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Der Whale Watcher
»WENN DU AN BORD GEHST, ÄNDERT SICH IM IDEALFALL DEIN BLICK AUF DIE WELT«
Während einer Kanada-Reise vor 10 Jahren checkte sich Oliver Dirr zum ersten Mal auf einem Whale-Watching-Boot ein. Daraus wurde eine Leidenschaft.
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INTERVIEW Thomas Stollenwerk
Wie Kameras auf Island die Harpunen ersetzten, wo man Wale von Land aus beobachten kann und wie ein Gartenhaus in den Magen eines Pottwals gelangt – das alles kann man darin nachlesen. Doch einige Fragen rund um die Meeressäuger müssen auch im Buch des Münchners unbeantwortet bleiben. Denn viele faszinierende Rätsel rund um den Wal sind noch ungelöst.
BIORAMA: Seit 10 Jahren machen Sie Whale Watching. In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass Sie dabei immer wieder Leute treffen, die ebenfalls schon verdammt oft Wale beobachtet haben. Macht das süchtig?
OLIVER DIRR: Ja, offensichtlich. Dabei hat sich mein erstes Whale Watching während einer Kanada-Reise einfach ergeben. Es hieß dort, die Pazifikküste sei der beste Ort, um Orcas zu sehen. Also buchten meine Frau und ich eine Tour. Ich wusste wenig über Wale und dachte mir: Danach kann ich den Punkt Whale Watching von meiner Bucket List streichen. Danach hat sich die Sache dann schleichend entwickelt. Wir waren immer wieder Wale beobachten – erst eher, weil es sich auf Reisen ergab. Irgendwann sind wir zum Whale Watching gereist.
Gibt’s EinsteigerInnentouren und Whale Watching für Fortgeschrittene?
Man kann so eine Tour nicht planen, jede ist anders. Als wir gerne Pottwale sehen wollten, fanden wir einen Anbieter, der schrieb von einer Sichtungswahrscheinlichkeit von 17 Prozent. Ich dachte mir: Dann fahren wir halt sechs Mal raus, dann sehen wir sicher einen Wal. Aber man muss auch in Kauf nehmen, keinen Wal zu sehen. Aber natürlich werden die Touren interessanter, je mehr man sich einliest.
Gibt es Orte, an denen die Wahrscheinlichkeit, Wale zu sehen, besonders hoch ist?
Ja klar. Es gibt Orte mit einer Wahrscheinlichkeit von annähernd 100 Prozent – je nach Jahreszeit. Da geht es dann eher darum, ob das Wetter gut genug ist, um rausfahren zu können.
Wo kann ich als MitteleuropäerIn hinreisen, um möglichst einfach Wale zu sehen?
An die Nordsee. Da kann man vom Strand aus Schweinswale sehen, zum Beispiel auf Sylt. Man braucht nur Glück und Geduld. Man kann auch wunderbar klimaschonend, ohne zu fliegen, nach Norwegen fahren – auch ein guter Ort, um Wale zu sehen.
Gibt es gutes und schlechtes Whale Watching?
Es gibt Hotspots, an denen es viel zu voll ist. Dort sieht man mehr Boote als Wale. Man sollte zunächst einmal überlegen, ob es nötig ist, sich den Tieren mit einem Boot zu nähern. Es gibt mittlerweile gute Whale Trails, auf denen man wandernd Wale sehen kann. Zum Beispiel auf den schottischen Hebriden. Oft braucht man natürlich ein Boot. Gute Anbieter haben oft ein Museum an Land, in dem man sich über die Tiere informieren kann, bevor man ins Boot steigt. Ich finde es wichtig, dass es an Bord jemanden gibt, der erklären kann, was man sieht. Das Ziel sollte sein, den Menschen die Wale zu erklären, die sie gerade sehen, das Meer, in dem die Tiere leben, welche Probleme das Meer gerade hat und was die Menschen tun können, damit es nicht schlechter wird. Wenn das passiert, ist es eine gute Tour.
Kann man als Whale Watcher auch etwas falsch machen?
