Antonio Méndez & Bruckner Orchester Linz | 28.01.2024

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Danzas

españolas 28. JÄNNER 2024 SONNTAGSMATINEEN III SAISON 2023/24


KOMMENDE HIGHLIGHTS SAISON 2023/24 DI 6 FEB 19:30

ROBERT TREVIÑO & BASKISCHES NATIONALORCHESTER

GROSSER SAAL

Ob Boléro oder La Valse – viele Orchesterwerke Ravels sind von Tänzen inspiriert. Auch in Ginasteras Harfenkonzert klingt ein argentinischer Malambo an.

MI 7 FEB 19:30

MICHAEL KORSTICK

Robert Treviño | Dirigent

MITTLERER SAAL

Michael Korstick | Klavier

MI 14 FEB 19:30 MITTLERER SAAL

Tomasi-Musso Gitarrenduo

Gianandrea Noseda | Dirigent

Der deutsche Meisterpianist fordert zum Tanz auf, nach Noten von Weber, Schumann (Carnaval), Bartók (Tanz-Suite), Albéniz, Ginastera und anderen.

TOMASI-MUSSO GITARRENDUO Das Duo überreicht am Valentinstag ein prächtiges Bouquet aus temperamentvollen spanischen und latein­ amerikanischen Tänzen.

MO 11 MAR 19:30

GIANANDREA NOSEDA & MÜNCHNER PHILHARMONIKER

GROSSER SAAL

Ein Fest für Smetana zum 200. Gebutstag – mit der Ouvertüre zu Die verkaufte Braut sowie Die Moldau und anderen Teilen aus dem Zyklus Mein Vaterland

Karten und Infos: +43 (0) 732 77 52 30 | kassa@liva.linz.at | brucknerhaus.at

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Danzas españolas Sonntag, 28. Jänner 2024, 11:00 Uhr Großer Saal, Brucknerhaus Linz

Timothy Chooi | Violine Bruckner Orchester Linz Antonio Méndez | Dirigent

Saison 2023/24 – Sonntagsmatineen III 3. von 6 Konzerten im Abonnement

Brucknerhaus-Debüt


Programm Nikolai Rimski-Korsakow (1844–1908) Capriccio espagnol A-Dur für Orchester op. 34 (1887) I Alborada. Vivo e strepitoso II Variazioni. Andante con moto III Alborada. Vivo e strepitoso IV Scena e canto gitano. Allegretto V Fandango asturiano

Édouard Lalo (1823–1892) Symphonie espagnole d-Moll für Violine und Orchester op. 21 (1874) I Allegro non troppo II Scherzando. Allegro moderato III Intermezzo. Allegretto non troppo IV Andante V Rondo. Allegro

– Pause – Rodion Schtschedrin (* 1932) Carmen-Suite. Ballettmusik für Streichorchester und Schlaginstrumente (1967) Nr. 1 Einleitung. Andante assai Nr. 2 Tanz. Allegro Nr. 3 Erstes Intermezzo. Allegro moderato Nr. 4 Wachablösung. Moderato Nr. 5 Carmens Auftritt und Habanera. Allegro moderato – Quasi andante Nr. 6 Szene. Allegro moderato Nr. 7 Zweites Intermezzo. Larghetto Nr. 8 Bolero. Allegro vivo Nr. 9 Torero. Moderato con stoltezza Nr. 10 Torero und Carmen. Lento – Tempo I Nr. 11 Adagio. Andante moderato – Adagio Nr. 12 Wahrsagung. Andantino – Andante assai Nr. 13 Finale. Allegro – Tempo precedente – Andante assai

