Martin Riccabona
Orgelimpressionismus
Montag, 5. Juni 2023, 19:30 Uhr Großer Saal, Brucknerhaus Linz
Saison 2022/23 – Orgelkonzerte III 3. von 3 Konzerten im Abonnement
Programm
Joseph Ermend Bonnal (1880–1944)
Paysages euskariens (Baskische Landschaften) (1930)
Nr. 1 La Vallée du Béhorléguy, au matin (Das Tal von Béhorléguy, am Morgen)
Nr. 2 Le Berger d’Ahusquy (Der Schäfer von Ahusquy)
Nr. 3 Cloches dans le ciel (Glocken im Himmel)
Marcel Dupré (1886–1971)
Nymphéas (Seerosen). Huit Impressions pour orgue d’après Claude Monet, op. 54 (1958–59) [Österreichische Erstaufführung]
Nr. 1 Rayons (Lichtstrahlen)
Nr. 2 Brumes (Nebel)
Nr. 3 Les Fleurs (Die Blüten)
Nr. 4 Temps lourd (Schwüles Wetter)
Nr. 5 Brises (Windhauch)
Nr. 6 Nocturne (Nacht)
Nr. 7 Aube (Tagesanbruch)
Nr. 8 Vapeurs dorées (Vergoldete Dunstschleier)
– Pause –
Louis Vierne (1870–1937)
Hymne au soleil (Lobgesang an die Sonne), aus: 24 Pièces de fantaisie. Deuxième suite, op. 53, Nr. 3 (1926)
Clair de lune (Mondschein), aus: 24 Pièces de fantaisie. Deuxième suite, op. 53, Nr. 5 (1926)
Brucknerhaus-Premiere
Sigfrid Karg-Elert (1877–1933)
Seven Pastels from the Lake of Constance
(Sieben Pastelle vom Bodensee), op. 96 (1920–21)
Nr. 1 The Soul of the Lake (Die Seele des Sees)
Nr. 2 Landscape in Mist (Landschaft im Nebel)
Nr. 3 The Legend of the Mountain
(Die Legende des Berges)
Nr. 4 The Reed-grown Waters
(Die schilfbewachsenen Gewässer)
Nr. 5 The Sun’s Evensong (Der Sonne Abendlied)
Nr. 6 The mirrored Moon (Der gespiegelte Mond)
Nr. 7 Hymn to the Stars (Hymne an die Sterne)
Konzertende ca. 21:30
Besetzung
Unter dem Titel Orgelimpressionismus begibt sich Martin Riccabona, Kustos der 2018 neu erbauten Orgel des Brucknerhauses Linz, auf eine musikalische Reise, die ihn durch sämtliche Register seines Instruments, durch kaum spielbares und sogar buchstäblich unspielbares Repertoire und nicht zuletzt durch Klangwelten von berückender Leuchtkraft und Schönheit führt. Auf dem Weg von den Baskischen Landschaften Joseph Ermend Bonnals bis hin zu den Sieben Pastellen vom Bodensee Sigfrid Karg-Elerts können dabei, beleuchtet vom Sonnen- und Mondenschein der Werke Louis Viernes, die Seerosen Claude Monets im klingenden Spiegel ihrer Vertonung durch Marcel Dupré bestaunt werden. Andreas Meier hat sich, halb Reiseführer, halb blinder Passagier, an die Fersen des Organisten geheftet.
Andreas Meier: Lieber Martin, Orgelimpressionismus. Da stellt sich einmal vorweg die grundlegende Frage: Gibt es das überhaupt?
Martin Riccabona: Tatsächlich gibt es, was das Repertoire betrifft, nicht so wahnsinnig viel. Es kommt natürlich immer darauf an, wie man „Impressionismus“ definiert. Ist es etwas, das sich auf die Kompositionstechnik beschränkt oder einfach die Herangehensweise, als Künstler mit visuellen Eindrücken zu arbeiten? In der Klaviermusik ist es leicht, da gibt es die großen Namen – Debussy, Ravel und so weiter –, anhand derer die Abgrenzung relativ einfach ist. Bei der Orgel gibt es das nicht. Aber wenn man etwas als Impressionismus bezeichnen kann, dann sind es die Stücke des heutigen Abends.
„die Musik, die Orgel und ich“
AM: Nun handelt es sich bei deinem Programm ja in gewisser Weise um eine musikalische „Reise“, da liegt es nahe, am Anfang und damit bei Joseph Ermend Bonnal zu beginnen. Joseph Ermend Bonnal, Joseph Bonnal, Joseph-Ermend, Ermend-Bonnal, praktisch alle Schreibweisen hat er selbst verwendet. Mit dieser Form des Künstlernamens sind wir auch schon beim „typisch Französischen“, wozu gerade im Bereich der Musik auch die Fokussierung auf eine Stadt, auf ein Konser vatorium zählt: das Conservatoire de musique et de déclamation in Paris, an dem im 19. Jahrhundert praktisch alle Komponisten ihre Ausbildung durchliefen. Bonnal studierte bei Gabriel Fauré, Alexandre Guilmant und Louis Vierne, war später Assistent von Charles-Marie Widor und Charles Tournemire an den Pariser Kirchen Saint-Sulpice und Sainte-Clotilde und stand damit in enger Beziehung zu den wichtigsten Organisten seines Landes. 1921 verließ er diesen Kreis jedoch und wurde Konservatoriumsdirektor in Bayonne, einer kleinen Stadt im französischen Baskenland. Hier schrieb er 1930 das Werk Baskische Landschaften. Was ich bei diesem Stück besonders spannend finde, ist das Nebeneinander von Schlichtem, Folkloristischem und einer unglaublich komplexen Harmonik und Satztechnik.
