"Die Zeit" Oktober 2001
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ERKENNTNIS Reisen 43/2001
Der Grauschnäpper fliegt selten ins Netz Einmal Forscher sein. Zum Beispiel Pelikane zählen und Spuren lesen. Mit Biosphere Expeditions in der ukrainischen Wildnis. Von Franz Lerchenmüller
Fotos: Adam/Save-Bild (l.); Franz Lerchenmueller
Die Würger haben wir langsam satt: widerspenstige Burschen, die sich beharrlich der Wissenschaft verweigern. Kaum ist ihr Kopf ein wenig frei, picken sie wütend nach der Hand, die ihnen doch nur Gutes will. Auch dieser rotbraune, spatzengroße Neuntöter, Mitglied der Familie Laniidae, gibt sich nicht ohne weiteres geschlagen. Mit seinem kräftigen Schnabel hackt er munter umher, und Emma, die junge Biologiestudentin aus Birmingham, die ihn aus dem verhedderten Nylongespinst zu befreien versucht, verzieht - verdammt! - bei jeder neuen Attacke schmerzhaft das Gesicht. Ehe es ihr schließlich doch gelingt, ihn wohlbehalten im Baumwollsäckchen zu verstauen. Klappt eben nicht alles am zweiten Tag - wir üben ja noch. Elena, klein, zierlich und scheu, ähnelt den Objekten ihrer wissenschaftlichen Begierde auf geradezu verblüffende Weise. Mit robuster Behutsamkeit holt die Ornithologin jeden Vogel aus seinem Sack, kneift einen der winzigen Aluminiumringe mit fortlaufender Nummer um sein linkes Bein, bläst in seine Brustfedern, um anhand der Gelbfärbung abzuschätzen, wie viel Fett er sich schon angefressen hat, misst Schwanz-, Schnabel- und Flügellänge, hängt ihn in einem Plastiktrichter an die Waage, trägt alle Daten in ihre Bücher ein und lässt ihn dann wieder frei. Nebenbei erläutert sie Emma und ihrer Freundin Jemma, die ihr Biologiestudium schon abgeschlossen hat, die ins Auge springenden farblichen Unterschiede zwischen einem Zwergschnäpper und einem Grauschnäpper. Uns springt nichts ins Auge. Wir üben noch sehr. Einst hat Elena, die 38-jährige Wissenschaftlerin in Sachen Vögel, die halbe Sowjetunion bereist. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine vor zehn Jahren sind die Exkursionen seltener geworden. Und auch die jetzige würde gar nicht stattfinden ohne uns, die Laien. Wir haben ein paar tausend Mark hingeblättert, um mit der englischen Organisation Biosphere Expeditions »Abenteuer mit Sinn« zu erleben. Hier, auf der Kinburn-Halbinsel, die schmal und flach und 20 Kilometer lang nahe der Mündung des Dnjepr ins Schwarze Meer ragt. In Großbritannien sind Veranstalter wie Earthwatch, Greenforce oder Green Volunteers schon seit längerem dabei, zwei Gruppen von Menschen zusammenzubringen: Wissenschaftler, die gern eine Untersuchung durchführen würden, dazu aber weder Geld noch Arbeitskräfte haben. Und Naturfreunde, die bereit sind, solche Projekte zu finanzieren, wenn sie im Gegenzug mitarbeiten und so einen Beitrag zum Schutz bedrohter Tierarten leisten dürfen. Erst löhnen, dann schuften - wir müssen verrückt sein! Oder Idealisten. Vor zwei Jahren gründete Matthias Hammer, der in Oxford und Cambridge Biologie studierte, Biosphere Expeditions.