Konzertende ca. 13:00 4


alla breve Das Programm auf einen Blick

Danzas españolas – bei diesem Titel denkt man vielleicht an Kompo­ nisten wie Manuel de Falla, Isaac Albéniz, Enrique Granados oder vielleicht Joaquín Rodrigo. Doch weit gefehlt: Dass es zur musikali­ schen Darstellung von spanischen Tänzen nicht zwingend eines spa­ni­ schen Komponisten bedarf, stellen die drei Werke des heutigen Kon­ zer­ts eindrucksvoll unter Beweis. Das Capriccio espagnol etwa schrieb kein Geringerer als Nikolai Rimski-Korsakow, der sich im küh­len Sankt Petersburg an einen drei­ tägigen Aufenthalt als Seekadett an der Küste Asturiens erinnerte und Melodien aus einer spanischen Volksliedersammlung zur klang­ prächtigen Orchestersuite verarbei­tete. Der Franzose Édouard Lalo ver­ließ sich in seiner zwischen Tango und Habanera tanzenden Sympho­ nie espagnole – formal eher ein Vio­linkonzert als eine Sinfonie – ganz auf sein Gespür für spanische Fol­klore, ohne dabei originale Melodien zu verwenden. Rimski-Korsa­kows Landsmann Rodion Schtschedrin wiederum wagte sich in seiner Carmen-Suite an den gleichnamigen Opernklassiker von Georges Bizet, der nebenbei nur wenige Wochen nach Lalos Symphonie espagnole in Paris uraufgeführt wurde und des­ sen populäre Melodien Schtschedrin mit unorthodoxer Orches­trie­rung und formaler Verfremdung in ein völlig neues Licht rückte.

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Danzas españolas

In den frühen 1860er-Jahren schart der Dirigent und Pianist Mili Bala­ kirew eine Gruppe gleichgesinnter Musiker um sich, mit dem Ziel eine nationale Kompositionstradition in der Nachfolge Michail Glinkas, des Wegbereiters der russischen Kunstmusik, zu etablieren. Dem west­ lichen ‚Akademismus‘, dessen wachsender Einfluss sich unter ande­ rem in der Institutionalisierung musikalischer Erziehung in Russland bemerkbar macht, setzen diese „Novatoren“ („Neuerer“), wie sie sich selbst nennen, ihre bewusst autodidaktische, ‚unverfälschte‘ musi­ kalische Sozialisierung entgegen. So üben sie mit Ausnahme Balaki­ rews neben ihrer künstlerischen Tätigkeit allesamt bürgerliche Berufe aus. Zu diesem als „Mächtiges Häuflein“ bekannten Freundeskreis zäh­len neben Balakirew der Arzt und Chemiker Alexander Borodin, der Ingenieur und Fortifikationsexperte César Cui, der Offizier und spä­te­ re Beamte Modest Mussorgski sowie der Seekadett Nikolai RimskiKorsakow. Als Spiritus Rector und Propagator fungiert der einfluss­ reiche und scharfzüngige Kritiker Wladimir Stassow, der das Pro­ gramm der Gruppe federführend mitgestaltet, den Komponisten An­ regungen und Hilfestellung beim Studium russischer Volksmusik und Literatur bietet und sich öffentlich lautstark für die russisch-nationale Ästhetik einsetzt. SPANISCHE DUDELSÄCKE Das Jahr 1871 markiert für Nikolai Rimski-Korsakow gewisser­ma­ ßen den Beginn vom Ende seiner Zeit im Kreis des „Mächtigen Häuf­ leins“. Mit der Annahme einer Professur für Instrumentation und Kom­position am Sankt Petersburger Konservatorium beginnt für ihn eine Phase der Reflexion seines eigenen Schaffens, das er unter dem Ge­6


Nikolai Rimski-Korsakow Capriccio espagnol

Nikolai RimskiKorsakow, Fotografie von Hélène de Mrosovsky [i. e. Jelena Mrosowskaja], um 1900

sichtspunkt handwerklich-technischer Grundlagen, wie sie am Kon­ser­ vatorium vermittelt werden, nun selbst als unzulänglich betrachtet. Nicht länger bereit, den Weg des stolz zur Schau gestellten ,Dilet­tan­ tismus‘ Balakirews weiterzugehen, versucht der 27-Jährige, das Ver­säumte im Selbststudium nachzuholen. Aus dieser Zeit, in der er da­ rü­ber hinaus viele seiner früheren Werke überarbeitet, gehen eine Viel­zahl an Klavierfugen, ein Streichquartett sowie ein Streichsextett her­vor, Gattungen, die aufgrund ihres akademischen Anstrichs im Kreis des „Mächtigen Häufleins“ verpönt sind. Wie schwer Rimski-Korsakow 7