Modi: Kirchentonarten, die in der abendländischen Musik vom Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert, ähnlich den heute gebräuchlichen Dur- und Molltonarten, den Tonvorrat von Stücken definierten Schweller: Fußregler, mit dem die Lautstärke des Schwellwerks, etwa durch das Öffnen und Schließen von Holzjalousien, reguliert wird
MR: Ja, er hat wirklich einen ganz speziellen Personalstil entwickelt, eine Mischung aus verschiedenen Elementen, die es in dieser Form eigentlich bei niemand anderem gibt. Was man darüber hinaus schon anhand der optischen Gestaltung der Partitur sieht, ist die Nähe zu Tournemire, die Verwendung von Modi bis hin zu Anlehnungen an die Gregorianik, das steht ganz klar in dieser Tradition. Bonnal wurde ja nach seiner Rückkehr nach Paris auch Tournemires Nachfolger an Sainte-Clotilde. Und gleichzeitig ist es unüberhörbar, dass das Stück während seiner Zeit in Bayonne entstanden ist. Ob er wirklich baskische Volksmelodien verarbeitet hat, kann ich nicht sagen, aber er wollte auf jeden Fall diesen Eindruck erzeugen.
AM: Vor allem im zweiten Satz, der ja wirklich wie ein Volkslied beginnt.
MR: Und diese vordergründige Schlichtheit trifft zusammen mit einer unglaublich virtuosen Behandlung der Orgel. Ich kenne kaum einen Komponisten, bei dem man in diesem Maße alle Finger und Füße voll zu tun hat. Es stehen auch Dinge in den Noten, die man eigentlich nicht umsetzen kann. Also diese Dynamikangaben, wenn beide Füße und Hände beschäftigt sind, und man dann den Schweller betätigen soll, das ist mehr als idealistisch. (lacht)
AM: Aber er hat das Stück auch selbst gespielt, als Komponist ist man ja oft undogmatischer, lässt vielleicht ein, zwei Töne weg, um noch den Schweller zu treten, was man sich als Interpret vielleicht nicht zugesteht …
MR: … und gleichzeitig muss man immer im Hinterkopf behalten, dass Schwellerangaben auch die Interpretation beeinflussen können und nicht immer zwingend eins zu eins umgesetzt werden müssen. Dazu kommt, dass Bonnals Musik zeitlebens nur wenig gespielt wurde und er nicht das aufführungspraktische Feedback bekommen hat wie viele seiner Kollegen.
AM: Von allen Werken des Konzerts sind Bonnals Baskische Landschaften vielleicht die impressionistischsten. Man hat schon bei den
ersten Tönen sofort diese Landschaftsbilder vor Augen, diese weichen, fließenden Linien, dieses harmonische Mäandern, man glaubt sich fast in den Klangwelten Debussys. Im Vergleich dazu ist der dritte Satz …
MR: … viel konservativer!
AM: Genau, das ist eigentlich eine traditionelle Toccata.
MR: Ganz in der französischen Tradition mit dieser typischen Mehrteiligkeit und diesem Orchestereffekt des Zu- und Wegschaltens, der sogenannten Jeux de combinaison, die auf eigenen Windladen stehen und die man etappenweise bedienen kann, etwa in der Form wie beim Orchester Holz- und Blechbläser stufenweise hinzutreten würden. Das geschieht hier mit den Orgelregistern und folgt einem ganz fixen Schema. Am niedrigsten Punkt des dynamischen Verlaufs geht dann das Schwellwerk zu, um einen Pianissimo-Effekt ,hinter geschlossenem Vorhang‘ zu erzeugen. Aber rein technisch ist hier relativ wenig Neues zu finden, das Stück steht eindeutig in der Tradition der Finalsätze von Orgelsinfonien eines Charles-Marie Widor oder
eines Louis Vierne. Der einzige wesentliche Unterschied neben der Tonsprache ist vielleicht, dass es unglaublich dicht gearbeitet ist: Bonnal schichtet so viele Ebenen übereinander, wie man es bei seinen Zeitgenossen eigentlich nicht findet.
AM: Einer dieser Zeitgenossen war Marcel Dupré, der seine Laufbahn ebenfalls am Pariser Konservatorium begann, Schüler von Alexandre Guilmant, Louis Vierne und Charles-Marie Widor war, später selbst Orgelprofessor wurde und von 1953 bis 1956 sogar Direktor des Konservatoriums war. Er hat wirklich die komplette akademische Karriere durchlaufen.
MR: Und er war jemand, der prädestiniert war für diese Art von Erfolg, sehr machtstrebsam, sehr selbstbewusst, sehr wohlwissend, wie und mit wem er kommuniziert … was ihn nicht unbedingt zum größten Sympathieträger gemacht hat. (lacht) Mit seinem Lehrer Vierne etwa hat er sich später wahnsinnig zerstritten. Er hat ihn ja an NotreDame de Paris vertreten, als Vierne wegen seines Augenleidens in der Schweiz war und hat sich in dessen Abwesenheit einen Titel zugelegt, der ihm nicht zustand.
AM: Die Geschichte ist kompliziert, aber die Kurzform ist, dass Dupré nach Viernes Rückkehr 1920 zumindest auf den Titel „Organist an Notre-Dame“, in Abgrenzung zu demjenigen Viernes als „Titularorganist von Notre-Dame“, bestand und infolge dieses nur marginalen Unterschieds vor allem bei seinen Auslandsreisen als „Organist von Notre-Dame“ angekündigt wurde.
MR: Vierne hat ihm das sehr übel genommen und bei eigenen Konzerten daraufhin sogar den Zusatz „titulaire“ seines Titels „Organiste titulaire“ auf Plakaten und Programmzetteln unterstreichen lassen. Nach 1920 war zwischen den beiden nicht mehr viel Liebe zu spüren.
