Bolero_E-paper_September2014

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ANGESAGT

«Mode ist kein Museum» Nach Jahren als BalenciagaInnovator, erneuert Nicolas Ghesquière nun das Modebild von Louis Vuitton. Seine erste Show war ein starkes Debüt, das eine klare und moderne Linie vorzeichnet. REDAKTION: SARA ALLERSTORFER PORTRÄTFOTO: JEAN-FRANÇOIS ROBERT/MODDS

Sie war eine der begehrtesten Einladungen an den vergangenen Modewochen. Wer sie in seinen Händen hielt, hatte das Glück, den Beginn einer neuen Louis-Vuitton-Ära live mitzuerleben. Nicolas Ghesquière, das Wunderkind, das Balenciaga vor dem kollektiven Vergessen rettete, der Designer, der die Mode der vergangenen zehn Jahre erneuerte wie nur wenige, präsentierte seine erste Kollektion für Louis Vuitton. Ein Moment voller Emotionen. Bolero: Monsieur Ghesquière, Sie haben Stil. Ihr per Hand geschriebener Brief auf handgeschöpftem Papier, den jeder Gast Ihrer ersten Louis-Vuitton-Show erhalten hat, war beeindruckend. Nicolas Ghesquière: Es war mir in diesem besonderen Moment wichtig, jeden so persönlich wie möglich anzusprechen. Ich wollte zum Ausdruck bringen, dass ich bei diesem Neuanfang an sehr viele Leute denke. An jene, die mir nahestehen, aber auch an die vielen Menschen, die Teil dieser Industrie sind. Es freut mich, dass Sie es in diesem Sinn verstanden haben. >

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ANGESAGT Sie schrieben: «Danke an alle, die heute Morgen in diesem Moment da sind.» Ich konnte den Brief zwar nicht am Morgen schreiben, aber ich wollte ihm eine spontane Note geben. Und Emotionen vermitteln. Ich mochte die Tatsache, dass es keine Pressemappe war, sondern ein Brief in einem Umschlag. Schreiben Sie privat noch mit der Hand? Ja, absolut. Vielleicht hat es damit zu tun, dass mein Hintergrund Zeichnen und Designen ist. Auf Papier schreiben verstehe ich als eine weitere Ausdrucksform. OBEN: Designer Nicolas Ghesquière im Louis-VuittonAtelier. UNTEN: Umfassendes Savoir-faire perfekt umgesetzt.

Am Anfang der Show öffneten sich die Jalousien an der Glaskonstruktion, die wie üblich für die Show im Louvre-Innenhof aufgestellt worden war. Sonnenlicht strömte herein. War das symbolisch gemeint? Ich wollte den Eindruck erwecken, dass die Models direkt von den Pariser Strassen hereinkommen. Sie sollten auf eine ansprechende Art zugänglich sein. Ich wollte, dass man die Mode im Tageslicht sieht. Und ich sagte mir: «Hey, wir werden im Innenhof des Louvres zeigen, einem der schönsten Plätze von Paris.» Er sollte Teil der Dekoration werden. Das Öffnen der Jalousien war auch eine Ehrerbietung an die umliegende Architektur. Zu aller Überraschung lief das ehemalige Topmodel Maggie Rizer für Sie. Es freut mich, dass Sie das bemerkt haben. Das Casting war mir sehr wichtig. Individualität spielt bei Louis Vuitton eine grosse Rolle – das möchte ich wirklich herausstreichen. Models sind schöne Frauen, aber darüber hinaus auch Individuen. Deshalb hatten sie auch nicht viel Make-up oder gemachte Haare. Ich wollte sie nicht klonen. Wir brauchen Persönlichkeiten. Maggie war und ist eine interessante Frau, deshalb habe ich sie gefragt. Im ersten Kapitel der LouisVuitton-Geschichte wollte ich Menschen um mich, mit denen mich etwas verbindet. Wie Charlotte Gainsbourg. Sie ist Ihre Muse, warum genau? Ich erinnere mich an ihren ungewöhnlichen Look an den Césars, einem französischen Kinopreis, als sie erst 14 Jahre alt war. Sie trug einen Männeranzug. Seit damals hat sie immer eine starke, einzigartige Wahl getroffen. Mich fasziniert auch ihre Fähigkeit, uns trotz ihrer Ähnlichkeit mit ihren berühmten Eltern immer wieder vergessen zu lassen, dass sie ihre Tochter ist – dank ihrer starken Persönlichkeit.

