das nicht von ihm überklettert werden könnte. Er zerstört Dachisolierungen, durchwühlt Mülltonnen und Komposthaufen, plündert Obstbäume und den Napf von Hund und Katz. Am ehesten könne ein Waschbär noch durch einen Hund, der auch nachts draußen bleibt, aus dem Garten ferngehalten werden. Für Dachrinnen und Fallrohre, für Obstbäume und Bäume, auf denen Vögel brüten, empfiehlt er eine Metallmanschette von einem Meter Länge, damit sie nicht umgriffen und überklettert werden können. Katzenklappen gehörten nachts verschlossen, sonst dringt das nachtaktive Tier sogar in Häuser ein. Wirkliche Feinde hat der Waschbär auch draußen im Wald und auf weiter Flur keine. Zumindest keine, die sich maßgeblich auf seine Population auswirken würden. Zwar gibt es aus Deutschland mittlerweile Aufnahmen aus Fotofallen, in denen ein Wolf mit einem erbeuteten Waschbären im Maul durchs Bild spaziert. Doch in keiner der 868 von der Uni Senckenberg gesammelten Kotproben von Wolfslosung, die sich Ulf Hohmann eigens auswerten ließ, fanden sich Spuren von Waschbär-dna. »Der Wolf spielt für den Waschbären also keine relevante Rolle. Dasselbe gilt für Puma oder Alligator in den usa. Im Gegensatz zu intensiver Bejagung haben sie keine Auswirkungen auf die Population.«

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In freier Wildbahn wird der Waschbär 10 bis 15 Jahre alt. Weibchen sind mit einem Jahr fortpflanzungsfähig, Männchen ab ihrem zweiten Lebensjahr.

Bei Nordamerikas Indigenen hat es lange Tradition, nicht nur das Fell, sondern auch das Fleisch des Raccoons zu verwerten. Einen Überblick, wie der Waschbär von unterschiedlichen Stämmen gejagt und gegessen wurde (und wird), findet man unter traditionalanimalfoods.org. Als Allesfresser müsste ein erlegter Waschbär jedenfalls vor dem Verzehr auf Trichinenbefall beschaut werden.

Dass der Maskenträger noch intensiver bejagt werden soll – mit Fallen und künftig vielleicht auch mit Nachtsichtgeräten –, darüber herrscht weitgehende Einigkeit. Denn sowohl mit der Landwirtschaft als auch mit dem Naturschutz gibt es Konfliktpotenzial. Waschbären haben eine ausgesprochene Vorliebe für Kirschen, Pflaumen und Weintrauben. Auch auf Maisäckern schlagen sie zu. »Häufig kommt an solchen reichhaltigen Nahrungsquellen der gesamte Sozialverband der lokalen Waschbärenpopulation zusammen, sodass einzelne Obstbäume innerhalb weniger Nächte abgeerntet werden können«, heißt es in einer bereits 2012 erschienenen Metastudie.

Sargnagel fü r bedrohte Arten Warum ihm die EU-Behörden, fast 90 Jahre nachdem er in Europa angesiedelt wurde, wieder an den Pelz wollen, liegt allerdings an seiner ökologischen Bedeutung. Zwar ist sich die Forschung mittlerweile weitgehend einig, dass gebietsfremde Arten in Mitteleuropa »aufgrund der relativen Artenarmut im Zuge der postglazialen Besiedlungsgeschichte weit weniger an der Gefährdung der einheimischen Artenvielfalt beteiligt sind als anderswo auf der Welt«. Dass die Anwesenheit des Waschbären in manchen Gegenden auf Kosten gefährdeter Arten geht, ist allerdings offensichtlich. »Kleinräumig kann er desaströse Effekte haben«, bestätigt Ulf Hohmann.

Meist sei der Waschbär zwar bloß der Buhmann, der aufzeige, dass etwas seit Längerem im Argen liege – etwa wenn Waschbären Uhus die letzten verbliebenen alten Bäume als Un

»Als gebietsfremde, invasive Art sollte der Waschbär in Österreich intensiv bejagt werden.« — Klaus Hackländer, Institut für Wildbiologie und Jagdwirtschaft, boku Wien

terkünfte streitig machen, wenn sie die Gelege bedrohter baumbrütender Vögel plündern oder wenn sie die Eier der stark gefährdeten Europäischen Sumpfschildkröte ausbuddeln. Das ändere allerdings nichts daran, dass das Auftauchen des Waschbären der letzte Sargnagel für diese Arten sein könne. »Das Ziel muss sein, weitere ökologische und ökonomische Schäden zu verringern und die fortschreitende Ausbreitung zu verlangsamen«, meint deshalb Klaus Hackländer vom Wiener boku-Institut für Wildbiologie und Jagdwirtschaft und fordert, der Waschbär solle in Österreich »als gebietsfremde, invasive Art intensiv bejagt werden«.

Dass diese Strategie zum gewünschten Erfolg führt, dafür gibt es allerdings keine Garantien. »Ich kann mit gutem Gewissen sagen«, sagt Ulf Hohmann, »eine flächendeckende Bejagung des Waschbären mit dem Ziel, ihn zu managen, ist nicht möglich.« Kleinräumig, um Vogelschutzgebiete oder Amphibienlaichplätze zu schützen, wäre die Jagd auf den Kleinbären aber jedenfalls notwendig – »sonst frisst uns der Waschbär die letzten europäischen Schutzgebiete.«

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