AM: 1934 wurde Dupré dann Organist an Saint-Sulpice, in der Nachfolge Widors, dessen Assistent an eben jener Orgel – gewissermaßen also Organist an Saint-Sulpice – Bonnal zuvor gewesen war. Darüber hinaus war Dupré aber vor allem als Konzertorganist bekannt, ein beispielloser Virtuose, eine richtige Berühmtheit!
MR: Der Star seiner Zeit auf der Orgel! Und vielleicht der erfolgreichste Konzertorganist bis heute. Tourneen in Europa, Australien, den USA: Er kannte unglaublich viele Orgeln und hat die Entwicklung in verschiedenen Ländern am Puls der Zeit mitverfolgt. Sein großes Motto war ja: „Rattacher l’orgue à la musique en général“, also die Orgel wieder an die Entwicklung der Musik anzuschließen. Aus heutiger Sicht muss man sagen, es ist ihm nicht gelungen; wir sind immer um den Anschluss bemüht und werden doch irgendwie immer eine Nische bleiben; aber das ist vielleicht auch ganz charmant. (lacht) Ein Versuch
in dieser Hinsicht war der Umbau seiner Hausorgel. Die hat er nach dem Tod von Alexandre Guilmant, der wie er in Meudon wohnte, aus dessen Besitz erworben und 1934 elektrifizieren lassen, und zwar so umfassend, dass man eigentlich jeder Taste eine eigene Registrierung zuweisen konnte. Leider hat er nur ein Werk dafür komponiert, das sind die Nymphéas, die Seerosen. Er hat jahrzehntelang an dieser Orgel experimentiert, hat das auch als sein Labor beschrieben.
AM: Er hat sie, wie du sagst, elektrifiziert, also im Wortsinne modernisiert. Auch hat er ein viertes Manual hinzugefügt, die Manuale um eine Oktave erweitert, spielfähig bis c5. Und er hat diese sogenannten Tastenfesseln konstruiert.
MR: Das war wirklich etwas Neues. Damit konnte ein gespielter Akkord fixiert und durch den nächsten angeschlagenen Akkord abgelöst werden. Also alternierend, nicht additiv. An unserer BrucknerhausOrgel gibt es tatsächlich beide Funktionen.
AM: Man kann sich das in etwa wie das Sostenuto-Pedal, also das mittlere Pedal am Flügel vorstellen. Man spielt einen Ton oder einen Akkord, drückt das Pedal und der Klang wird „gehalten“, klingt also bei gehaltenem Pedal weiter, während man gleichzeitig etwas anderes spielen kann. Alternierend bedeutet bei Duprés Orgel: Das Spielen eines weiteren Akkords löst den vorhergehenden auf.
MR: Wobei der Effekt beim Klavier natürlich ein anderer ist, weil der Ton nach dem Anschlag verklingt. Auf der Orgel dagegen schafft die Tastenfessel die Möglichkeit, mehr Klangebenen zu erzeugen, als man mit Hand und Fuß könnte. Deshalb klingen die Nymphéas so multiinstrumental, als wäre mehr als ein Spieler beteiligt. Gleiches gilt für die geteilten Registrierungen, vor allem im Pedal. Da ist man nicht selten zweistimmig unterwegs: Der rechte Fuß unterstützt oft die Akkordstrukturen der Hände und der linke spielte die Basslinie.
AM: Das heißt, es gibt die Möglichkeit, die linke Hälfte des Pedals anders zu registrieren als die rechte.
MR: Genau, und diese Teilung ist etwas, was auf der BrucknerhausOrgel leider nicht funktioniert, da sie ja grundsätzlich mechanisch angesteuert wird, was für die meiste Musik wiederum ein großer Vor teil ist. Da muss ich mit anderen Mitteln arbeiten, hin und wieder auch den Assistenten mitspielen lassen, um das zu simulieren.
AM: Duprés Hausorgel ist ja auch optisch eindrucksvoll. Rechts und links vom Spieltisch sind diese Schaltpulte. Das sieht aus wie in einem Raumschiff aus Star Wars (lacht)
MR: (lacht) Ja, das ist wie ein Flugzeugcockpit, es gibt einen Hebel für alles! Heutzutage sind wir mit den digitalen Hilfsmitteln viel reduzierter.
AM: Man kann diese unzähligen Knöpfe theoretisch in nur einem Display verpacken.
MR: Ja, als Dupré die Nymphéas komponiert hat, war dieser extreme Fortschrittsgedanke längst aus der Zeit gefallen, man war im Orgelbau wieder zur Einfachheit zurückgekehrt, hat sich an barocken Vorbildern orientiert. Daher wurden solche Ideen nicht weiterverfolgt. Erst jetzt, im Computerzeitalter, sind wir wieder an dem Punkt, wo es möglich ist, diese Musik überhaupt aufzuführen, mehr als sechzig Jahre nach ihrem Entstehen. Eigentlich total verrückt.
AM: Für das Instrument komponierte Dupré, wie du erwähnt hast, ein einziges Stück: die Nymphéas, bezugnehmend auf Claude Monet, den er zeitlebens verehrt hat.
MR: Und mit dessen Großcousin Édouard Monet er eng befreundet war …
AM: … dem das Stück ja auch gewidmet ist. In Anbetracht von Claude Monets Seerosen wäre diese private Verbindung vermutlich nicht einmal nötig gewesen, denn sie gehören ohne Zweifel zu den wenigen Werken der Bildenden Kunst, die praktisch Allgemeingut sind. Monet
malte rund 250 Bilder mit Seerosen, Dupré hatte allerdings einige ganz spezielle vor Augen, nämlich die acht großformatigen Kompositionen, knapp zwei Meter hoch und jeweils zwischen 6 und 17 Meter breit, die seit 1927 im Pariser Musée de l’Orangerie ausgestellt sind ...
