Programm
Oscar Jockel (* 1995)
wie weiße früchte eines zeitbaums
für Streichquartett und Elektronik (2023) [UA]
I holy! holy! holy! holy!
Johannes Ockeghem (um 1420/25–1497) oder
Albertijne Malcourt († vor Ende 1519) oder Johannes Martini (um 1430/40–1497)
„Malheur me bat“. Chanson (um 1475?)
Oscar Jockel
wie weiße früchte eines zeitbaums
für Streichquartett und Elektronik (2023) [UA]
II l’extase combinatoire
Giuseppe Verdi (1813–1901)
Ave Maria, aus:
Quattro pezzi sacri, Nr. 1 (1889, rev. 1897)
Oscar Jockel
wie weiße früchte eines zeitbaums
für Streichquartett und Elektronik (2023) [UA]
III in modo lidico
Ludwig van Beethoven (1770–1827)
Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart, III. Satz aus:
Streichquartett Nr. 15 a-moll, op. 132 (1825)
Brucknerhaus-Premiere Uraufführung
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Oscar Jockel wie weiße früchte eines zeitbaums für Streichquartett und Elektronik (2023) [UA]
IV weiße symmetrien
– Pause –
Luigi Nono (1924–1990)
Fragmente – Stille, An Diotima für Streichquartett (1979–80)
Konzertende ca. 21:30
Ein Radiomitschnitt des Konzertes ist am Dienstag, 25. Juli, um 19:30 Uhr auf Ö1 in der Sendereihe Das Ö1 Konzert zu hören.
Besetzung
Quatuor Diotima
Yun-Peng Zhao | Violine
Léo Marillier | Violine
Franck Chevalier | Viola
Pierre Morlet | Violoncello
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AUS TRADITION ZUKUNFT
Das von Luigi Nono zwischen Juli 1979 und Jänner 1980 als Auftragswerk der Stadt Bonn für das 30. Beethovenfest komponierte und am 2. Juni 1980, heute vor 43 Jahren, vom LaSalle Quartet uraufgeführte Werk Fragmente – Stille, An Diotima ist „ein Streichquartett von höchster Konzentration, von radikaler Subjektivität, von äußerster Strenge – und von größter Schwierigkeit für die Ausführenden“ (Jürg Stenzl). Es ist eine intime, nach innen gekehrte, gänzlich ungeschützte Selbstbefragung und zugleich eine emphatische Infragestellung jeder nur denkbaren Gewissheit, wozu nicht zum wenigsten so gut wie alles gehört, woran man bis zu diesem Zeitpunkt ein Werk dieser Gattung glaubte erkennen zu können. Anstelle des gewohnten, mehr oder minder stringenten Ablaufs vom ersten Ton bis zum Schlussakkord ersetzt Nonos Quartett Entwicklungen durch Zustände und besteht folglich, wie sein Titel bereits andeutet, aus kleinen, meist fragilen Klanginseln in einem Meer von Stille, die hier zum ersten Mal in der Musikgeschichte den notierten Tönen gleichberechtigt ist. Über kein Kammermusikwerk der Nachkriegsavantgarde dürfte denn auch mehr diskutiert und geschrieben worden sein, bei keinem indes erscheint ein solches Unterfangen vergeblicher, handelt es sich hier doch um „eine musikalische Sprache, die sich jeder verbalen Beschreibung beharrlich entzieht, eine Sprache, die ganz Klang ist“ (Stenzl).
Ein Klang, dem Flageoletts, das Spiel in der höchsten Lage, auf dem Griffbrett und dem Steg sowie mit dem Holz des Bogens gestrichene und geschlagene Töne über weite Strecken eine unsagbare Zartheit verleihen, den vor allem aber eine reduzierte Dynamik prägt, die sich nicht selten an der Grenze zur Unhörbarkeit bewegt.