Man darf das nicht als Zoobesuch betrachten und auch nicht als bloßes Sightseeing. Es gibt ein Instagram-Video von einem kleinen Jungen, der ein Selfie macht, während hinter ihm ein Buckelwal springt. Man will ihm zurufen: »Dreh dich um und guck dir den Wal an! Hör auf, dich zu fotografieren, während hinter dir ein Wal springt! Das ist auf allen Ebenen falsch!« Wenn du an Bord gehst, weil du etwas lernen willst, dann ändert sich im Idealfall dein Blick auf die Welt.
— Oliver Dirr
Oliver Dirr
gibt auf whaletrips.org Wal-Fans Tipps und hat mit »Walfahrt« sein erstes Buch veröffentlicht. Er lebt mit seiner Familie in München und im Allgäu.
Man liest immer wieder auch von Citizen-Science-Projekten, bei denen man Wale im Dienste der Wissenschaft beobachten kann.
Ja. Das gibt es zum Beispiel auf den Shetlands. Dabei geht’s meistens darum, Fotos zu machen,
— Oliver Dirr
»WALFAHRT – ÜBER DEN WAL, DIE WELT UND DAS
STAUNEN« von Oliver Dirr; Ullstein, 2022. um Wale anhand ihrer Fluken und Finnen zu identifizieren. Anhand der Fotos lässt sich sehr gut feststellen, wie groß eine Population ist, wie sie sich verändert, wie sie sich bewegt und so weiter. Mittlerweile machen allerdings so viele Menschen Fotos von Walen, dass die Forschenden Probleme haben, mit den Mengen umzugehen.
Die Fotosafari ersetzt in manchen Gegenden inzwischen die Großwildjagd. Sind WalbeobachterInnen die WalfängerInnen von heute?
Ich denke schon. Und das ging relativ schnell. Es ist noch keine zwei Generationen her, dass man überall auf den Meeren Wale gejagt hat. Island ist heute so ziemlich der beste Ort, um Wale zu sehen. Es gibt viele Anbieter und einige davon sind richtig gut. Die geben sich Mühe, den Leuten mehr als einen kommerziellen Zoobesuch auf dem Meer zu bieten. Das ist wirklich toll. Natürlich gibt es dort seit langer Zeit die Forderung, den Walfang zu verbieten. Allerdings wollten sich die IsländerInnen da nicht hineinreden lassen – genau so wenig wie die JapanerInnen oder die Leute auf den Färöer-Inseln.
Es heißt, die Menschen dort würden Walfang als Teil ihrer Kultur betrachten. Ist da etwas dran?
Je mehr du die Menschen dort aufforderst, keine Wale zu töten, desto mehr übersteigern sie aus Trotz den Walfang als Kulturerbe. Das war in Island auch so. Als die Organisation Sea Shepherd 1986 im Hafen von Reykjavík Walfang-Trawler versenkt hat, sorgte das in der Bevölkerung für eine Stimmung pro Walfang. Die wollten sich einfach nicht von außen reinreden lassen. Doch dann ist etwas Spannendes passiert. Erich Hoyt, ein Walforscher, ist nach Island gefahren und hat einen Workshop gemacht. Der hat den isländischen Fischern erklärt: Ihr habt die besten Wale, die tollsten Fjorde, stabiles Wetter. Ihr könntet jeden Tag mit zahlenden Gästen rausfahren, die Wale sehen wollen. Einige fanden das damals völlig absurd. Aber am nächsten Tag ist schon das erste Boot rausgefahren. Daraus sind bis heute zig Whale Watching Companies entstanden, weil die Leute verstanden haben, dass man von lebendigen Walen besser leben kann als von toten. Es gibt in Island heute noch einen Walfänger, der aus Prinzip weitermacht. Aber das wird enden. Dass Menschen Geld zahlen, um Arten zu sehen, ist der beste Weg, sie zu erhalten.
Welche Walgattung fasziniert Sie besonders?