MR: … wo ich schon einmal war und mir die Bilder im Original ansehen konnte. Dupré war fasziniert von diesen Gemälden und hat versucht, sie in Musik zu übersetzen. Und umgekehrt, nachdem seine Schülerin Rolande Falcinelli die Nymphéas auf seiner Hausorgel aufgenommen hatte, wurde diese Aufnahme über mehrere Jahre dreimal in der Woche im Museum abgespielt. Heute ist das leider nicht mehr so.
AM: Die Bilder hängen, jeweils als Quartett, in zwei ovalen Räumen, die speziell dafür konzipiert wurden ...
MR: … und in denen das einfallende Tageslicht eine wichtige Rolle spielt.
AM: Genau, kein künstliches Licht, um auch den impressionistischen Gedanken weiterzudenken. Man wird von den Gemälden umgeben, befindet sich wirklich in dieser imaginierten Landschaft.
MR: Man hat das Gefühl, man sitzt im Teich! (lacht)
AM: Es ist schon verrückt, Monets Obsession mit den Seerosen: Er hat sich auf seinem Anwesen in Giverny einen riesigen Garten anlegen lassen, um den sich zeitweise sieben Gärtner kümmerten, wobei einer von ihnen eigens für die Seerosen zuständig war. Es gibt Berichte, dass dieser Gärtner die Seerosen für Monet von einem Boot aus zu Gruppen zusammenrechen musste. Wenn man so will: Ein extrem künstliches Verhältnis zum Natürlichen.
MR: Ein sehr gutes Stichwort, weil wir das auch in der Musik von Dupré wiederfinden. Was die Motive bei Monet angeht, gibt es zwischen den Bildern ja nur marginale Unterschiede, der Ausschnitt ist verändert, die Perspektive, aber das Motiv ist ständig dasselbe, nur die Schattierungen spielen eine Rolle, welches Wetter, welches Licht lässt die Seerosen und das Wasser wie erstrahlen. Und ich finde es absolut kongenial, wie Dupré das in Musik setzt. Es gibt nur wenige Sätze, die wirklich das Gefühl von aktivem Geschehen vermitteln. Zum Beispiel der Gewittersatz, Temps lourd, da gibt es eine Entwicklung, da kommt das Unwetter, entlädt sich, zieht ab und lässt eine geklärte Stimmung zurück. Aber die meisten Sätze sind betrachtend, als würde man vor dem Gemälde stehen und diese Stimmung aufsaugen. Das ist mit ganz raffinierten Mitteln gestaltet, mit dieser avancierten Orgeltechnik aber eben auch unglaublich künstlich. Als Interpret steht man vor der Herausforderung, diese komplexen Abläufe, Sostenuto, Doppelpedal, Schweller auf und zu, eine Hand auf mehreren Manualen und all diese Dinge zu bewältigen und darf gleichzeitig nie das innere Bild aus dem Auge verlieren.
AM: Das macht auch noch einmal die Parallele zur Malerei deutlich. Auch da gibt es ja diesen berühmten „Schritt zurück“ vom Gemälde, um das große Ganze überblicken zu können, während man in der Nähe die Details, die Farbnuancen, die Haptik regelrecht spüren kann. Auch Duprés Klangbild ist mit feinem Pinselstrich gezeichnet, aber letztendlich läuft man schnell Gefahr, diese Details zu sehr hervorzuheben und dabei das Bild als solches in den Schatten zu stellen.
MR: Richtig und dazu kommt noch eine Komponente: Das Stück ist so spezifisch für diese eine Orgel geschrieben, dass nur auf diesem Instrument auch alles funktioniert. Die Registrierungsangaben sind minutiös bis ins Detail, auf einer anderen Orgel funktioniert das nicht eins zu eins. Man muss dann versuchen herauszufinden, welche Balance beabsichtig ist, um an den Punkt zu kommen, an dem die Musik wirkt. Das ist immer eine große Herausforderung. Spannend ist ja auch, dass das Stück außerhalb Frankreichs bis heute fast nie gespielt wurde.
AM: Es gibt zwei Aufnahmen auf Duprés Orgel in Meudon …
MR: … und es gab ein paar Aufführungen in Amerika mit Einrichtungen, also Bearbeitungen, die dort funktioniert haben. Ben van Oosten hat es auf CD aufgenommen. Ich habe die Ehre, die Nymphéas in der Originalversion zum ersten Mal in Deutschland und Österreich aufzuführen, eigentlich verrückt bei einem Stück, das über 60 Jahre alt ist.
AM: Du hast bereits erwähnt, dass auf der Orgel des Brucknerhauses alles bis auf die geteilte Registrierung technisch möglich ist.
MR: Ja. Was beispielsweise ganz wichtig ist und was wir an unserer Orgel haben, sind die sogenannten Oktavkoppeln, also dass man ein Werk oktavversetzt in sich selber koppeln kann oder zwischen den einzelnen Werken oktavversetzt koppeln kann. Nur damit bekommt man diese spezifischen Klangfarben hin. Auf der BrucknerhausOrgel muss ich nur hier und da geringfügige Adaptionen vornehmen, etwa Teile der Pedalstimme ins Manual legen oder den Registranten mitspielen lassen.
AM: Auf Dupré folgt im Konzert Louis Vierne, über den wir ja bereits gesprochen haben. Eine hochspannende Persönlichkeit.