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„die zarten Töne des innersten Lebens“
Auf tatsächlich Unhörbares verweist das An Diotima des Titels, auf 47 verschiedene, der Partitur an 53 Stellen eingeschriebene kurze Fragmente aus Gedichten Friedrich Hölderlins nämlich, in dessen Briefroman Hyperion die Geliebte des Titelhelden Diotima heißt, die wiederum ursprünglich eine Figur aus Platons Dialog Symposion ist. Musik und Text kommentieren einander jedoch nicht, vielmehr sollen die Worte bei den vier Ausführenden lediglich Assoziationen hervorrufen und so während der Aufführung eine zusätzliche Bedeutungsebene entstehen lassen, die jeder Vorfestlegung und jedem rationalen Zugriff bewusst entzogen ist.
Der Traditionsbezug des Werkes erschöpft sich allerdings nicht in diesen literarischen Zitaten, sondern wird in Gestalt eines Rekurses auf drei für den Komponisten zentrale Stücke der Vergangenheit auch im Musikalischen manifest. Als selbsterklärtes „Grundmaterial“ für sein Quartett, das dessen nie direkt hörbare Tiefenschicht bildet, diente Nono die sogenannte Scala enigmatica, eine von dem Bologneser Musikprofessor und Komponisten Adolfo Crescentini entwickelte und von Giuseppe Verdi in seinem 1889 komponierten Ave Maria für vier Solostimmen a cappella – in einer 1897 revidierten Fassung stellt es das erste der Quattro pezzi sacri dar – verwendete siebenstufige Tonleiter, die aus einem Halbton-, einem Anderthalbton-, drei Ganzton- und zwei Halbtonschritten besteht, wodurch reine Quarten sowie Quinten fehlen und einer experimentellen Chromatik Vorschub geleistet wird.
Die Scala enigmatica (aufsteigend) von Adolfo Crescentini, 1888
Einige Minuten vor Ende des Quartetts finden sich bei Ziffer 48, einem Abschnitt, dem das Hölderlin-Zitat „… wenn ich trauernd versank … das zweifelnde Haupt …“ zugeordnet ist, in der Violastimme tonhöhengetreu, aber frei rhythmisiert die ersten elf Takte des Tenors der geheimnisumwitterten Chanson „Malheur me bat“ („Leid schlägt mich“),
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Aus Tradition Zukunft Luigi Nonos Streichquartett
Luigi Nonos Streichquartett
von deren Text nicht mehr als die titelgebenden drei Worte überliefert sind. Nono kannte dieses dreistimmige Rondeau im phrygischen Modus vermutlich seit seiner Studienzeit, sicher aber durch eine vom befreundeten Bruno Maderna erstellte Version für drei Violen und sah in ihm ein Werk des frankoflämischen Komponisten Johannes Ockeghem, während es in anderen der sämtlich aus dem Zeitraum zwischen 1475 und 1530 stammenden Quellen sowohl dem in Ferrara wirkenden Franko-Flamen Johannes Martini zugeschrieben wird als auch einem gewissen Malcort, womit nach neueren Erkenntnissen der in Brüssel nachweisbare Albertijne Malcourt gemeint sein könnte, über den jedoch fast nichts bekannt ist.
Schon weit vorher, einen Takt nach Ziffer 26 und damit an der formalen Spiegelachse des durch 52 Studienziffern gegliederten Quartetts, begegnet zum ersten Mal die berühmte, aus dem mit Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart überschriebenen III. Satz von Ludwig van Beethovens Streichquartett Nr. 15 a-moll op. 132 entlehnte Vortragsanweisung „mit innigster Empfindung“, die zunächst unter dem Hölderlin-Zitat „… heraus in Luft und Licht …“ steht, bei ihrem weiteren, noch fünfmaligen Erscheinen jedoch stets mit der Wendung „… das weißt aber du nicht …“ ver-
8 Aus Tradition Zukunft
Die Chanson „Malheur me bat“, hier Johannes Ockeghem zugeschrieben, aus dem Harmonice Musices Odhecaton des Ottaviano Petrucci, 1501
Oscar Jockels Streichquartett
knüpft ist, dem einzigen der Zitate, das mehr als zweimal in der Partitur auftaucht. Es ist nichts Geringeres als die Aufforderung an die Ausführenden, den Blick auf den Grund der eigenen Seele zu richten und gleichzeitig einen Aufbruch ins Ungewisse zu wagen, spielend der Zukunft zugewandt.