Nikolai Rimski-Korsakow Capriccio espagnol

diese künstlerische Emanzipation fällt und mit welcher Rigorosität er sie betreibt, verdeutlicht ein Schreiben Pjotr Iljitsch Tschaikowskis an seine Brieffreundin Nadeschda von Meck vom Dezember 1877. Tschaikowski betont, Rimski-Korsakow sei „der einzige unter ihnen, der vor fünf Jahren zu der Ansicht gelangte, daß die Anschauungen seiner Freunde durch nichts begründet seien, daß ihre Geringschät­ zung des Studiums und der klassischen Musik, ihre Ablehnung jeder Autorität nichts anderes bedeuten als Unwissenheit. Ich besitze noch einen Brief von ihm aus jener Zeit, der mich tief gerührt und erschüt­ tert hat. Er war völlig verzweifelt, als er eines Tages einsah, daß so viele Jahre nutzlos verstrichen waren und er sich auf einem Wege befand, der nirgends hinführte. Er fragte mich damals um Rat. Lernen mußte er, das war selbstverständlich. Und er tat es auch mit sol­chem Eifer, daß er bald die Schultechnik als die allergrößte Notwendigkeit betrachtete. Im Laufe eines Sommers schrieb er eine Unmenge kon­ trapunktischer Studien und 64 Fugen, von denen er mir zehn zur Durch­sicht übersandte. Diese Fugen waren in ihrer Art makellos, aber schon damals beobachtete ich, daß die Reaktion zu scharf war. Die Ver­ach­ tung des Studiums schlug in das Gegenteil um, in eine Anbetung der musikalischen Technik.“ Erst in den 1880er-Jahren gelingt es Rimski-Korsakow, die freie mu­si­kalische Fantasie seiner frühen Werke mit der technischen Ver­ siertheit und dem theoretischen Fundament seines Selbststudiums zu verbinden. Als klingender Beweis hierfür ragt neben der Sinfoni­ schen Suite Scheherazade op. 35 und der Ouvertüre Russische Ostern op. 36 das 1887 komponierte Capriccio espagnol A-Dur op. 34 he­ raus. Zwar hat der Komponist während einer zweijährigen Seereise im Rahmen seiner Seekadetten-Ausbildung an der Küste Asturiens einmal spanischen Boden betreten, die Inspiration für sein Werk er­ hält er 25 Jahre später allerdings durch eine Sammlung spanischer Volkslieder und -tänze des Komponisten und Musikwissenschaft­ lers José Inzenga Castallanos. „Die spanischen Themen, meist im Tanzrhythmus gehalten, boten reiches Material zur Anwendung von allerhand Orchestereffekten“, hielt er später in seiner Chronik meines musikalischen Lebens fest. 8


Édouard Lalo Symphonie espagnole

Eröffnet wird das Werk mit einer lebhaften Alborada, einem Musik­ stück, das man als Gegenstück zur Serenade mit dem Begriff „Mor­gen­ musik“ beschreiben könnte und das in der nordspanischen Region Asturien traditionell den Sonnenaufgang mit den Klängen von Gaita – einer spanischen Form des Dudelsacks – und Trommeln begrüßt. Die anschließenden Variationen greifen die Melodie einer Danza prima auf, die in Asturien zu unterschiedlichen Anlässen über das Jahr ver­teilt getanzt wird. Nach der um einen Halbton nach oben transpo­nier­ ten Wiederkehr der Alborada leiten festliche Trommelwirbel und Blä­ serfanfaren in die Scena e canto gitano über, bei der einzelne Instru­ mente wilde Solotänze vollführen, zu denen die Streicher schließlich mit der Partituranweisung „quasi Guitara“ die imaginäre Gitarre am Lagerfeuer zupfen. Ohne Pause geht diese Musik in den abschlie­ßen­ den Fandango asturiano über, der sich begleitet vom Rhythmus der Kastagnetten zu immer ausgelassenerer Stimmung steigert und zu­letzt noch einmal die einleitende Alborada im atemlosen Presto-

Gitano: Beim Begriff „gitano“ handelt es sich um eine von den Bezeichneten weitgehend tolerierte Fremd­ bezeichnung für iberische Roma.