MR: Ein von Kind an gezeichneter Mensch. Praktisch erblindet mit einer schweren Sehbehinderung aufgewachsen, dann 1906, im Alter von 36 Jahren ein Unfall, bei dem er sich das Bein gebrochen hat, und anschließend das Gehen und auch das Orgelspielen neu lernen musste. 1911 starb seine Mutter, nur vier Tage danach sein Lehrer und enger Freund Alexandre Guilmant. In seiner Autobiographie hält er fest, 1906 sei das Jahr des Beginns der Katastrophen gewesen, von da an bis zum Ende seines Lebens folgte unablässig eine auf die andere. Damit verbunden waren auch sehr viele persönliche Enttäuschungen, etwa, dass ihm nie die Orgelklasse des Konservatoriums anvertraut wurde. Das hat er nicht leicht weggesteckt. Dann die vier Jahre, 1916 bis 1920, in denen er wegen seines Augenleidens fast ununterbrochen in der Schweiz in Behandlung war. Ein sich verschlech-
Werk: Bezeichnung für einen selbständigen Teil einer Orgel –zum Beispiel Hauptwerk, Pedalwerk, Schwellwerk –, bestehend aus Gehäuse, Pfeifen und Windlade
ternder allgemeiner Zustand, große Herzprobleme, zuletzt konnte er nicht mehr selbstständig auf seine Orgelempore in Notre-Dame hochsteigen, musste getragen werden. Und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist Viernes Musik unglaublich geistreich! Natürlich sind die getragenen Sätze ganz besonders ausdrucksvoll, aber Vierne kann auch witzig und überraschend schreiben.
AM: Die zwei Stücke des Konzerts, die Hymne au soleil, also der Lobgesang an die Sonne und Clair de lune, der Mondschein aus den Pièces de fantaisie passen wirklich perfekt in dieses Programm. Ich würde sagen, Viernes Musik ist im Vergleich zu Dupré und Bonnal vielleicht etwas strenger …
MR: … definitiv, es ist an diesem Abend sicher die konservativste Musik. In der Harmonik gibt es Aspekte, die nicht verleugnen, dass er wusste, wer Debussy war, aber gleichzeitig war Vierne durch und durch Spätromantiker und nichts anderes. Was in diesen Pièces de fantaisie aber durchscheint, das hat er mit Dupré gemeinsam, ist ein gewisser amerikanischer Einfluss. Beide waren relativ viel in den USA auf Tournee, Dupré noch mehr als Vierne, und waren sehr beeindruckt von den spätromantischen amerikanischen Orgeln und deren Klangmöglichkeiten. Die Pièces de fantaisie sind zum Teil während, zum Teil nach Viernes Tourneen entstanden und spielen daher auch mit Klangmöglichkeiten, die über das Spektrum der französischen Orgeln hinausgehen.
AM: In welche Richtung?
MR: Mehr Vielseitigkeit, vielleicht auch mehr Effekt, was nicht abwertend gemeint ist. Die Sonne wird sehr pompös, sehr bombastisch geschildert und der Mond, dem haftet schon eine gewisse Art von Kitsch an, wobei Debussy hier natürlich ein Vorbild war.
AM: Es ist sicher kein Zufall, dass Viernes Clair de lune mit derselben Terz f–as beginnt wie Debussys berühmtes Klavierstück aus der Suite bergamasque
Louis Vierne beim Kopieren seiner Orgelsinfonie Nr. 6 h-moll: Mit der linken Hand liest er das in Blindenschrift skizzierte Werk und überträgt es in konventionelle Notation, 1930
MR: Und es ist eine ganz typische Klaviertonart der Zeit, darauf hat mich mein Lehrer Ben van Oosten einmal aufmerksam gemacht. DesDur ist eigentlich eine der schönsten Tonarten auf dem Klavier, viele klanglich besonders weiche, warme Stücke stehen in dieser Tonart.
AM: Demgegenüber ist der Lobgesang an die Sonne wesentlich effektvoller, kraftvoller.
MR: Auch hier ist die Wahl der Tonart natürlich kein Zufall. Soleil, sol majeur, G-Dur.
AM: Das Stück hat ja geradezu etwas marschartiges, fanfarenartiges. Man hört Anklänge an Wagners Meistersinger, die in ihrer Verschränkung von strenger Form und progressiver Harmonik ja auch ein Bezugspunkt für Vierne waren.
MR: Es gibt innerhalb der 24 Pièces de fantaisie, die Vierne zu vier Suiten angeordnet hat, verschiedene Arten von Charakterstücken. Es gibt die ganz getragenen Kantilenen wie Clair de lune, es gibt toccatenhafte und scherzoartige Stücke und es gibt eben diese eher pompösen marschartigen Sätze, wie auch die Marche nuptiale als Finalstück der ersten Suite. Ich denke, er wollte auch zeigen, welche Arten von Charakterstücken in moderner Schreibweise möglich sind, und natürlich auch alle 24 Tonarten bespielen.
AM: Was ja auch ein bewusstes Statement ist: einerseits die impressionistischen Anklänge, der Titel Pièces de fantaisie, phantastische Stücke, und anderseits die Orientierung an barocken Vorbildern, diese Tonartenfolge oder auch der Fingerzeig, das Werk mit einem Präludium zu beginnen. Vierne hat sich ja durchaus differenziert zu den impressionistischen Strömungen geäußert und betont, dass er an Farben interessiert, ja geradezu besessen von Klangfarben war. Wichtiger aber war ihm das klingende Werk an sich, das musikinhärenten Parametern Genüge leisten muss.
MR: Und sein Formverständnis ist natürlich ein viel konservativeres, „klareres“ als das der Impressionisten.
AM: Es liegt natürlich auf der Hand: Wie soll jemand, der fast blind ist, der nicht in dem Maße über das Visuelle rezipieren kann, imstande sein, impressionistische Musik zu schreiben?
MR: Es gibt dahingehend eine Konzertkritik von Debussy, unter Pseudonym, zur Teiluraufführung von Viernes 2. Orgelsinfonie. Debussy äußert sich da ganz euphorisch, betont aber auch: „Der alte Johann Sebastian Bach, unser aller Vater, wäre sehr zufrieden mit Monsieur Vierne.“ Zwischen den Zeilen steckt da natürlich die wohlwollende Kritik, dass er es doch etwas konservativ fand.
AM: Ein schönes Detail des heutigen Programms ist, dass die Stücke von Vierne ihr Spiegelbild in denen von Sigfried Karg-Elert finden, in dessen Sieben Pastellen vom Bodensee es die Sätze Der Sonne Abendlied und Der gespiegelte Mond gibt. Karg-Elert ist ja der einzige Nicht-Franzose des Abends.
