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Peter Natter ist mit Werken von Adalbert Stifter im Tal unterwegs

Der Mut Stifters

Der Philosoph Peter Natter nimmt sich im Bregenzerwald Bücher vor und liest sie mit Blick auf seine unmittelbare Umgebung. Diesmal Der Nachsommer von Adalbert Stifter

„Wer hundert Brillen aufsteckt,

sieht die Welt nicht mehr.“ So steht es in einem Brief, den Adalbert Stifter am 5. Februar 1853 aus Linz an seinen Verleger Gustav Heckenast in Budapest geschrieben hat. Nicht von ungefähr beginne ich diese literarische Reise mit einem Briefzitat. In ganz ausgezeichnetem Maße gilt für Adalbert Stifter (1805–1868), dass sich sein Werk in seinen Briefen ausgedrückt hat – sein Werk und auch sein Leben, denn dem damaligen Menschen, und vorrangig einem Gefühlsmenschen wie Stifter, stand kaum anderes zum unmittelbaren Ausdruck seiner Emotionen und seines reichen Gemüts zur Verfügung als Briefe: soziale Medien in ihrer zeitintensivsten, reduziertesten und damit reinsten Form. Ausgangspunkt meiner Lektüre ist gleichwohl ein Werk Stifters, ein so häufig zitiertes wie wenig gelesenes, ein verklärtes und verrufenes, geschmähtes und verehrtes: Der Nachsommer, erschienen 1857.

Der Nachsommer ist eine Utopie, wenn nicht die absolute Utopie: So schön und ideal, wie sie hier auf über 700 Seiten beschrieben werden, waren die Menschen und die Welt noch nie, und so werden sie nie sein. Niemand weiß das besser als Adalbert Stifter. Im Alter von zwölf Jahren hat er den Vater verloren, absolvierte als begabtes Kind seine Schulzeit im Stift Kremsmünster, weitab vom heimatlichen Dorf Oberplan im Böhmerwald, heute in Tschechien. Nach einer glänzend absolvierten, mehr als gründlichen Gymnasialzeit geht Stifter nach Wien, um Rechtswissenschaft zu studieren. Doch dort verliert er innerhalb kurzer Zeit völlig den Faden und die Orientierung in seinem Leben. Die große Liebe scheitert, das Studium wird nicht abgeschlossen, mit Privatunterricht in vornehmen Häusern findet er ein karges Auskommen. Soll er Maler werden oder Professor, Jurist oder Dichter? Alles, was er sich ausdenkt, ist großartig, alles, was er umsetzt, nur halb. Oft nicht einmal das.

Im Nachsommer findet diese Zerrissenheit ihren genialen Ausdruck. Wunderschöne, hochbegabte, supergeschickte Menschen, Gelehrte, Forscher, Handwerker schaffen eine Idylle, eine Welt aus Kunst und Rosenblüten. „Mir ist die Kunst das größte irdische Heiligtum …“, heißt es in einem Brief an den Verleger Heckenast aus der Zeit der Niederschrift des Nachsommers. Dieser Religion errichtet Stifter einen Tempel, eine Kathedrale. Auch wenn die Natur darin einen breiten Raum einnimmt, ebenso wie Weltgeschichte und Erdkunde im weitesten Sinne, geht es ihm immer um die Menschen.

Damit bin ich mit meiner Lektüre endgültig im Bregenzerwald angekommen. Denn auch der Bregenzerwald ist für mich die Region der Welt, die ich am meisten mit Menschen verbinde. Mannsbilder und Weibsbilder (pardon), die mein Menschenbild geprägt haben – wahrscheinlich mehr, als ich weiß. Das sind Menschen, bei Stifter und im Bregenzerwald, die das Ihre tun, unbeirrt, aufmerksam, andächtig und demütig, nicht blindwütig und nicht gedankenlos, im Gegenteil. Es sind Menschen, die sich nicht dem Diktat der Mode oder der Politik oder des Zeitgeists unterwerfen: „Die Kraft, sich von jeder Manier fernzuhalten, ist in unseren Tagen umso seltener, weil nicht bloße Manier Mode geworden ist, sondern weil es auch überhaupt schwer ist, innerlich so groß zu sein …“, schreibt Stifter im August 1847 an Aurelius Buddeus von der Augsburger Zeitung.