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Ihr Debüt wurde mit grossem Applaus aufgenommen. Sind Sie erleichtert? Oh ja. Ich bin wirklich glücklich, weil das, was ich in der ersten Episode der LouisVuitton-Kooperation ausdrücken wollte, akzeptiert wurde. Es ist ein gutes Gefühl, etwas Neues anzufangen, wenn man eine so gute Resonanz bei den Medien und Einkäufern auslöst. Ich bin auch persönlich froh, weil ich mit den Leuten, die mit mir arbeiten, eine harmonische Beziehung habe. Manchmal könnte man ja denken, dass bei Louis Vuitton, als grösster Modemarke der Welt, die Menschlichkeit fehlen könnte. Aber in den wenigen Monaten, in denen ich hier arbeite, habe ich festgestellt: Ja es ist eine gigantische Maschine, aber es geht um zwischenmenschliche Beziehungen. Ich mag die Ernsthaftigkeit und positive Energie. Erhöht das neue Umfeld den Druck? Manche Dinge können leichter entschieden werden, wenn es eine neue Vision gibt. Meine eigene Arbeit hat sich nie verändert. Aber es gibt hier eine Art von Perfektion bei der Fertigstellung jedes Produktes, die ich so nicht gekannt habe. Jedes einzelne Stück, seien es Accessoires, Kleider oder Schmuck, jeder Prototyp, der zurückkommt, hat ein High-End-Niveau. Gleichzeitig herrscht grosse Gelassenheit, weil das Savoir-faire und das Wissen so umfassend sind. Das lerne ich gerade – und ich mag es. Sie sind Ihren Weg gegangen und als Wunderkind verehrt worden. Hatten Sie Angst, bevor Sie die Arbeit aufgenommen haben? Im Spiel der Mode müssen Sie sich konstant selbst herausfordern. Aber ich habe keine Angst im eigentlichen Sinn des Wortes. Früher ja, aber inzwischen bin ich entspannter, fühle neben mir die Schultern von Menschen, denen ich vertraue. Ich war auch nicht nervös, eher ungeduldig. Ich konnte es nicht erwarten, meine Kollektion zu präsentieren und die Reaktionen zu erleben. In diesem Sinn war ich ein wenig unsicher. Aber weil meine Entscheidung und die Richtung, in die man mich bei Louis Vuitton führte, sehr ehrlich und ernsthaft waren, war ich gleichzeitig zuversichtlich. Ich fühle mich gut. Darauf achten hier auch alle. Was hat sich verändert, seitdem Sie als junger Mann in den neunziger Jahren in Jean Paul Gaultiers Atelier gearbeitet haben – «im Herzen eines Nuklearreaktors», wie Sie einmal sagten?


STIL neuigkeiten

POWERDUO Designer Edgardo Osirio und Socialite Olivia Palermo haben für eine Kollektion von sechs Schuhmodellen zusammengespannt. Die perfekte Schuhgarderobe à la Olivia Palermo und Aquazzura