MR: Aber wenn es einen Orgelimpressionisten außerhalb Frankreichs gab, dann Karg-Elert! Dieser Mensch war imstande, ein Kaleidoskop an verschiedenen Farben und Schreibweisen hervorzubringen. Das hat im frühen 20. Jahrhundert, außer vielleicht Strawinski, kein anderer Komponist geschafft. Auf die Frage, ob es einen Personalstil KargElerts gibt, kann man dahingehend nur sagen: Es gibt mindestens
zwanzig verschiedene Personalstile! Und dieses Werk ist so pittoresk und so unmittelbar mit optischen Eindrücken verbunden, dass es fast greifbar ist.
AM: Eklektizismus trifft es vielleicht, auch wenn der Begriff oft eher negativ konnotiert ist. Karg-Elert saugte einfach alles auf, konnte die verschiedenen Einflüsse aber auch in sich vereinen, er konnte das eine wie das andere ...
MR: … und hat sich zuweilen auch trefflich lustig gemacht über andere Komponisten. Es gibt eine Sammlung von Harmoniumstücken, 33 Portraits, die jeweils einem Komponisten gewidmet sind, und man ist wirklich verblüfft, wie Karg-Elert die verschiedenen Stile imitiert, sei es Palestrina, Beethoven, Bruckner oder einer seiner Zeitgenossen. Er hatte ein Verständnis von Handwerk, das es ihm ermöglicht hat, diese Feinheiten sofort herauszuarbeiten.
AM: Wo du vom Harmonium sprichst: Im Unterschied zu Bonnal, Dupré und Vierne war Karg-Elert nicht unbedingt für seine herausragenden Fähigkeiten als Organist bekannt, war nicht der große, erfolgreiche Virtuose. Als er etwa 1932 eine Einladung für eine USA-Tournee annahm, geriet das zu einem regelrechten Fiasko.
MR: Das Harmonium war dagegen das Instrument, mit dem er eine Nische gefunden hat. Er ist bis heute der produktivste Komponist für Kunstharmonium. Aber für beide Instrumente, Orgel und Harmonium, gibt es wirklich raffinierte, kunstvolle Musik, die die Möglichkeiten der Instrumente voll ausschöpft. Und es ist immer im besten Sinne unterhaltsam, es gibt immer irgendetwas, was sowohl als Spieler als auch als Hörer einfach Spaß macht. Und das, ohne werten zu wollen, unterscheidet ihn doch ein wenig von seinem Zeitgenossen Max Reger, auch wenn der natürlich formal einen anderen Zugang und wohl auch andere Fähigkeiten hatte.
AM: Und nicht zuletzt deshalb ist ihm zeitlebens auch die wirkliche Anerkennung in seiner Heimat verwehrt geblieben. Ihm wurde ja im
Ausland viel größere Beachtung geschenkt, da ist er teilweise regelrecht gefeiert worden, ob in England, in den USA oder auch in Australien. „Im besten Sinne unterhaltsam“ ist eine gute Umschreibung. Man könnte ja fast sagen, dass nicht wenige Komponisten in Deutschland zu jener Zeit darum bemüht waren, eben nicht unterhaltsam zu sein! Das hat ihm, gerade in Bezug auf Reger, eben den Charakter des Antipoden eingetragen.
MR: Er hat sich ja auch selbst als Einzelgänger und Querulant verstanden und es wurde für ihn dahingehend immer schwerer im Angesicht des aufkeimenden Nationalismus und schließlich des Nationalsozialismus, weil er wirklich ein mondäner Mensch, ein Kosmopolit war, der international gedacht hat. Später wurde er ja sogar, ohne jüdischer Abstammung zu sein, in das berüchtigte „Musikalische JudenABC“ aufgenommen. Karg-Elert ist wirklich eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Musik jener Zeit. Ich finde das in den „Bodensee-Pastellen“ so frappant: Natürlich steckt da sehr viel Spätromantik drin, es gibt auch Anklänge an den französischen Impressionismus, aber auch Querverbindungen, die nach Theaterorgel und nach dem aufkommenden Jazz klingen. Und all das ist so geschmackvoll und ohne jegliche Effekthascherei oder Kitsch verpackt. Er wusste ganz genau, wo die Grenzen sind.
AM: Hier und da wirkt es fast wie Filmmusik.
MR: Ja, ich finde, es wäre ein unglaublich tolles Projekt, mit dieser Musik einen 30minütigen Naturfilm am Bodensee zu machen. Da suche ich noch nach Unterstützern, die das ermöglichen würden. Wenn man den Bodensee kennt und diese Musik dazu hört, das passt ausgezeichnet.