NEUE BAHNEN
Auf kaum einer musikalischen Gattung lastet (bis) heute ein größerer Traditionsdruck als auf dem Streichquartett. Luigi Nono hat diese Last schmerzlich empfunden und beinahe ein Vierteljahrhundert gezögert, bevor er sich an die Beschäftigung mit einem Quartett wagte, das sein einziges bleiben sollte. Wie mag es da erst einem jungen Komponisten gehen, zumal wenn dessen Quartett einem legendären Meisterwerk der Avantgarde an die Seite gestellt werden soll, das kaum mit anderen Stücken kombinierbar erscheint und daher auch bei seiner Uraufführung der einzige Programmpunkt des Konzertes war, und er sich ferner mit dem Auftrag konfrontiert sieht, die Chanson „Malheur me bat“, Verdis Ave Maria sowie Beethovens „Heiligen Dankgesang“, aus denen Nono in seinem Quartett ‚zitiert‘, gleichsam als Interludien nahtlos in sein Werk einzufügen, Bezüge zwischen diesen drei Stücken, Nonos Streichquartett und der eigenen Musik
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Neue Bah nen
Die Vortragsanweisung „mit innigster Empfindung“ aus dem „Heiligen Dankgesang“ im Autograph von Ludwig van Beethovens Streichquartett Nr. 15 a-moll, 1825
Oscar Jockel
wie weiße früchte eines zeitbaums
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Oscar Jockel, Fotografie von Wolf Silveri, 2022
Ein unendlicher Zeitstrom. Unterhalb. Immer da.
Nur manchmal sind seine Quellen sichtbar.
Wie weiße Früchte eines Zeitbaums.
Die Ziegen stehen auf der Bergwiese, weil sie aus einem kleinen Bach trinken.
Der Bach vor dem Haus fließt auch, weil die Ziegen daraus trinken.
Denn irgendwann werden die Ziegen wieder in den Wasserkreislauf zurückkehren.
Alles trägt zu diesem Strom bei.
Kein Anfang, kein Ende.
Der Fluss des Lebens und der Fluss des Todes.
Es ist also nicht nur so, dass die Ziegen vom Bach abhängig sind.
Auch der Bach hängt gewissermaßen von den Ziegen ab.
So ähnlich verhält es sich mit der Musik und der Zeit.
Ohne Zeit gibt es keine Musik.
Also ist Musik nichts anderes als das Fließen der Zeit.
Umgekehrt ist das Fließen der Zeit nichts anderes als Musik.
Denn mit dem Urknall gab es nicht nur den Knall, sondern auch den Beginn der Zeit.
Alles ist miteinander verwoben.
Die Zeit ist Musik.
Die Musik ist Zeit.
Ein unaufhörlicher Fluss.
Doch nur manchmal nehmen wir die Früchte dieses Zeitflusses wirklich wahr.
Ein Streichquartett.
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Oscar Jockel
Oscar Jockel wie weiße früchte eines zeitbaums
Allen Ginsberg (1926–1997)
Footnote to Howl
Holy! Holy! Holy! Holy! Holy! Holy! Holy!
Holy! Holy! Holy! Holy! Holy! Holy! Holy! Holy!
The world is holy! The soul is holy! The skin is holy!
The nose is holy! The tongue and cock and hand and asshole holy!
Everything is holy! everybody’s holy! everywhere is holy! everyday is in eternity! Everyman’s an angel!
The bum’s as holy as the seraphim! the madman is holy as you my soul are holy!
The typewriter is holy the poem is holy the voice is holy
the hearers are holy the ecstasy is holy!
Holy Peter holy Allen holy Solomon holy Lucien
holy Kerouac holy Huncke holy Burroughs holy Cassady
holy the unknown buggered and suffering beggars
holy the hideous human angels!
Holy my mother in the insane asylum!
Holy the cocks of the grandfathers of Kansas!
Holy the groaning saxophone! Holy the bop apocalypse!
Holy the jazzbands marijuana hipsters peace & junk & drums!
Holy the solitudes of skyscrapers and pavements!