Sechs auf einen Streich Er kreiert Schuhe, um die sich die Modewelt reisst. Sie inszeniert sich in Looks, die die Bloggerwelt und Hochglanzpostillen in Atem halten. Zusammen haben sie nun eine Capsule-Schuhkollektion entworfen: «Aquazzura x Olivia Palermo». «Wir wollten eine Kollektion von Mode-Essentials kreieren, die jede Frau in ihrem Schrank haben sollte», sagt Edgardo Osirio, Kreativdirektor und Mitgründer von Aquazzura. «Es sind Must-have-Schuhe, gesehen durch Olivias Augen, aber im unverwechselbaren AquazzuraStil.» Und dieser Stil ist, um es mit vier Worten auszudrücken: Sex für die Füsse. Seine Markenzeichen: raffinierte Cut-outs, laszive Schnürungen und das anschmiegsame, patentierte Cashmere-Wildleder. Socialite und Stilikone Olivia Palermo hat für die sechs Modelle umfassende Kollektion auch gleich ein paar Tipps zur Stelle. «Die Schmuck-Abendsandale sieht grossartig zu zerrissenen Boyfriend-Jeans aus. Und die Bottine passt zu fast allem – deshalb haben wir sie auch ‹die perfekte Bottine› genannt.» | SAL In der Schweiz ist die Kollektion «Aquazzura x Olivia Palermo» exklusiv bei Trois Pommes erhältlich. www.aquazzura.com, www.troispommes.ch

Designer-Kooperation

—Kunst zum Tragen —

Lesegenuss

Der Online-Shop Zalando fördert mit Kooperationen den deutschen Modenachwuchs. Für diesen Herbst-/ Winter entwarf der ausgebildete Herrenschneider Tim Labenda eine zehnteilige Damenkollektion für Zalando Premium, inspiriert von seinem Kindheits-Lieblingsbuch «Die unendliche Geschichte» von Michael Ende. Preise ab CHF 260.– | SAL

Taschen sind heute ja nicht mehr nur reines Transportmittel der eigenen Siebensachen, sondern Statement-Stücke, über die man seine Gesinnung kundtut. So etwa mit den zwei Leder-Shoppern von Marni, die je einen Print des deutschen Künstlers Magnus Plessen tragen (angelehnt an sein Werk «Zwei Figuren» von 2005). Der Künstler ist dafür bekannt, seine Leinwände mit dem Auftragen und Wiederwegnehmen von grossen Farbflächen zu bearbeiten, bis sich Figuren und Hintergrund definieren. Preis ca. CHF 1850.–. | SAL

Stilfibeln gibt es ja viele. Doch keine ist so charmant und wissend wie «Das kleine Buch der Mode» von Christian Dior. Vor 60 Jahren vom Modeschöpfer verfasst, erscheint es nun erstmals wieder in deutscher Sprache. Eine inspirierende Zeitreise über Modediktate vergangener Tage, die teilweise auch heute noch ihre Berechtigung haben. | SAL

www.zalando.ch, www.timlabenda.com

www.marni.com

Eden Books, CHF 25.90

GESCHICHTENERZÄHLER

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DIORS MODE-ABC


Afterwork-Drink Passende Begleiter Bunt gemusterter Samtanzug mit breitem Revers, CHF 2300.–, Hogan. Weisses Hemd mit schwarzer Paspelierung, CHF 199.–, Hugo. Schwarzer Ledergürtel, CHF 560.–, Tod’s.

Es muss nicht immer Schwarz sein! Paaren Sie zum Anzug mit psychedelischem Print schlichte Accessoires in Unifarben.

VON OBEN NACH UNTEN: Gürtel, Louis Vuitton, ca. CHF 730.–. Schwarze «Wings»-Ohrringe, Maria Black, ca. CHF 65.–. Sonnenbrille «Shinysilver», Mykita x Maison Martin Margiela, CHF 495.–. «Monogram Université Bag» in rotem Leder, Saint Laurent par Hedi Slimane, ca. CHF 1520.–. Boots aus silberfarbenem Lackleder, Acne Studios, ca. CHF 605.–. Wo zu kaufen Seite 152.

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STIL menschen «Schön und zu spät» Shourouk ist die Königin der Glitzersteine. Ihre Kreationen sehen aus wie eine Million Dollar, sind dabei aber strassentauglich. MC Hammer, ein Idol aus Jugendtagen, diente als Inspiration für die neue Kollektion. Und für Swarovski hat sie eine glamouröse Uhr kreiert. INTERVIEW: MARIANNE ESCHBACH FOTOS: SÉBASTIEN AGNETTI

Bolero: Sie haben die Arbeit mit glitzernden Kristallen zu Ihrem Beruf gemacht. Warum?