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Seitdem hat der Anfangdreißiger rund 300 Laienforscher in alle Welt begleitet: zu Fröschen und Papageien am Amazonas, Wölfen in den Karpaten, Geparden in Namibia, Brillenbären und Andenkatzen in den Hochtälern von Peru. Ein Teil der Kinburn-Halbinsel, 18 000 Hektar groß, wurde 1992 zum Landschaftspark Kinburnska Kosa erklärt. Und mit einer Verwaltung versehen, der es an Geld und Personal mangelt. Entsprechend enthusiastisch reagierte Zinowy Petrowitsch, der Direktor, auf die Anfrage Hammers. Petrowitsch kämpft dafür, das Gebiet in den Rang eines Nationalparks zu erheben. Der sandige Streifen ist eine Art Vogelbahnhof, letzte Möglichkeit für die gefiederten Geschwader, zwei, drei Tage ein Nickerchen und einen kräftigen Imbiss einzulegen, bevor sie sich auf den luftigen Trip nach Süden begeben. Welche, wie viele, woher, wohin - ein Nationalparkkandidat muss solche Fragen beantworten können. Doch seit sechs Jahren lagern die neuen Netze ungenutzt im Magazin. Das Biosphere-Projekt soll nun endlich Daten liefern. Ornithologie ist Sisyphusarbeit Und dann sind da die Steppenwölfe. Vor zwölf Jahren tauchten sie plötzlich auf, nicht gerade zur Freude der Bauern, deren Schafe bis dahin unbeaufsichtigt Orchideen und Vogelgelege hatten niedertrampeln können. Mit dieser Freiheit war es nun vorbei. Hunderte reißender Bestien seien es, behaupten die Dorfbewohner. Und sind überzeugt: Nur ein toter Wolf ist ein guter Wolf. Allenfalls 40, schätzt Direktor Petrowitsch, treiben sich herum. Wie auch immer: Zahlen müssen her. Ihr Einsatz, Biosphere-Expeditionisten! Über 900-mal hat Elena in der Vogelstation während der vergangenen vier Wochen zusammen mit ihren Helfern die Prozedur des Vermessens durchgeführt. Ornithologie, merken wir bald, ist eine Art Sisyphusarbeit: Nur ein verschwindend kleiner Teil der Ringe, weit unter einem Prozent, werden irgendwann aus Afrika, Israel oder Indien an die Schwarzmeer-Vogelstation zurückgeschickt. Überraschungen gibt es an diesem Morgen keine: 14 Gefiederte haben wir bisher aus dem großen Helgolandnetz und den Nebelnetzen geholt. Ein paar Grauschnäpper, drei Neuntöter, eine Mönchs- und zwei Gartengrasmücken die Grasmücken sind wieder mal in der Überzahl. Business as usual also, ornithologisch gesehen. Zeit für eine Tasse Tee, ein paar Seiten Krimi, ein paar Erinnerungen. Vor die Gipfel wissenschaftlicher Erkenntnis haben die Götter bekanntlich die Ebenen der Mühen gesetzt: In unserem Fall bestanden die aus einer zwölfstündigen Liegewagenfahrt von Kiew nach Mykolaiw, dem Weitertransport im voll gestopften Minibus und einer abschließenden Rütteltour in einem Allradbus sowjetischer Herkunft. Die endlosen Äcker, aus denen die Säulen der Pappeln ragen wie Zypressen, weichen grasigen Weiten. Zwischen Dünen, blauen Lagunen und akkurat angelegten Kiefernwäldern mahlt sich der Bus durch die sandige Steppe. Wer bei solchem Geholper übereinanderpurzelt, kommt sich sofort näher: Rachel arbeitet als Pathologin in Bahrein. Hergetrieben hat sie der Wunsch, »mitzuhelfen, dass jedes Lebewesen seine Nische behält«. Emma will testen, ob Feldforschung »ihr Ding« werden könnte, Jemma möchte einmal »einen ganz anderen Urlaub« erleben. Und Chris, Ingenieur im Flugzeugwerk von Rolls-Royce, reist jedes Jahr nach Italien, um schießwütige Signori am Abknallen von Wespenbussarden zu hindern. Er vermag etwa 800 Vogelarten zu unterscheiden. Sobald am Wege, in der Luft oder zu Wasser irgendetwas schwirrt, flattert oder piepst, spuckt er nach kurzem Hinsehen ein entschiedenes »Rohrweihe« oder »Schellente« oder »Feldschwirl« aus. Im Basislager, einem Sommerhaus mit Plumpsklo und Solardusche, tischte Swieta, die Köchin, einen Borschtsch und gebratenen Stör mit Graupen auf. Dabei erklärte Matthias Hammer - wache blaue Augen und blonde Stoppeln über der hohen Stirn - mit deutscher Gründlichkeit, welche Überraschungen während der nächsten zwei Wochen auf uns zukommen könnten: Autopannen, giftige