Holy the cafeterias filled with the millions!
Holy the mysterious rivers of tears under the streets!
Holy the lone juggernaut! Holy the vast lamb of the middleclass!
Holy the crazy shepherds of rebellion!
Who digs Los Angeles IS Los Angeles!
Holy New York Holy San Francisco Holy Peoria & Seattle
Holy Paris Holy Tangiers Holy Moscow Holy Istanbul!
Holy time in eternity holy eternity in time
holy the clocks in space holy the fourth dimension
holy the fifth International holy the Angel in Moloch!
Holy the sea holy the desert holy the railroad
holy the locomotive holy the visions holy the hallucinations
holy the miracles holy the eyeball holy the abyss!
Holy forgiveness! mercy! charity! faith!
Holy! Ours! bodies! suffering! magnanimity!
Holy the supernatural extra brilliant intelligent kindness of the soul!
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Allen Ginsberg (Übersetzung: Carl Weissner) Fußnote zum Geheul
Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig!
Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig! Heilig!
Die Welt ist heilig! Die Seele ist heilig! Die Haut ist heilig!
Die Nase ist heilig! Zunge und Schwanz und Hand und Arschloch heilig!
Alles ist heilig! jeder ist heilig! überall ist heilig!
jeder Tag ist in Ewigkeit! Jedermann ist ein Engel!
Der Tramp so heilig wie der Seraph! der Irre so heilig, wie du meine Seele heilig bist!
Die Schreibmaschine ist heilig das Gedicht ist heilig die Stimme ist heilig die sie hören sind heilig die Ekstase ist heilig!
Heilig Peter heilig Allen heilig Solomon heilig Lucien
heilig Kerouac heilig Huncke heilig Burroughs heilig Cassady
heilig die namenlosen geschundenen und leidenden Bettler
heilig die schrecklichen Engel in Menschengestalt!
Heilig meine Mutter in der Irrenanstalt!
Heilig die Schwänze der Großväter aus Kansas!
Heilig das stöhnende Saxophon! Heilig die Bop-Apokalypse!
Heilig die Jazzbands Marihuana Hipster Frieden & Junk & Trommeln!
Heilig die Einsamkeit der Wolkenkratzer und Straßen!
Heilig die Cafeterias voll von den Millionen!
Heilig die mysteriösen Tränenströme unter den Straßen!
Heilig der einsame Götze! Heilig das riesige Lamm der Mittelschicht!
Heilig die irren Hirten der Rebellion!
Wer auf Los Angeles steht, der IST Los Angeles!
Heilig New York Heilig San Francisco Heilig Peoria & Seattle
Heilig Paris Heilig Tanger Heilig Moskau Heilig Istanbul!
Heilig die Zeit in Ewigkeit heilig die Ewigkeit in der Zeit
heilig die Uhren im Raum heilig die vierte Dimension
heilig die fünfte Internationale heilig der Engel in Moloch!
Heilig das Meer heilig die Wüste heilig die Eisenbahn
heilig die Lokomotive heilig die Visionen heilig die Halluzinationen
heilig die Wunder heilig das Auge heilig der Abgrund!
Heilig das Vergeben! Barmherzigkeit! Nächstenliebe! Glaube!
Heilig! Unser! Körper! Leiden! Großmut!
Heilig die übernatürliche extra brillante intelligente Güte der Seele!