Shourouk: Schon als Kind habe ich alles Glamouröse geliebt. Meine Mutter und auch meine Grossmutter waren sehr kokette Damen. Ich bin umgeben von Pailletten und Strass aufgewachsen. Ich habe dann Modedesign in Paris studiert und während des Studiums schnell gemerkt, dass mich Accessoires mehr anzogen als Kleider. Taschen, Schuhe, Brillen, das ist meine Spielwiese. Ich habe mich bald darauf konzentriert, Modeschmuck zu entwerfen. Wie es zur Uhren-Kooperation mit Swarovski gekommen? Wie Sie sehen, trage ich selbst keine Uhr. Als Swarovski mit dem Uhrenprojekt auf mich zukam, war das etwas ganz Neues für mich. Das Konzept mit den austauschbaren Armbändern und Dekorelementen, die man dem Outfit anpassen kann, hat mich angesprochen. Diese Uhr entspricht genau meiner spielerischen Seite. Und ich finde die Idee der Wandelbarkeit modern. Welche Beziehung haben Sie zu Uhren? Meine Mutter hatte eine sehr schöne Uhr von Cartier. Leider wurde sie bei einem Einbruch gestohlen. Ich mag den Gedanken, wenn Uhren ein Schmuckstück sind. Ich liebe die «Serpenti»-Uhren von Bulgari, weil sich die Uhr da im Kopf der Schlange versteckt. Ich finde sie wahnsinnig glamourös. Uhren aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts hatten oft diese amüsante und überraschende Seite. Man meint, es sei ein Schmuckstück und entdeckt dann die Uhr, die sich darin versteckt.

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KULTUR literatur

«Mein ganzes Leben fusst auf einem Irrtum» Wir trafen die Schriftstellerin Amélie Nothomb auf ein Glas Champagner und sprachen mit ihr über Wunderelixiere, Kindheitstraumata und ihren neuen Roman «Blaubart». TEXT: LEONI JESSICA HOF FOTOS: DENIS ROUVRE/MODDS

Amélie Nothomb kommt als Amélie Nothomb: Sie trägt ein schwarzes Ensemble, das an die Artisten eines dieser düsterromantischen Zirkusse erinnert, die vor hundertfünfzig Jahren durch die Lande tingelten. Auf dem dunklen Haar sitzt ein Hut, ihre runden Augen sind die eines Mädchens, der Mund ist rot geschminkt. Wenn sie lacht, und das tut sie während des Interviews oft, tönt das laut und kehlig, sie zieht dieses Geräusch in die Länge, so dass es – sie möge entschuldigen – ein wenig an einen Esel erinnert, einen lustigen aber. Diese Lacher ertönen gern auch dann, wenn die Antwort eigentlich alles andere als lustig ist. Ähnlich sind die Bücher der Belgierin, wahnwitzig, absurd, tänzelnd am Abgrund, mit einem Lachen, das auf seinem Weg in die Freiheit im Hals stecken bleibt. Nothomb ist Vielschreiberin, jedes halbe Jahr beglückt sie ihren Verlag mit einem neuen Roman und damit gleich auch ihre treue Fangemeinde. Nothomb ist Kult. Auf Deutsch bringt der Diogenes Verlag ihre Bücher heraus, Verleger Philipp Keel kümmert sich denn auch rührend um seinen Gast, reicht Truffes von Sprüngli zum Champagner. Nothomb liebt Champagner und Schokolade. Und sie ist notorisch schlafgestört. Bolero: Wie viele Stunden haben Sie vergangene Nacht geschlafen? Amélie Nothomb: Ich habe wirklich sehr schlecht geschlafen. Nur zwei Stunden. Vielleicht war ich aufgeregt wegen Ihnen. Dafür sehen Sie aber sehr frisch aus. Champagner ist meine Jugend! Normalerweise schlafe ich vier, fünf Stunden. Vergangene Nacht ging das aber nicht. Als diese Nacht fast zu Ende war, bin ich doch noch eingeschlafen und träumte davon, in einer fliegenden Barke hier anzukommen.