Es ist eine Frage des Maßes, des Maßnehmens und Maßhaltens, des Maßstabs, der Mäßigung, wenn es darum geht, seine Unabhängigkeit zu wahren, mit seiner Kraft nicht zu protzen, sondern dem Leben gerecht zu werden. Ich habe oft bewundert, wie sicher das Maß ist, mit dem der Bauer abschätzt, wie viel Heu noch auf das Fuder zu laden ist, wie kräftig der Schlag sein muss, der den Zaunpfahl in die Erde treibt, wann es Zeit ist, diese oder jene Arbeit zu verrichten. Nicht, weil sich darin Berechnung äußert oder Raffinesse, Sparsamkeit oder gar Geiz. Nein, es ist etwas, das ich Ökonomie nennen möchte, Ökonomie abseits von Geld und Gewinn. Eine Ökonomie, in der es um eine viel grundsätzlichere Angelegenheit des Menschseins geht: „Ich bin ein Mann des Maßes und der Freiheit…“, wie Stifter im Mai 1848 wiederum an seinen Verleger Gustav Heckenast geschrieben hat. Der Verleger war nicht zuletzt das schlechte Gewissen des Autors, der Vertreter einer Welt der Zwecke, der Kosten-Nutzen-Rechnung, von der Stifter, der Herzensmensch, zeitlebens unsäglich weit entfernt war. „Maßhalten dürfte das schwerste, aber sicherste Merkmal des wahren Künstlers sein“ (am 8. Februar 1854 an Ottilie Wildermuth, eine schwäbische Dichterin) – des Lebenskünstlers, darf man ergänzen, dem das Leben ein Kunstwerk ist; ein Kunstwerk, wie von Hunderttausenden eines gelingt.

Stifter, vor allem der Nachsommer, ist eine sehr spezielle Lektüre. Er ist auf eine ganz eigene und aktuelle Art und Weise aus der Zeit gefallen, aus der des 21. Jahrhunderts ganz besonders. Sowohl der Stiftersche Blick auf die

Natur Oberösterreichs, des Salzkammerguts, der Alpen, des Donautals, auf das Geschichtliche und auf die Gegenwart in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht; und immer wieder und vor allem auf das Menschliche, das ganz Persönliche, Subjektive, Individuelle. Dieser aus Sehnsüchten, Erwartungen, Idealen, Enttäuschungen, Schmerzen seelischer und körperlicher Natur gespeiste Blick Stifters dringt tief in die Tiefe, steigt hoch in die Höhe, schweift ins Unermessliche.

Neben aller Kunstfertigkeit, Wortgewalt und echter Herzensbildung ist der Nachsommer trotz der Tausenden von Rosen, die da gehegt und gepflegt und bewundert und geliebt werden, das unverblümte Ergebnis einer weiteren Eigenschaft, Fähigkeit oder Errungenschaft – je nachdem: nämlich des Mutes. Stifter war bis ans tragische Ende seines Lebens, bis zu jenem Schnitt mit dem Rasiermesser in den Hals, der gewiss kein Unfall war und nach zwei Tagen zum Tod des von mannigfachen Leiden und Schicksalsschlägen geschwächten 62-Jährigen führte, ein mutiger Mensch, der sich der Aufgabe des Menschseins gestellt hat, seines Menschseins an seinem Ort zu seiner Zeit. Nur einmal hat er das Meer gesehen. Das musste genügen. Diesen Stifterschen Mut sähe ich gern im Bregenzerwald am Werk, bei den Wirtschaftenden, den Touristikern, den Verkehrs- und Raumplanern, den Kulturschaffenden, bei „Männlen, Wiblen und Schwarzenbergern“. Peter Natter

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