Tempo zitiert. „GEFÄHRLICHER SPRENGSTOFF“ Es dauert lange, ehe Édouard Lalo als Komponist reüssieren kann. So verdingt sich der in seiner strengen Selbstkritik ohnehin nicht zu den kompositorischen ,Vielschreibern‘ zählende Franzose die meiste Zeit seines Lebens als Lehrer sowie als Geiger und Bratschist im Or­ches­ ter und in der Kammermusik. Erst im Alter von 50 Jahren gelingt ihm der Durchbruch. Hat er sich zuvor vor allem an der Tonsprache der deutschsprachigen Klassiker und (Früh-)Romantiker wie Ludwig van Beethoven, Franz Schubert und Robert Schumann orientiert – in ei­nem Brief an seinen Kollegen Ferdinand Hiller bezeichnet er Deutsch­ land 1862 als sein „wahres musikalisches Vaterland“ –, be­ginnt er Mitte der 1870er-Jahre, sein harmonisches und melodisches Voka­ bular durch Elemente französischer, spanischer, skandinavischer und auch russischer Volksmusik zu erweitern. Dass derartige Aneignun­ gen bei Lalo nicht nur in folkloristischer Schwelgerei münden, sondern einen essenziellen Schritt in der Erkundung einer neuen, modernen Tonsprache bedeuten, erkennt nicht zuletzt Claude Debussy, der 1900, acht Jahre nach Lalos Tod, an dessen Sohn Pierre Lalo schreibt: „Ihr 9


Édouard Lalo Symphonie espagnole

Vater hat wunderbare Harmonien gefunden, die von manchen Leuten noch immer als gefährlicher Sprengstoff angesehen werden.“ Eines der Werke, das gewissermaßen voll von jenem „gefährliche[n] Sprengstoff“ ist und das bis heute den Ruhm Lalos als Komponisten begründet, ist die 1874 entstandene Symphonie espagnole op. 21, bei der es sich trotz der Bezeichnung als Sinfonie eigentlich um ein Violinkonzert handelt. Stein des Anstoßes für die Entstehung des Wer­kes ist bezeichnenderweise Lalos erstes Violinkonzert F-Dur op. 20, Édouard Lalo, Fotografie von Pierre Petit, 1865

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Édouard Lalo Symphonie espagnole

das der spanische Ausnahmegeiger Pablo de Sarasate am 18. Jänner 1874 im Pariser Théâtre du Châtelet zur Uraufführung bringt. Ange­ spornt durch den Erfolg dieser Premiere, beginnt Lalo bereits wenige Wochen später mit der Arbeit an einem Werk, das er dem Virtuosen abermals auf den Leib schreiben und in das er überdies die Musik aus dessen Heimat miteinfließen lassen will. Die Sarasate gewidmete Par­titur besticht daher nicht nur durch ihren herausfordernden und ein­drucksvollen Solopart, sondern auch durch ihren von folkloristischen Klängen inspirierten Melodienreigen und ihre farbenreiche Orchestrie­rung. Kein Wunder also, dass der Uraufführung am 7. Februar 1875 im Rahmen der Concerts populaires de musique classique des Pari­ser Cirque d’Hiver ein großer Erfolg beschieden ist, der Lalo endlich den lang ersehnten Durchbruch als Komponist beschert. Weder dreisätzig, wie das traditionelle Solokonzert, noch viersätzig, wie die klassische Sinfonie, sondern fünfsätzig konzipiert Lalo das Werk und unterstreicht damit sein Bestreben, kompositorisch neue Wege zu beschreiten. Zwar finden sich in keinem Takt der Symphonie espagnole originäre spanische Melodien, doch schon die ersten Tak­te des einleitenden Allegro non troppo machen klar, dass die Rechtfer­ ti­gung des Titelzusatzes espagnole nur eine Frage selbstbewusster Suggestion ist: Nachdem ein wuchtig aufstampfendes Quintmotiv den ,spanischen Boden‘ bereitet hat, eröffnet die Solovioline mit einer fol­kloristisch anmutenden Melodie, pikant gewürzt mit schwungvollen Triolenfiguren, leichtfüßigen Vorschlagsnoten und einem tempera­mentvoll artikulierten Oktavsprung. Das hier mit pathetischer Klang­gewalt und fulminanter Farbenpracht gezeichnete nationale Kolorit weicht im folgenden Scherzando einem leichtfüßig voranschreiten­den Tanz im 3/8-Takt, über dessen trippelnden Pizzicati und kecken Bläsereinwürfen die Violine eine schwelgerische Weise anstimmt. Unter dem Mantel des anschließenden Intermezzos versteckt sich eine Habanera, ein spanischer Volkstanz im 2/4Takt, dessen punk­tierter Begleitrhythmus und impulsiv zwischen Duolen und Triolen wechselnde Melodik die Solostimme zu immer kühneren Ka­priolen anstachelt. Im Kontrast dazu hebt das Andante mit einem ernst einherschreitenden Bläserchoral an. Den feierlichen 11