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In Ihren Büchern schreiben Sie detailliert über Ihre Kindheit. Sie scheinen sich wahnsinnig gut an alles zu erinnern? Ich habe immer im Ausland gelebt und wusste, dass ich alles verlieren würde, darum habe ich beschlossen, mir alles zu merken. Mein ganzes Leben fusst dabei auf einem Irrtum. Mit fünf wurde ich meiner japanischen Nanny entrissen, die ich wie eine Mutter liebte, ich musste Japan verlassen. Es war ein Desaster und machte aus mir das, was ich bin. In all den folgenden Jahren sagte ich mir immer wieder: Ich bin Japanerin! Ich dachte tatsächlich, dass Sie japanische Vorfahren haben? Es ist hoffnungslos, meine Familie besteht ausschliesslich aus Belgiern. Als ich in China, Bangladesh, New York, Burma, Laos und schliesslich in Belgien lebte, fühlte ich mich immer als Fremde. Ich war mir sicher, zurück nach Japan zu gehen und alles wäre perfekt. Als ich 21 war, ging ich mit einem One-way-Ticket zurück. Aber nichts war gut. Ich erkannte, dass ich eben keine Japanerin war. Ich konnte nicht arbeiten wie ein Japaner. Ich versuchte es mit der Liebe und das klappte erst recht nicht. Am Ende war ich weder Japanerin noch Belgierin. Ich war ein Nichts. Also ging ich zurück nach Belgien. Die belgische Identität selbst ist sehr verschwommen. Sie gingen nicht aus familiären Gründen zurück? Auch, in Brüssel lebte meine Schwester, die sehr wichtig für mich ist. Ich hatte lange keine andere Gesellschaft. Sie ist zweieinhalb Jahre älter, aber wir sind wie Zwillinge. Bei ihr schrieb ich meinen 11. Roman «Die Reinheit des Mörders». Bis dahin zeigte ich niemandem ausser ihr meine Arbeiten. In Japan arbeitete ich als Toilettenfrau, schlimmer konnte es nicht kommen. Ich sandte meinen Roman also nach Paris und es klappte.


Fotos: Moebius Productions (2), Courtesy Galerie Magnin-A, Paris (1), Courtesy Anthony D’Offay, London (1), Nan Goldin/R Van Chromes (1)

KULTUR jubiläum

Die Neugier, ein Vagabund — Von Yanomami-Indianern bis David Lynch: In Paris feiert die Fondation Cartier 30 Jahre regen Kunstbetrieb. TEXT: LEONI JESSICA HOF

Ein irrer Filmemacher, ein Mathematiker und ein Schamane treffen sich im Museum... So könnte ein mittelprächtiger Witz beginnen, tatsächlich spielt es sich aber so in der Pariser Fondation Cartier ab: Im Ausstellungshaus von Jean Nouvel konnte man David Lynch kennen lernen, der sich mit dem Mathematiker Misha Gromov unterhielt, oder von Davi Kopenawa lernen, der Schamane ist und Anführer der Yanomami-Indigenen in Brasilien. In diesem Jahr feiert die Fondation 30-jähriges Bestehen und präsentiert ihren Besuchern bis ins nächste Jahr hinein ein Potpourri aus Ausstellungen, Filmen, Kunstnächten, Veranstaltungen für Kinder und Konzerten. Die Sammlung der Fondation umfasst mittlerweile um die 1200 Werke, längst sind die abendlichen «Soirées nomades» zum angesagten Stelldichein der Pariser Kunstszene geworden. Was unterscheidet die Fondation Cartier von anderen