Vipern, betrunkene Dorfbewohner, Irrwege und Spinnen wie die Schwarze Witwe, deren Biss zwar schmerzt, aber nicht tödlich ist. Anerkennend nickten wir: Für die Wissenschaft ist kein Opfer zu groß! Kompass, GPS, Nachtsichtgerät, Handy und Trillerpfeife sollen helfen, dass wir trotzdem allen Herausforderungen gewachsen bleiben, und als jeder von uns eine Signalrakete abfeuern durfte, waren wir endgültig überzeugt: Mit dem Abenteuer klappt's. Der Sinn wird sich schon finden. Am nächsten Tag verteilte uns der Bus auf die beiden Camps. Wo wir nun so entschlossen wie tatkräftig jeweils vier Tage lang der Wissenschaft dienen: stündlich die Netze kontrollieren, Vögel vermessen, notieren. Forschung zu betreiben, lernen wir, erfordert gelegentlich ein gerütteltes Maß an Gleichmut. Aber nein - da ist nicht nur die hehre Aufgabe der Erkenntnisgewinnung. Knapp 100 Meter von der Station entfernt plätschert das Schwarze Meer an den Sandstrand. Wir stürzen uns hinein, während über unseren Köpfen Seeschwalben schreien und nicht weit entfernt ein Fischadler ins Wasser schießt. Später erkunden wir die schuttgefüllten Hallen der Muschelfabrik, deren Bau einst Chefsache war: Breschnew
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persönlich hatte ihn während eines Urlaubs auf der nahen Krim angeordnet. Schade nur, dass der zu seiner Zeit so freigiebig verteilte Dünger in solchen Mengen in die Bucht gespült wurde, dass das Algenwachstum überhand nahm und den Muscheln den notwendigen Sauerstoff entzog: 1985 wurde die Anlage geschlossen, der einzige Versuch, hier durch Industrie Arbeit zu schaffen. Heute leben die rund 700 Einwohner wieder überwiegend von der Landwirtschaft. Und jeden Tag warten wir gespannt auf den Bus, der das Essen bringt: Frikadellen und Kartoffelbrei, Kürbiseintopf, Weißkohlsalat und köstliche Pelmeni - Wissenschaft schafft nicht nur Wissen, sondern auch Appetit. Swieta scheint das genau zu wissen.
ZEIT-Grafik
Dann wird es Zeit für den census walk. Alle vier Tage geht Ornithologin Elena die Sandnadel am Ende der Halbinsel ab: Bestandsschätzung aller Seevögel. Der Biologiestudentin Emma wird die Zuständigkeit für die Eiderenten übertragen. Doch, o Stress: Die tanzenden Wellen sind eine einzige Fopperei. Die schwimmenden Vögel erscheinen und verschwinden, erscheinen und ... Wie soll da wissenschaftlicher Präzision Genüge getan werden? »1742«, knurrt Emma am Ende, Elena akzeptiert - und lächelt rätselhaft. »Kann ja schon sein.« Und wir ahnen: Forscher lassen auch mal fünfe gerade sein. Kormorane, in einem endlosen Zug Unsere Fachfrau hat selbst alle Hände voll zu tun: Glas an die Augen, kurzer Schwenk, Notiz: Sichelstrandläufer, Rotschenkel, Schellente. Zehn Austernfischer, vier Seidenreiher, fünf Pelikane. Die Liste füllt sich. Und dann steigen, nicht weit voraus, die Kormorane auf, in einem endlosen Zug, als ob sie hinter dem Horizont wieder eintauchen, zurückschwimmen und erneut abheben würden. Um die 7000 seien es, sagt Elena bestimmt. So an die 600, hätten wir vermutet, jetzt doch etwas konsterniert. Wissenschaft ist noch viel schwieriger. Drüben, über dem flachen Wasser der Jagorlitski-Bucht aber, schimmern die grünen Flecken der Wälder. Dort leben die Wölfe. Einfacher zu zählen, darf man vermuten. Aber nur als Laie. Vier Zelte im Schatten von Schwarzerlen, morgens und abends der Rauch eines Feuers, eine Schaufel, die das Plumpsklo ersetzt. So sieht das Wolfscamp aus. Wölfe sind scheu. So scheu, dass während der vier Wochen bisher nur zwei Teilnehmer einen zu Gesicht bekommen haben. Um ihre Zahl schätzen zu können, kontrolliert das Biosphere-Team einen so genannten Transect, einen sechseinhalb Kilometer langen Sandweg, der die Halbinsel von Nord nach Süd teilt. Jeden Morgen zieht eine Gruppe von der Mitte des Weges aus nach Süden, die andere nach Norden. Augen zu Boden: Spurensuche! Jeder Pfotenabdruck ein kleines Geschenk: Sorgfältig wird er ausgemessen, die Laufrichtung bestimmt, die genauen Koordinaten mithilfe des GPS festgelegt. Fuchsspuren? Die sind kleiner. Hunde? Der Abdruck ihrer Hinterpfoten ist konvex, der des Wolfes konkav. Wildschweine waren unterwegs, Rehe, Igel, und hin und wieder döst eine Steppenviper mit Kreuzotterzeichung träge in der Sonne. Manchmal liegt da, welch ein Glücksfall, auch ein Stück Wolfskot. Tief bückt sich Matthias Hammer und schnuppert daran: Nur Kot, der noch riecht, ist es wert, in einer Plastiktüte verstaut zu werden. Ein Spezialist in Polen wird sie