Rodion Schtschedrin Carmen-Suite

Gestus greift das melancholische ,Lied ohne Worte‘ der Solostimme auf. Doch nur für kurze Zeit bleibt der Himmel über der spa­ni­ schen Szenerie wolkenverhangen: Wie aus der Ferne nähern sich die Klänge fahrender Musiker*innen, die im finalen Rondo zum Tanz bitten und dabei Beethovens Lustiges Zusammensein der Landleute aus dessen 6. Sinfonie in Erinnerung rufen. Einzig im Mittelteil be­ruhigt sich das ausgelassene Treiben, wenn die Solovioline noch ein­mal zum Tango aufspielt. „DIE VÖGEL WERDEN AUS DEM KÄFIG GELASSEN“ „Postavantgarde heißt für mich, daß alle Einschränkungen, alles ,Das darf man nicht‘, ,Das ist nicht üblich‘, ,Das wird man mißbilligen‘ ge­strichen sind. Die Vögel werden aus dem Käfig gelassen, es wird so geschrieben, wie man schreiben möchte, wie man empfindet. Die Grundlagen heutiger Kompositionstechnik haben sich vervielfacht, sie sind bereichert worden durch alle hervorragenden Erfindungen der musikalischen Avantgarde, die sich zwar überlebt hat, deren Errun­gen­schaften wir uns aber unter Qualen angeeignet haben.“ Mit diesen Worten beschrieb Rodi­on Schtschedrin sein künstlerisches Leitbild, mit dem er sich von der Engstirnigkeit vieler seiner russischen Landsleute abwandte, sich zu­gleich aber auch jeder westliBizets Oper(n): Neben Carmen verwendete Schtschedrin auch Passa­ gen aus Bizets zweiter L’Arlé­ sienne-Suite und der Oper La jolie fille de Perth.

chen Strömung der Avantgarde verwei­gerte. In kaum einem anderen Werk wird diese Individualität, der zu­gleich eine beispiellose künstlerische Offenheit zugrunde liegt, deut­li­cher als in Schtschedrins 1967 komponierter Carmen-Suite. Nicht nur bediente sich der Komponist mit Motiven aus Georges Bizets gleich­na­miger Oper eines ausgewiesenen romantischen Kassenschlagers – ein Affront für alle Avantgardist*innen –, er verwandelte diese Vorlage durch die ungewöhnliche Besetzung aus Streichern, Pauken und vier Schlagzeug-Gruppen sowie durch irritierende Verfremdungen in ein völlig neuartiges Klangerlebnis – ein Affront für alle Traditionalist *innen. Lange hatte er zuvor mit dem Projekt gehadert – „dieser Stoff ist ein­ fach untrennbar mit der Musik von Bizet verwachsen“ –, als er ge­mein­

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Rodion Schtschedrin Carmen-Suite