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Museen? Direktor Hervé Chandès sagt: «Wir pflegen eine Form der Neugierde, die es uns erlaubt, Künstler mit Mathematikern zusammenzubringen. Oder eine Ausstellung zu zeigen wie «Terre Natale», zu Themen wie Migration, Heimat und bedrohte Sprachen. Oder eben eine über Jean Paul Gaultier.» Dieser Wissensdurst kenne keine Grenzen. «Wir zeigen Ausstellungen, die die Neugierde auf die Reise schicken. Ich mag diese Idee des Vagabundierens.» So konnte man schon die Designerin Andrée Putman in einer Ausstellung erleben, 1990 gab es eine Live-Performance von The Velvet Underground und Lou Reed. Lou Reed reiste mit Band an und spielte an jenem Nachmittag im Park. Für den Direktor ist der wichtigste Moment in der Geschichte der Fondation aber der ihrer Gründung im Jahr 1984. Die Fondation Cartier war die erste Unternehmensstiftung in Frankreich, die zeitgenössische


KUNSTWERKE IM UHRZEIGERSINN: Mœbius, «La Planète encore», 2010. Ron Mueck, «In Bed», 2005. Mœbius, «1999». Nan Goldin, «Nan and Brian in Bed, NYC», 1983. Chéri Samba, «J’aime la couleur», 2010.

Kunst förderte. Bevor die Fondation nach Paris umzog, hatte sie ihre Heimat in einem Schloss in Jouy-en-Josas. 1994 wurde in den Bau am Boulevard Raspail gezügelt. Auch in Paris wird der Platz nun knapp, es wird über einen Anbau sinniert. «Für die permanente Sammlung, die Ausstellungen, ein Kino, ein Restaurant. On verra...» Den Grundsätzen der Fondation Cartier will man treu bleiben: Es werden etablierte und aufstrebende Künstler gezeigt, ein multidisziplinärer Ansatz wird verfolgt und klar getrennt zwischen der Fondation und der Maison Cartier. Die Kunstwerke entstehen nicht für das Unternehmen, die in der Fondation ausgestellten Künstler dürfen keine Produkte kreieren. Stattdessen will man die Künstler fördern, indem man sie etwa mit Spezialisten der verschiedensten Richtungen zusammenbringt. «Uns ist ausserdem der Moment sehr wichtig. Wann zeigen wir zum Beispiel einen

Matthew Barney? Ich weiss nicht, ob ich ihn heute zeigen würde – alle zeigen Barney. Und uns sind Ausstellungen wichtig, die Fragen an die Welt stellen. Danach, wo wir heute stehen.» Bis zum 21. September wird in Paris die Ausstellung «Vivid Memories» gezeigt, ein «Best of» der Künstler, die in der Fondation zu sehen waren. Es gibt Malerei, Design, Fotografie, Film, Volkskunst, Video und Skulpturen, Musik und Performances zu erleben. Von Oktober bis März wird die Fondation Cartier von den Architekten Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio transformiert: Die Projekte der beiden, die oft moderne Technologien einbinden, sprengen die Grenzen zwischen Architektur und Design. Ein passender Auftakt für eine weitere erfolgreiche Dekade der Kunstförderung. < Bis März 2015 wird gefeiert. Mehr zum Programm von «30 ans Fondation Cartier pour l'art contemporain» finden Sie unter fondation.cartier.com

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BEAUTY

DEN SOMMER FESTHALTEN

Sie steht wie keine andere Blume für den Sommer: die Rose. Mit ihr möchten wir die warme Jahreszeit so lange wie möglich auskosten. In diesem Jahr ist die Kosmetikbranche im Rosenrausch und bringt neue Rosenelixiere auf und unter die Haut. Und in Südfrankreich hat Bolero auf den Rosenfeldern von Chanel eines der Geheimnisse des berühmtesten Parfums der Welt gelüftet. REDAKTION: MARIANNE ESCHBACH FOTOS: SÉBASTIEN AGNETTI