Pottwale. Das sind die, die man aus Moby Dick kennt. Das größte Raubtier, das es je gab. Auch ein Tyrannosaurus rex war kleiner. Früher hatten Seefahrer Angst vor ihnen. Pottwale haben Walfangboote versenkt, können Kilometer tief tauchen und mehrere Stunden die Luft anhalten. Wahnsinn. Aber wirklich genau weiß man wenig, denn es war ja in der Tiefe noch kein Mensch dabei. Was man weiß: Pottwale jagen Riesenkalmare. Wer früher Angst vor Pottwalen hatte, hatte noch mehr Angst vor Riesenkalmaren. Man stellt sich diese Jagd in der Tiefe als das epischste Duell überhaupt vor. Aber es ist sehr gut möglich, dass die gar nicht wirklich kämpfen. Denn Pottwale haben in ihrem Kopf ein Sonar, das so groß ist wie ein Kleinwagen. Damit können sie irre Schallwellen aussenden. Taucher, die von Pottwalen mit dem Sonar geortet wurden, berichten von mehreren lauten Klicks, bei denen ihr ganzer Körper vibrierte. Und die Taucher wurden nicht einmal angegriffen. Es ist also möglich, dass Pottwale dieses Sonar nutzen, um damit in 3000 Metern Tiefe Riesenkalmare zu betäuben, um sie dann am Meeresgrund aufzufressen.
Pottwale jagen durch ohrenbetäubenden Lärm?
Für diese Theorie sprechen viele Indizien. Zum Beispiel haben Pottwale nur im Unterkiefer Zähne, und das erst, wenn sie sieben oder acht Jahre alt sind. In den Mägen von Pottwalen findet man immer wieder lauter Müll, der zum Meeresgrund sinkt. Einmal sogar ein ganzes Gartenhaus. Und es verheddern sich immer wieder Pottwale in Tiefseekabeln am Meeresgrund. Es deutet also einiges darauf hin, dass der Pottwal mit seinem Unterkiefer am Meeresgrund
wie mit einem Rechen aufsammelt, was er vorher mit seinem Sonar betäubt hat. Das ist in der Literatur eine weitverbreitete Theorie. Allerdings hat mir Hal Whitehead, eine Koryphäe der Pottwalforschung, während der Recherchen zu meinem Buch erklärt, dass er selbst nicht mehr so recht davon überzeugt ist. Man weiß es einfach noch nicht.
Letztlich weiß man überraschend wenig über Wale. Ist das ernüchternd oder spannend?
Ich finde es immer wieder interessant, wie wenig selbst die profiliertesten Forscher mit Sicherheit sagen können. Ich war einmal mit Richard Sears, dem Begründer der Blauwalforschung, eine Woche lang vor den Azoren im Boot unterwegs. Er hat auf meine Fragen immer wieder geantwortet: We just don’t know. Und er hat das immer mit Freude gesagt, weil die offenen Fragen ihn angetrieben haben.
Wo es an Wissen mangelt, ist Spiritualität oft nicht fern.
Für viele Menschen ist das so. Für mich nicht. Mit dieser spirituellen Ebene tu ich mir schwer. Man hört immer wieder von Leuten, die Wale gesehen haben, dass ihnen der Wal durchs Auge direkt in die Seele geblickt und dass sich dadurch ihr Leben verändert habe. In diesen Geschichten geht es aber meistens um Menschen, nicht um Wale. Ich bin fürs Rausgehen, Angucken, Staunen. Fertig. Es hat etwas Esoterisches, sich über Delfine zu freuen, die auf einer Bugwelle reiten. Man freut sich am Ende über die eigene Bugwelle. Am liebsten mag ich es, Wale zu sehen, denen ich als Mensch völlig egal bin. Wenn zwei Blauwale miteinander unterwegs sind, kann es sein, dass zwischen ihnen 400 Meter Wasser liegen. Als Mensch würde man sie nicht einmal als Paar wahrnehmen. Sich da hineinzudenken, finde ich spannend. Was das mit mir und meinem Leben macht, ist für mich nicht relevant.
Fehlt noch eine bestimmte Walbegegnung auf Ihrer persönlichen Bucket List?
Nicht direkt. Inzwischen finde ich es auch nicht mehr passend, dauernd Fernreisen zu machen. Ich wollte immer in die kanadische Arktis, um Narwale von einer Eisscholle aus zu beobachten. Heute frage ich mich, ob das wirklich sein muss. Vor zehn Jahren, als wir begonnen haben, Wale zu beobachten, war die Klimakrise als Thema noch nicht ganz so präsent. Natürlich wusste man Bescheid. Aber die Dringlichkeit war noch eine andere. Heute kann man nicht mehr sagen, man habe davon nichts mitbekommen.