Maja Plissezkaja und Rodion Schtschedrin, um 1960

sam mit dem kubanischen Choreografen Alberto Alonso erste Plä­ne für ein Ballett auf Grundlage des berühmten Carmen-Sujets wälzte. Die rettende Idee war schließlich, sich dem übermächtigen Vorbild nicht zu verwehren, sondern Bizets Musik stattdessen zur Grundlage der eigenen Darstellung der Dreiecksbeziehung zwischen Carmen, Don José und dem Torero zu machen, die Alberto Alonso in den Mittel­punkt seiner Choreografie stellte – „nicht als sklavische Verneigung vor dem Genius Bizets, sondern im Bemühen um eine schöpferische Auseinandersetzung“, wie es Schtschedrin später selbst beschrieb. Innerhalb von nur 20 Tagen stellte er die Partitur fertig, deren vor­der­gründig auffälligstes Merkmal die Gegenüberstellung einer Strei­cher­gruppe mit nicht weniger als 47 Schlaginstrumenten ist, von Marim­ba und Vibrafon über Bongos, Maracas und Kastagnetten bis hin zu Kuhglocken. 13


Rodion Schtschedrin Carmen-Suite

Die Premiere am 20. April 1967, bei der Schtschedrins Frau, die Pri­ maballerina Maja Plissezkaja, die Titelrolle tanzte, geriet zum Skandal. „Ihre Carmen wird sterben“, soll die sowjetische Kulturministerin Jekaterina Furzewa dem Komponisten zugerufen haben. Später be­ schrieb der Komponist selbst die turbulenten Umstände: Die Premiere des Balletts fand im April 1967 im Bolschoi-Thea­ ter in Moskau statt. Die Reaktion des Publikums war gemischt und die Kritiker waren sich nicht einig. Vertreter der Sowjetre­gie­ rung reagierten unverhohlen negativ und so verärgert, daß die zweite Aufführung abgesagt und stattdessen Der Nußknacker aufs Programm gesetzt wurde. Ich wurde der folgenden Sünden beschuldigt: 1. Das Ballett mache Bizets Meisterwerk lächerlich. 2. Carmen werde sexuell interpretiert (die Kommunisten fürch­ teten sich gewohnheitsmäßig vor Sex.) „Sie haben aus der Hel­din des spanischen Volkes eine Prostituierte gemacht“, lau­te­ te des Urteil der Kulturministerin, Frau J. Furzewa. Die Premiere wurde in der Presse mit keinem Wort erwähnt. Sie wurde total ignoriert, als ob sie niemals stattgefunden habe. So wie die Dinge damals standen, war dieses Schweigen als strenge Rüge und Verdammung auszulegen. Doch Dmitri Schostakowitsch, der in den sechziger und siebziger Jahren bis zu seinem Tod vielen Komponisten meiner Genera­ tion und auch mir selbst unzählige Male aus Schwierigkeiten half (der Weltruhm, den er am Ende seines Lebens genoß, verhalf ihm zu beträchtlichem Einfluß), setzte sich furchtlos für mich ein. Er ging zum Kulturministerium, er sprach mit Regierungs­ver­ tretern an allerhöchster Stelle und legte ihnen dar, daß Scht­sche­drin ein großer Bewunderer des Genies von Bizet sei, daß er ein sehr respektabler Komponist sei, daß er keineswegs die Absicht habe, jemanden zu beleidigen, usw. usw. Gott sei Dank überzeugte er sie. Der Nußknacker wurde wieder vom Programm abgesetzt und die zweite Aufführung von Carmen fand endlich statt. Doch viele Jahre lang durfte das Ballett nicht in anderen Städten aufgeführt werden. 14


Rodion Schtschedrin Carmen-Suite

Am Tag der Premiere machte mir der große Schostakowitsch ein Kompliment, auf das ich noch heute stolz bin: „Es ist schwieri­ger, mit den populären Melodien eines andren ein erfolgreiches Werk zu komponieren, als selbst ein gutes neues Werk zu schreiben.“

Maja Plissezkaja als Carmen, 1974

Und Carmen starb nicht. Rund 350 Mal tanzte Maja Plissezkaja die Rolle, zuletzt noch 1990 im Alter von 65 Jahren. Bis heute ist die Car­ men-Suite Schtschedrins populärstes Werk. Andreas Meier