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und Rose würde «Chanel No 5» nicht mehr gleich duften. In der Familie Mul fand Jacques Polge Verbündete, die seit nun 27 Jahren Chanel exklusiv mit «Concrète» bzw. «Absolue» von Jasmin und Mairose beliefern. Die Arbeit an diesen Parfum-Vorstufen beginnt frühmorgens. 70 Pflückerinnen und Feldarbeiter ernten die geöffneten Rosenblüten auf total sieben Hektaren Fläche mit einer sicheren Drehbewegung der Hand und füllen sie in Jutesäcke. 350 Rosenblüten ergeben ein Kilo. 35 bis 40 Tonnen Blüten geben die zwischen 2 und 30 Jahre alten Rosenstöcke auf den Mulschen Feldern pro Jahr her, erklärt Fabrice Bianchi. Um sie vor Schädlingen zu schützen, würden biologische – davon zeugen die Marienkäfer – und synthetische Methoden verwendet. Und auch der Mondkalender spielt bei der Rosenpflege eine Rolle. Die «Rosa Centifolia» mit ihren 100 Blütenblättern wurde im 18. Jahrhundert gezüchtet und blieb seither unverändert. Ihren reichen, honigartigen und dabei luftigen Duft verdankt sie Grasses Klima mit warmen Tagen und kühlen Nächten und der lokalen Bodenbeschaffenheit. Bis zum Mittag muss das Tagespensum erledigt sein, weil dann der Extraktionsprozess beginnt. An sieben Tagen in der Woche. 250 Kilo Mairosenblüten werden in fünf Schichten in jeden der grossen Extraktionsbehälter gefüllt. Die Deckel werden hermetisch verschlossen und die Kessel mit Lösungsmittel geflutet, das in den nächsten Stunden die Duftsubstanzen aus den Rosenblüten lösen wird. Danach werden die Kessel erhitzt, damit sich das Lösungsmittel nach oben verflüchtigt, abgeleitet und zum Recycling geführt wird, während vom Behälterboden das «Concrète» abgelassen wird, das sich beim Abkühlen in eine wachsartige Substanz verwandelt. 400 Kilo Rosenblüten braucht es für ein Kilo «Concrète». Erst kurz bevor die Parfumherstellung in der Chanel-Anlage in Compiègne beginnt, wird das «Concrète» in die direkte Ausgangssubstanz für Parfums, das sogenannte «Absolue», verflüssigt. Dies geschieht in einer Art Mixer unter Zugabe von Alkohol bei Minustemperaturen. So wird das Wachs von der Flüssigkeit gefiltert. Danach wird die Flüssigkeit mit Wasserdampf destilliert, um den Alkohol zu entfernen. Dieser Vorgang dauert etwa drei Tage. «Chanel ist eine Luxusmarke», sagt Jacques Polge. «Ich verstehe es als meine Rolle, die handwerkliche Seite dieses Metiers hervorzuheben und sichtbar zu machen. Die von Hand angebauten Pflanzen, die Pflücker, die die Blüten von Hand ernten. Luxusparfümerie ist eine Parfümerie, die diese Tradition pflegt. Tradition allein genügt aber nicht. Man muss sie mit der Moderne verbinden.» Aus diesem Grund hat Jacques Polge kürzlich eine neue Version des ikonischen Duftes geschaffen. In «Chanel No 5 Eau Première» befinden sich neue Blumenmoleküle, von denen Polge glaubt, dass Ernest Beaux sie verwendet hätte, wenn sie ihm 1921 zur Verfügung gestanden hätten. Diese heutige Version von «Chanel No 5» ist sozusagen sein Vermächtnis. Jacques Polge wird in nächster Zeit kürzer treten. Seit kurzem ist sein Sohn Olivier Polge, auch er ein namhafter Parfümeur, bei Chanel unter Vertrag. Er wird als Chanel-Nase No 4 in Zukunft dafür sorgen, dass der Mythos «No 5» lebendig bleibt. <

AUF DEN ROSENFELDERN BEI GRASSE 2014 verspricht ein hervorragendes Rosenerntejahr zu werden. Die Familie Mul mit Patron Joseph Mul und Schwiegersohn Fabrice Bianchi baut seit fünf Generationen Blumen für die Parfumindustrie an. Seit 27 Jahren exklusiv für das Haus Chanel und seinen Parfümeur Jacques Polge. Am Mittag werden die Extraktionsbehälter mit jeweils 250 Kilo Rosenblüten gefüllt. Der Mairosenextrakt, das «Concrète» von 2014, wird Ende 2015 als «Chanel No 5» in die Parfümerien kommen.