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Oscar Jockel wie weiße früchte eines zeitbaums
Letzte Seite der autographen Partitur von Oscar Jockels wie weiße früchte eines zeitbaums, 2023
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Luigi Nono Fragmente – Stille, An Diotima
Erste Seite der autographen Partitur von Luigi Nonos Fragmente – Stille, An Diotima, 1979–80
Luigi Nono
Fragmente – Stille, An Diotima… geheimere Welt …
… allein …
… Wenn aus der Tiefe …
… seliges Angesicht …
… die seligen Augen …
… ins tiefste Herz …
… mit deinem Strahle …
… aus dem Aether …
… wenn aus der Ferne …
… wenn in einem Blick …
… wenn in reicher Stille …
… in stiller ewiger Klarheit …
… ruht …
… denn nie …
… wenn in reicher Stille …
… und Laut …
… tief in deine Wogen …
… im heimatlichen Meere …
… hoffend und duldend …
… heraus in Luft und Licht …
… wie so anders …
… ich sollte ruhn? …
… ins Weite verfliegend …
… einsam … fremd sie, die Athenerin …
… in leiser Lust …
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… staunend …
Luigi Nono Fragmente – Stille, An Diotima
… eine Welt … jeder von Euch …
… das weißt aber du nicht …
… wie gern würd ich …
… das weißt aber du nicht …
… ihr Herrlichen! …
… den Raum …
… leiser …
… unter euch wohnen …
… das weißt aber du nicht …
… verschwende …
… in freiem Bunde …
… Umsonst! … … an die Lüfte …
… die Seele …
… Mai …
… Schatten stummes Reich … … säuselte …
… das weißt aber du nicht …
… Wohl … andere Pfade
… das weißt aber du nicht …
… Wenn in die Ferne …
… dem Täglichen gehör ich nicht …
… wenn ich trauernd versank … das zweifelnde Haupt …
… wo hinauf die Freude flieht …
… zum Aether hinauf …
… im Grunde des Meers …
… an … Neckars friedlichschönen Ufern … eine stille Freude mir … wieder …
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Luigi Nono Fragmente – Stille, An Diotima
Die Fragmente, alle aus Gedichten von F. Hölderlin, die in die Partitur aufgenommen sind,
– sollen in keinem Falle während der Aufführung vorgetragen werden,
– in keinem Falle als naturalistischer, programmatischer Hinweis für die Aufführung verstanden werden aber in vielfältigen Augenblicken sind Gedanken schweigende « Gesänge »
aus anderen Räumen, aus anderen Himmeln, um auf andere Weise die Möglichkeit wiederzuentdecken, nicht « Daß wir entschieden der Hoffnung das Lebewohl sagten »1
Die Ausführenden mögen sie « singen » ganz nach ihrem Selbstverständnis, nach dem Selbstverständnis von Klängen, die auf « die zarten Töne des innersten Lebens »2 hinstreben
– Vielleicht auch eine andere Rückbesinnung auf Lili Brik und Vladimir Majakowskij
1 Aus einem Briefe von F. Hölderlin an Susette Gontard – November 1799
2 Aus einem Briefe von F. Hölderlin an Susette Gontard – September 1799
Die Fermaten sind immer verschiedenartig zu empfinden mit offener Phantasie
– für träumende Räume
– für plötzliche Ekstasen
– für unaussprechliche Gedanken
– für ruhige Atemzüge und für die Stille des « zeitlosen » « Singens ».
Luigi Nono
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Luigi Nono auf einer Pressekonferenz in Amsterdam am 13. Juni 1979, im Monat vor dem Beginn der Komposition des Streichquartetts, Fotografie von Fernando Pereira
Luigi Nono Fragmente – Stille, An Diotima
herzustellen und damit die erste Konzerthälfte zu einem ebensolchen motivischthematisch engverflochtenen Kontinuum zu machen, wie es Fragmente – Stille, An Diotima im zweiten Teil des Abends darstellt? Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass Oscar Jockel nicht allein die Herausforderung angenommen, sondern darüber hinaus noch das Kunststück zuwege gebracht hat, ein Streichquartett zu schreiben, dessen vier Sätze die Fremdkompositionen umrahmen und miteinander verbinden, genauso gut aber für sich stehen können und das idealerweise zwar mit, prinzipiell jedoch auch ohne Elektronik gespielt werden kann, die als Tonspur wiederum ein eigenständiges Werk bildet, das losgelöst vom Quartett aufführbar ist.