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untersuchen. Man weiß zu wenig über die Nahrungsgewohnheiten der Tiere. Aber während der vergangenen zwei Wochen haben sie in den Dörfern fünf Hunde gerissen und drei davon gefressen - es herrscht Futterknappheit nach dem heißen Sommer. Langweilig, das ganze Unternehmen? Vielleicht für diejenigen, die nicht unbedingt für die Naturwissenschaft geboren sind. Rachel aber ist mit Feuereifer bei der Sache. Es braucht mindestens ein paar Tage, meint sie, bevor man sich wirklich nützlich machen kann. Jerry versteht die Frage überhaupt nicht. »Ist es nicht genug Abwechslung, den ganzen Tag in der Natur unterwegs zu sein?« Ohne schon im Vogelcamp gewesen zu sein, hat er bereits 120 Arten von Vögeln ausgemacht. Und dann gibt es noch die Beobachtungsschichten. Mitten im Wald, wo drei Wege zusammenlaufen, haben die Parkarbeiter einen Hochsitz errichtet. Abends um sieben und morgens um vier steigen die Beobachter hinauf. Niemand redet. Ab und zu summt ein Nachtsichtgerät, durch dessen Linse die dunkle Welt hellgrün erscheint. Eine Eule streicht über die Wipfel, eine seltsame Leblosigkeit liegt über dem Kiefernwald. Jetzt müssten sie kommen. Jetzt kommen sie doch wieder nicht. Enttäuscht ist dennoch niemand: Biosphere hatte in seinen Prospekten vor allzu hohen Erwartungen gewarnt: »Alle Teilnehmer müssen sich klar sein, dass sie wohl nicht alle aufgeführten Tiere zu Gesicht bekommen werden.« Eine Expedition ist keine Safari. Macht nichts, denken wir. Langsam mischt sich etwas Schwefelgelb ins Blauschwarz. Die Lichtfunken am Himmel verglimmen. Eine letzte Sternschnuppe fällt. Sich jetzt etwas wünschen? Ein Rudel Wölfe vielleicht, wie es urplötzlich aus der Schonung tritt und nichtsahnend in größter Gelassenheit direkt auf uns zutrottet? Unsinn, sagt der frisch gebackene Wissenschaftler in uns: Kinburnska Kosa ist nicht Hagenbecks Tierpark. Ein echter Forscher wünscht nicht. Er registriert ungerührt die Welt, wie sie ist. Stimmt schon, geht klar. Aber, mal ganz ehrlich, unter uns Laien - schön wäre es doch! Information Anreise:Mit KLM von Frankfurt via Amsterdam nach Kiew für derzeit 1287,44 Mark inkl. Steuern. Mit Austrian Airlines von Frankfurt über Wien für 1310,12 Mark (beides Sondertarife) Visum: Ein zwei Wochen gültiges Touristenvisum kostet 80 Mark Literatur: Evelyn Scheer/Gert Schmidt: »Die Ukraine entdecken«; Trescher Verlag 2000; 512 S., 39,90 Mark Veranstalter: Biosphere Expeditions, Sprat's Water, nr Carlton Colville, The Broads National Park, Suffolk NR33 8BP, UK, Tel. 0044-1502/58 30 85, Fax 58 74 14, E-Mail: info@biosphere-expeditions.com, Internet: www.biosphere-expeditions.com. Büro Deutschland: Tel. 0931/407 01 07, Fax 407 05 77. Die Kosten für eine zweiwöchige Expeditionstour beginnen, je nach Ziel, bei 3000 Mark. Die Anreise zum zentralen Treffpunkt im Zielland hat jeder Teilnehmer selbst zu organisieren. Alle Teilnehmer erhalten ausführliches Informationsmaterial. Die Unterlagen sind in Englisch, das auch während der Expedition gesprochen wird. Neben den Wissenschaftlern betreut auch ein Expeditionsleiter das Team (c) Die Zeit / Franz Lerchenmueller
Hinweise für Redakteure: Hintergrundinformationen und der Expeditionszeitplan unter http://www.biosphere-expeditions.org. Pressemitteilungsbereich mit dieser Pressemitteilung unter http://www.biosphere-expeditions.org/media/. Rückfragen / Interviews unter Telefon/Fax 0931-4070107.
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