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Biografie

Timothy Chooi Violine

Der junge kanadisch-amerikanische Geiger Timothy Chooi wird für seine Virtuosität und seine emotionale Tiefe sowie für sein um­ fang­reiches Repertoire gefeiert. 2019 gewann er den 2. Preis beim Con­cours Reine Elisabeth in Brüssel. Dem gingen 2018 1. Preise beim Joseph Joachim Violinwettbewerb in Hannover sowie bei der Schadt String Competition in Allentown (USA) voraus. Einen Namen hatte er sich be­reits in den Jahren zuvor als Preisträger zahlreicher anderer Wettbe­werbe gemacht, darunter der Prix Yves Paternot als „vielverspre­chends­ter Musiker“ der Verbier Festival Academy. Er ist mit renommierten Orchestern wie dem Deutschen SymphonieOrchester Berlin, dem Belgischen Nationalorchester, dem Royal Philharmonic Orchestra, der Royal Liverpool Philharmonic, dem Toronto Symphony Orchestra und dem Wiener Concert-Verein auf der Bühne gestanden, um nur einige zu nennen. Demnächst wird er sein Debüt mit dem European Union Youth Orchestra geben. Seine Auftritte in Konzertsälen wie der Carnegie Hall in New York, dem Musikverein Wien, der Berliner Philharmonie, dem Concertgebouw in Amsterdam und der Royal Albert Hall in London wurden in höchsten Tönen gelobt. Darüber hinaus hat er mit namhaften Künstler*innen wie AnneSophie Mutter, Pinchas Zuckerman, Jukka-Pekka Saraste, Lang Lang und James Ehnes zusammengearbeitet. Als Sohn indonesischer Eltern wuchs Timothy Chooi in den USA auf. Er studierte an der New Yorker Juilliard School und an der Kronberg Academy und erlangte mit 16 Jahren Bekanntheit, als er mit dem Mont­real Symphony Orchestra auftrat. Derzeit ist er Professor für Vio­ line an der Universität von Ottawa und spielt zwei außergewöhnliche Geigen: die Guarneri Del Gesù „Titan“ von 1741, eine Leihgabe von CANIMEX INC. in Drummondville, Quebec, und die „Engleman“-Stra­di­ vari von 1709, eine Leihgabe der Nippon Music Foundation in Japan.

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Biografie

Bruckner Orchester Linz

Das Bruckner Orchester Linz (BOL) zählt zu den führenden Klangkörpern Mitteleuropas, blickt auf eine mehr als 200-jährige Geschichte zurück und trägt seit 1967 den Namen des Genius loci. Das BOL ist Botschafter Oberösterreichs und seines Namensgebers auf nationalen und internationalen Konzertpodien und nimmt im Linzer Musiktheater seine Aufgaben als Orchester des Landestheaters wahr. Seit dem Amtsantritt von Markus Poschner als Chefdirigent vollzieht das BOL einen weithin beachteten Öffnungsprozess, der viele neue Formate generiert, unerwartete Orte aufsucht und in der Vermittlung überraschende Wege findet. Die Zusammenarbeit mit großen Solist*innen und Dirigent*innen unserer Zeit unterstreicht die Bedeutung des oberösterreichischen Klangkörpers. 2024 wurden das BOL und Markus Poschner mit dem renommierten ICMA Special Achievement Award für die Gesamteinspielung der Bruckner-Sinfonien ausgezeichnet. 18


Biografie

Antonio Méndez Dirigent

Der in Palma (Mallorca) geborene und seit 2007 in Deutschland lebende Dirigent studierte in Madrid, bevor er seine Ausbildung an der Universität der Künste Berlin und an der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ Weimar bei Nicolás Pasquet absolvierte. Von 2018/19 bis 2020/21 war Antonio Méndez Chefdirigent des Orquesta Sinfónica de Tenerife. In den letzten Jahren hat er große Erfolge mit Orchestern wie dem Tonhalle-Orchester Zürich, dem Mahler Chamber Orchestra, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem Danish National Symphony Or­ches­tra, dem Rotter­dams Philharmonisch Or­ kest, dem hr-Sinfonieorchester, den Wiener Symphonikern und dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg gefeiert. In dieser Saison kehrt er für Brittens The Turn of Screw ans La Monnaie/De Munt zu­ rück und debütiert unter anderem mit der Sinfonia Lahti, der Royal Northern Sinfonia und dem Real Orquesta Sinfónica de Sevilla. 19