Für diese Aufgabe ausgewählt wurde der fünf Jahre nach Luigi Nonos Tod geborene Oscar Jockel keineswegs zufällig, bestehen doch zwischen beiden Komponisten mehr Gemeinsamkeiten, als man auf den ersten Blick vermuten möchte. Neben vielen anderen gehören dazu eine ehrfurchtgebietende geistig-intellektuelle Kapazität, deren Produkt dennoch keine verkopfte Kunst, sondern eine Musik voller Klangsinn und -sinnlichkeit von größter emotionaler Tiefe ist, ein ausgeprägtes Traditionsbewusstsein, das etwa an beider Liebe zur Renaissancepolyphonie ablesbar ist, sich aber auch im starken Form- und Strukturwillen ihrer Kompositionen niederschlägt, sowie das Interesse an komplexen Frage- und Problemstellungen, gepaart mit der Fähigkeit zu deren logischer Durchdringung, was beispielsweise ein intensives Nachdenken über das Verhältnis von Musik und Zeit unter wahrnehmungspsychologischen wie historischen Gesichtspunkten befördert und maßgeblicher Motor der Neugierde ist, die jedes ihrer Werke aufs Neue zu einer Entdeckungsreise ins Innere der Töne macht. All dies lässt in Gestalt von Oscar Jockel, der Dirigieren und Komposition an der Universität Mozarteum Salzburg, am Conservatoire Nationale Supérieur de Musique et de Danse de Paris und an der Kunstuniversität Graz studiert hat, nicht nur auf einen würdigen Nachfolger Luigi Nonos hoffen, sondern zugleich auf einen Komponisten, „der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen“ ist, wie Robert Schumann es in seinem berühmten Artikel Neue Bah
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Neue Bah nen
Oscar Jockels Streichquartett
Oscar Jockels Streichquartett
nen formulierte, mit dem er der Musikwelt im Oktober 1853 den jungen Johannes Brahms vorstellte.
Das Brucknerhaus Linz hat Oscar Jockel seit dem Gewinn des Orgelkompositionswettbewerbs im Juni 2019 konsequent gefördert, ihn in der Saison 2020/21 zum ersten Composer in Residence seiner Geschichte ernannt, ihm das Dirigat zweier midi.music-Konzerte mit dem Bruckner Orchester Linz im Dezember 2021 sowie dasjenige des Festaktes zur feierlichen Eröffnung des Internationalen Brucknerfestes Linz 2022 mit dem Oberösterreichischen Jugendsinfonieorchester anvertraut und am 1. Jänner 2023 mit seinem Orchesterwerk asche ist weiß das neue Jahr eingeläutet, aus der Taufe gehoben von Christoph Sietzen und dem Bruckner Orchester Linz unter der Leitung von Markus Poschner. In den vergangenen vier Jahren sind in diesem Kontext Auftragswerke für die unterschiedlichsten Anlässe und Besetzungen entstanden und zur Premiere gebracht worden, darunter There is no difference between Bruckner and collapsing buildings, eine Klanginstallation auf dem Linzer Taubenmarkt im Rahmen des Bruckner festes 2020, honig.meer.licht, ein Solostück mit Elektronik für den Starcembalisten Mahan Esfahani, das nun als Bestandteil von dessen Recitalreper toire um die Welt reist, sowie Denn er hatte noch eine dringende Verabredung mit den drei Eichen und den zwei Bächen am Fuß des goldenen Berges für Orgel und all the darkness we can hear – all the silence we can see für Violine und Klavier, die beide auf CD eingespielt wurden. Da bereits geschmiedete Pläne am Brucknerhaus Linz bedauerlicher weise keine Chance mehr auf eine Realisierung haben, bedeutet die Uraufführung von wie weiße früchte eines zeitbaums für Streichquar tett und Elektronik im letzten Konzert der auslaufenden Reihe Hier & Jetzt. Der Sound der Gegenwart den vorzeitigen Abschluss dieser künstlerisch so ertragreichen Zusammenarbeit.
Noch einmal bietet sich hiermit die Gelegenheit, hörend der staunen machenden Entwicklung eines großen Talentes beizuwohnen und das tönende Ergebnis dessen zu erleben, was Oscar Jockel selbst in einem Interview seine „über die verstandesmäßigen Grenzen hinweg lebendige Faszination für und Hingabe an Klang und Musik“ genannt hat.