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DIE HERBST MODE Langsam, aber sicher hält der (Mode-)Herbst Einzug. Die ersten Herbstlooks sind in den Geschäften eingetroffen. Nach den Ferien wird die Lust auf eine neue Garderobe geweckt. «La Rentrée» nennen die Franzosen dieses Gefühl, sich nach Sommer, Sonne und Sorglosigkeit wieder den Alltag anzueignen. Am schönsten geht es über die Mode. Da ist zum einen der Trend zum leisen Luxus, der uns moderne Kleider beschert, die nicht so schnell aus der Mode kommen. Und da sind zum anderen die grossen Klassiker der Männergarderobe, die feminin interpretiert in unserer Modegeschichte «It’s A Man’s World» zum coolen Look für eine junge Generation von starken Frauen wird. «Color me beautiful» fängt auf sinnliche Weise die aktuelle Vorliebe der Designer für wilde Farbkombis und Materialmixes ein. Verlieben wir uns also von neuem in die Mode. Genau so kompromisslos wie die Designer ihre Vision verfolgen. | september 14 | bolero |

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Schwarzes asymmetrisch geschnittenes Jackett und schwarzer Rolli mit Zipdetail. Beides Akris.

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Nadelstreifenanzug und weisses Baumwollhemd, Annette Gรถrtz. Kette (am Jackett getragen), privat.

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Foto: Tristan Deschamps/Photononstop/bab.ch

ART DE VIVRE

Die Farbe Lila Eine Reise in die Provence ist eine Fahrt zu den Sinnen – die Essenz der französischen Provinz kann man überall schmecken, sehen und riechen. TEXT: TINA BREMER

Das «Land des Lichts» hat sich verdunkelt. Dickbauchige Wolken sind aufgezogen, die sich am Himmel zu einem schweren grauen Mosaik zusammengefunden haben, das jetzt drohend über unseren Köpfen hängt. «Merde», entrutscht es uns, während wir im Rucksack nach unseren Regencapes kramen. Seit zwei Stunden radeln wir durch das Hochland von Sault, stets gut behütet vom Mont Ventoux, dem «Riesen der Provence». Und jetzt: Wolken im Paradies. Der knapp 2000 Meter hohe Berg, der auch die 15. Etappe der «Tour de

France» darstellt, wurde von den Kelten als heilig verehrt – den Regen abhalten, der uns jetzt durchnässt, können seine Wunderkräfte aber offensichtlich nicht. Wir finden Unterschlupf an einem «Mas», einem kleinen Bauernhaus mit Wänden aus dicken Steinquadern, das mitten in einem Feld von Einkorn liegt. Und vielleicht haben wir dem Mont Ventoux ja doch Unrecht getan – nach wenigen Minuten reisst der Himmel wieder auf und gleissendes Sonnenlicht durchbricht die Wolkendecke, lässt die dunklen Wattebausche in viele kleine Zipfel zerstieben. > | september 14 | bolero |

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IM UHRZEIGERSINN: Das Dorf Albion nahe Sault, Keramikladen, das malerische Dorf Gordes, Katja Stojetz rührt eine Creme an, Lavendelsträusse.

« Ich habe sieben Jahre in Paris gelebt – damals gab es Aromatherapie-Öle noch so gut wie gar nicht. Ich kannte sie von meiner Schwiegermutter, die hier in der Nähe lebt.» Katja Stojetz

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