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HIGHLIGHTS BRUCKNER-JAHR 2024 FR 22 MÄR 19:30 GROSSER SAAL Markus Poschner

DI 10 SEP 19:30 GROSSER SAAL Philippe Herreweghe

DI 17 SEP 19:30 GROSSER SAAL Marc Minkowski

SO 22 SEP 18:00 STIFTSBASILIKA ST. FLORIAN Thomas Hengelbrock

ab 200 jahre

MARKUS POSCHNER & BRUCKNER ORCHESTER LINZ Festkonzert zum 50-Jahr-Jubiläum des Brucknerhauses Linz

PHILIPPE HERREWEGHE & ORCHESTRE DES CHAMPS-ÉLYSÉES Übersteigern – Bruckners 8. Sinfonie im Originalklang

MARC MINKOWSKI & LES MUSICIENS DU LOUVRE Entgrenzen – Bruckners 6. Sinfonie im Originalklang

THOMAS HENGELBROCK & MÜNCHNER PHILHARMONIKER Bruckners f-Moll-Messe

Karten und Infos: +43 (0) 732 77 52 30 | kassa@liva.linz.at | brucknerhaus.at

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VORSCHAU: Sonntagsmatineen in der Saison 2023/24

Michi Gaigg & L’Orfeo Barockorchester Bachs Orchestersuiten

Sonntag, 17. März 2024, 11:00 Uhr Großer Saal, Brucknerhaus Linz Orchestersuiten Nr. 1–4 von Johann Sebastian Bach L’Orfeo Barockorchester Michi Gaigg | Dirigentin

Karten und Info: +43 (0) 732 77 52 30 | kassa@liva.linz.at | brucknerhaus.at Herausgeberin: Linzer Veranstaltungsgesellschaft mbH, Brucknerhaus Linz, Untere Donaulände 7, 4010 Linz CEO: Mag. Dietmar Kerschbaum, Künstlerischer Vorstandsdirektor LIVA, Intendant Brucknerhaus Linz; Dr. Rainer Stadler, Kaufmännischer Vorstandsdirektor LIVA Redaktion & Text: Andreas Meier | Biografien & Lektorat: Romana Gilles­berger Gestaltung: Anett Lysann Kraml, Lukas Eckers­torfer | Leiter Programmplanung, Dramaturgie und szeni­sche Projekte: Mag. Jan David Schmitz | Abbildungen: H. Rojder (S. 2 [1. v. o.]), M. Koell (S. 2 [2. v. o.]), M. Fabricci (S. 2 [3. v. o.]), S. Pasqualetti (S. 2 [4. v. o.]), privat (S. 7 & 15), Bibliothèque national de France, Paris (S. 10), International Maya Plisetskaya und Rodion Shchedrin Foundation (S. 13), D. Sweeney (S. 17), R. Winkler (S. 18), IGORSTUDIO (S. 19), K. Kikkas (S. 21 [1. v. o.]), M. Hendryckx (S. 21 [2. v. o.]), B. Chelly (S. 21 [3. v. o.]), F. Grandidier (S. 21 [4. v. o.]), wali pix (S. 22) Programm-, Termin- und Besetzungsänderungen vorbehalten LIVA – Ein Mitglied der Unternehmensgruppe Stadt Linz


Yumeka Nakagawa Werke von Mozart, Debussy, Schumann, Liszt und Gounod

Foto: Susanne Diesner

C. BECHSTEIN KLAVIERABEND 15. Februar 2024 · 19:30 Uhr VERANSTALTUNGSORT UND KARTEN

Brucknerhaus Linz · Untere Donaulände 7 · 4010 Linz +43 (0) 732 77 52 30 · kassa@liva.linz.at C. Bechstein Centrum Linz / Klaviersalon Merta GmbH Bethlehemstraße 24 · A-4020 Linz · +43 (0) 732 77 80 05 20 linz@bechstein.de · bechstein-linz.de


HAPPY DIAMONDS


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