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Neue Bah nen
Bewundern lässt sich in diesem Quartett ein auf klanglicher wie formaler Ebene äußerst fein gewebtes Beziehungsnetz zwischen Musik der ferne(re)n sowie näheren Vergangenheit und der Gegenwart, das dennoch nirgends die eigenständige Stimme des Komponisten überlagert, sondern bruchlos und wie selbstverständlich in den Personalstil integriert ist. So gibt das Werk nicht zuletzt auch eine kompositionstechnisch und tonsprachlich höchst individuelle, vor allem aber überzeugende Antwort auf die Frage, wie man nach Nono (doch) noch Streichquartette schreiben kann.
„AUS ANDEREN RÄUMEN, AUS ANDEREN HIMMELN“
Neben den sorgsam im Notentext verborgenen, dadurch kaum je als solche hörbar werdenden Bezugnahmen auf die Scala enigmatica, die frankoflämische Chanson und den „Heiligen Dankgesang“ – die aus Letzterem entlehnte Vortragsanweisung „mit innigster Empfindung“ findet sich auch im in modo lidico betitelten III. Satz des Streichquartetts von Oscar Jockel – ist beiden Kompositionen die Inspiration durch Lyrik gemein. Denn der Titel des I. Satzes von Oscar Jockels Quartett ist ein Zitat aus Footnote to Howl (Fußnote zum Geheul), dem letzten Teil des berühmten Langgedichts Howl (Das Geheul) von Allen Ginsberg, einem der zentralen Werke der sogenannten Beat Generation, deren wichtigste Vertreter, Carl Solomon, Lucien Carr, Jack Kerouac, Herbert Huncke, William S. Burroughs und Neal Cassady, Ginsberg darin nach seinem Lebensgefährten Peter Orlovsky und sich selbst namentlich erwähnt und ‚heiligspricht‘. Das Gedicht ist der Partitur von wie weiße früchte eines zeitbaums vorangestellt, so wie die HölderlinZitate jener von Fragmente – Stille, An Diotima
Analysiert man die Werke, ein Versuch, der im Falle von Nonos Quartett hundertfach unternommen wurde und mit dessen Ergebnissen inzwischen mühelos ein ganzes Bücherregal zu füllen wäre, offenbart sich jeweils eine hochkomplexe Struktur und streng konstruierte Faktur des musikalischen Geschehens, das eine Vielzahl von Vortragsanweisungen, der Einsatz unterschiedlichster Spieltechniken und ein breites Spektrum dynamischer Vorschriften minutiös durchorganisiert und ausdifferenziert erscheinen lassen. Bei aller daraus resultie-
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„aus anderen Räumen, aus anderen Himmeln“
Streichquartette von Luigi Nono und Oscar Jockel
„aus anderen Räumen, aus anderen Himmeln“
Streichquartette von Luigi Nono und Oscar Jockel
renden Bewunderung für die handwerkliche Meisterschaft der beiden Komponisten ist der eigentliche Erkenntnisgewinn solcher musikwissenschaftlichen Untersuchungen freilich gering. Da sie das Faszinosum der Musik nicht zu erklären in der Lage sind, erbringen sie verlässlich den Nachweis ihrer eigenen Nutzlosigkeit. Dies umso mehr, als es sich hier um Werke handelt, die „hörend entdeckt, buchstäblich erhört“ (Stenzl) werden müssen und einzig durch das Live-Erlebnis im Konzert ihre Wirkung entfalten. Dort eröffnen sie Klangräume, die, wie Nono im Vorwort zur Partitur seines Quartetts schreibt, „aus anderen Himmeln“ stammen mögen, in denen die Zeit stillsteht und Hören Hoffnung schenkt. Ihr Geheimnis aber geben sie nicht preis.
Am Ende ist und bleibt sowohl Luigi Nonos als auch Oscar Jockels Musik zu ihrem wie unserem Glück, was Hölderlin am Beginn der Mnemosyne, seiner letzten Hymne, geschrieben 1803, vor genau 220 Jahren, und benannt nach der Mutter der neun Musen, deren Name nichts anderes als „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ bedeutet, mit einem der großen Verse der Weltliteratur über den Menschen gesagt hat:
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„Ein Zeichen sind wir, deutungslos“
Mag. Jan David Schmitz