AM: Es gibt, was den Impressionismus betrifft, ein tolles Zitat von Karg-Elert in einem Brief an seine „australischen Freunde“. Er hatte ja eine große Unterstützergemeinschaft in Australien, angeführt vom Organisten Arthur Nickson, dem die „Bodensee-Pastelle“ auch gewidmet sind. Am 20. Dezember 1923 schreibt er: „Ein optischer Eindruck er-
„Juden-ABC“: Die 1935 veröffentlichte Hetzschrift Judentum und Musik mit dem ABC jüdischer und nichtarischer Musikbeflissener von Hans Brückner und Christa Maria Rock, in der jüdische Künstler*innen aufgelistet und diffamiert wurden
zeugt in mir einen Induktionsreflex, auf den mein harmonisches Vorstellungszentrum automatisch reagiert. Es ist eine physio-psychologische Transformation, eine Eindrucks-Ausdrucks Metamorphose. Aber wie grundverkehrt beurteilt der Durchschnittkritiker das impressionistische Moment des Komponisten. […] Die Sportflexerei mit den ‚ismen‘ ist nicht durch die Künstler, sondern durch die Aesthetiker auf den Plan gerufen. Uns ist die Sache ziemlich ‚wurscht‘ . . . . Letzlich [sic!] ist ja jeder ‚ismus‘ ein Subjektivismus.“
MR: (lacht) Das ist toll und zeigt natürlich auch seine Wortgewandtheit, die ihm ja auch als Kritiker und Theoretiker eigen war. Aus diesem Zitat nehme ich mit: Eindruck wird Ausdruck. Karg-Elert ist, wenn man das auf die Spitze treiben möchte, Impressionist und Expressionist! Das merkt man an mehreren Stellen in diesem Werk. Deshalb passt der Begriff der Filmmusik gar nicht schlecht, man hat viel mehr den Eindruck von Aktion als von bloßer Betrachtung einer Szene. Der erste Satz etwa zeigt die ganze meteorologische Bandbreite des
Bodensees: von totaler Idylle im einen Moment zum aufkeimenden Sturm, Gewitter, danach kehrt wieder Ruhe ein. Oder im vierten Satz, da hört man ganz konkret das Zwitschern der Vögel im Röhricht. Ich würde sogar sagen: Karg-Elert liefert die Hintergrundmusik zu dieser Szenerie. Im fünften, sechsten und siebten Satz werden Tageszeiten beleuchtet. Der einsetzende Abend mit dem Sonnenuntergang, der Mond, der sich im Wasser spiegelt und abschließend diese Hymne an die Sterne. Es gibt aber auch ganz andere Elemente, zum Beispiel im dritten Satz, Die Legende des Berges. Für mich klingt es fast, als würde er für den Moment in ein Zwergenreich voller Fabelwesen eintauchen, das ist vielleicht eine Geschichte in der Geschichte.
AM: Geschichte in der Geschichte, das finde ich sehr passend. Du sagst, Karg-Elert liefert teilweise eine Form von „Hintergrundmusik“. Auf diese Weise erschafft er, könnte man sagen, eine Art doppelten Boden. Die Musik ist beides: impressionistisch und expressionistisch, also gewissermaßen Musik, die um sich selbst herum noch einmal eine Musik schafft, in der wiederum Musik stattfinden kann.
MR: Ein schönes Bild! Und dazu gehört auch seine Obsession mit den Farben, den optischen und den klanglichen. Ich kenne fast kein anderes Orgelstück, das in diesem Maße durchorchestriert ist, die Registrierung wird hier wirklich zur Orchestrierung. Einen solchen Reichtum an Klangfarben findet man in der französischen Musik dieser Zeit nicht. Manchmal sind die Ideen so eigentümlich, es klingt dann fast nach einer Theaterorgel.
AM: Ja, gewisse Registrierungen springen förmlich ins Ohr, das sind Effekte, die im besten Sinne theatralisch wirken und damit natürlich wieder eine imaginäre Szenerie heraufbeschwören. Apropos: Lass uns, jetzt wo wir, wenn man so will, die Szenerie des Programms ausgeschritten haben, zum Schluss noch einmal auf den Anfang zurückblicken. Wir gehen einen Weg durch die Musikgeschichte, wandern durch eine Stilepoche, die man Impressionismus nennt, gelangen aber auch rein geographisch gesehen vom Baskenland zum Bodensee. Versuchst du, über diese Werke, die auf ganz eigentümliche
Weise sehr unterschiedlich in ihrer Ähnlichkeit sind, einen Bogen zu spannen, einen roten Faden zu ziehen oder willst du das Spezifische herausstellen?
MR: Sowohl als auch. Man benötigt als Interpret unbedingt diesen Spannungsbogen, allein schon um das Ganze konditionell zu überleben. (lacht) Gleichzeit ist es unabdingbar, dass man die Werke als Individuen behandelt, auch hinsichtlich der Registrierung, um letztendlich möglichst viel von der Orgel zeigen zu können.
AM: Wie ist das auf der Orgel des Brucknerhauses Linz? Ist das alles gut darstellbar? Gibt es gewisse Grenzen? Gibt es Stücke, die dem Instrument besser liegen?
MR: Das Programm ist der Orgel schon ziemlich auf den Leib geschrieben. Ich bin jedes Mal wieder dankbar und glücklich, dass wir dieses Instrument haben, auf dem man so vieles so toll darstellen kann. Wir haben in ganz Österreich nicht allzu viele Orgeln, auf denen dieses Repertoire wirklich funktioniert, weil man ein großes, aber eben auch ein flexibles und dynamisch vielseitiges Instrument braucht. Diese Musik (grob gesagt) aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist nicht nur etwas, was mir persönlich sehr am Herzen liegt, sondern bei dem, denke ich, die Orgel und ich uns auf besondere Weise verstehen. Das ergibt ein sehr glückliches Dreigespann: die Musik, die Orgel und ich. Das macht jedes Üben und jedes Konzert zu einem ganz besonderen Erlebnis.
Die Orgel des Brucknerhauses Linz
Mit der im Sommer 2018 errichteten Orgel im Brucknerhaus Linz aus der Werkstatt der Vorarlberger Firma Rieger Orgelbau beherbergt die oberösterreichische Landeshauptstadt nun eine innovative Konzertsaalorgel mit 51 klingenden Registern, verteilt auf drei Manuale und Pedal. Konzipiert wurde das Instrument klanglich und dispositionell von den drei Organisten Martin Haselböck, Wolfgang Kreuzhuber und Martin Riccabona sowie Orgelbaumeister Wendelin Eberle und Intonateur Stefan Niebler. Vielseitig, farbenreich und dynamisch flexibel präsentiert sich die Orgel, die gleichermaßen für solistische Aufgaben wie für den Dialog mit Solist*innen, Chor und Orchester geeignet ist.
Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den Darstellungsmöglichkeiten sinfonischer Orgelmusik des 19. und 20. Jahrhunderts.
Das Instrument im Großen Saal des Brucknerhauses vereint elegant Tradition und Moderne: Während die Orgel auf traditionelle Weise mechanisch angespielt wird, ermöglicht es die zusätzliche elektrische Steuerung, die technisch auf dem neuesten Stand befindliche Ausstattung in vollem Umfang auszuschöpfen.
Tradition charakterisiert auch die Optik der neuen Orgel – der Prospekt ist jenem der Vorgängerorgel, der bisher als fester Bestandteil des Erscheinungsbildes des Großen Saales fungierte, nachempfunden.
II/I, III/I, III/II
I 16’, II 16’, III 16’, II 4’, III 4’
II/I 16’, II/I 4’, III/I 16’, III/I 4’
I/P 4’, II/P 4’, III/P 4’
Spielhilfen
Rieger Setzersystem:
10 Benutzer mit je 1000 Kombinationen mit je 3 Inserts
Archiv für 250 Titel mit je 250 Kombinationen
4 Crescendi – einstellbar
Sostenuto I, II, III
Sostenuto + I, II, III
Sequenzschaltung
Kopierfunktionen
Wiederholungsfunktionen
Generalabsteller
Extras
Rieger Stimmsystem
Rieger Aufnahme- und Wiedergabesystem
Martin Riccabona
Seit ihrer Fertigstellung 2018 ist Martin Riccabona Kustos der sinfonischen Konzertsaalorgel im Brucknerhaus Linz, deren Planung und Bau er als Mitglied der Orgelkommission begleitet hatte.
1993 in Hall in Tirol geboren, studierte er Orgel und Cembalo in Linz, Hamburg, München und Wien bei Brett Leighton, Jörg Halubek, Wolfgang Zerer, Pieter van Dijk, Bernhard Haas, Augusta Campagne und Erich Traxler. Alle Studien schloss er mit Auszeichnung beziehungsweise der Höchstnote ab. Derzeit bildet er sich bei Ben van Oosten in Den Haag weiter. Martin Riccabona ist zweiter Preisträger der internationalen Orgelwettbewerbe Daniel Herz in Brixen, Paul Hofhaimer in Innsbruck und Arp Schnitger in Alkmaar sowie Gewinner des Grand Prix d’ECHO in Freiberg, der ihm den Titel Young ECHO-Organist of the Year 2015 einbrachte. 2017 gewann er zudem den NibelungenWettbewerb des Lions Club Linz.
Konzerte als Solist und Ensemblemusiker führen Martin Riccabona durch große Teile Europas, insbesondere an bedeutende historische Orgeln. Darüber hinaus tritt er regelmäßig an Orgel und Cembalo als Continuospieler für Kirchen- und Kammermusik sowie bei Oratorienund Opernproduktionen in Erscheinung. Konzertprojekte brachten ihn unter anderem mit dem Bach Consort Wien, dem Ulster Orchestra, dem MDR-Sinfonieorchester sowie dem Ensemble Klingzeug zusammen. 2014 und 2021 war er Artist in Residence der Paul-HofhaimerTage in Radstadt.
Von 2019 bis 2023 war er Lehrer für Orgel, Cembalo und Cembalokorrepetition an der Musikschule der Stadt Linz, 2021/22 außerdem Lehrbeauftragter für Orgel respektive Generalbass an der Hochschule für Musik und Theater München und an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz. Seit März 2023 ist er Professor für Orgel an der Hochschule für evangelische Kirchenmusik Bayreuth.
AUFBRUCH
„DAS EWIG-WEIBLICHE ZIEHT UNS HINAN.“
DI 12 SEP 19:30
MITTLERER SAAL
MITRA KOTTE –KLAVIERRECITAL
„Ein Frauenzimmer muß
nicht componieren wollen“
Werke von Cécile Chaminade, Amy Beach, Nadia Boulanger, Louise Farrenc u. a.
DI 26 SEP 19:30
MITTLERER SAAL
MI 27 SEP 19:30
GROSSER SAAL
LISE DE LA SALLE & QUATUOR HERMÈS
Musenmusik
Werke von Alexis de Castillon, Clara und Robert Schumann
MARKUS RUPPRECHT
Orgelkonzert
Werke von Florence Price, Sofia Gubaidulina, Dorothea Hofmann u. a.
DO 5 OKT 19:30
MITTLERER SAAL
KIT ARMSTRONG
Von und für Clara
Werke von Clara und Robert Schumann, Franz Liszt, Felix Mendelssohn Bartholdy, Johannes Brahms
VORSCHAU : Orgelkonzerte in der Saison 2023/24
Werner Puntigam
PIPES & VIBES – eine Hommage an Anton Bruckner
Mittwoch, 18. Oktober 2023, 19:30 Uhr
Großer Saal, Brucknerhaus Linz
Werner Puntigam
PIPES & VIBES – eine Hommage an Anton Bruckner (2023) [Uraufführung]
Stewart Sukuma | Gesang
Inés Pérez-Wilke | Tanz
Chiao-Hua Chang | Erhu
Werner Puntigam | Posaune & Visuals
Andreas Etlinger | Orgel
Die Realisierung dieses Projekts wird durch Linz Kultur im Rahmen der Reihe an_TON_Linz ermöglicht.
Karten und Info: +43 (0) 732 77 52 30 | kassa@liva.linz.at | brucknerhaus.at
Herausgeberin: Linzer Veranstaltungsgesellschaft mbH, Brucknerhaus Linz, Untere Donaulände 7, 4010 Linz
CEO: Mag. Dietmar Kerschbaum, Künstlerischer Vorstandsdirektor LIVA, Intendant Brucknerhaus Linz; Dr. Rainer Stadler, Kaufmännischer Vorstandsdirektor LIVA
Leiter Programmplanung, Dramaturgie und szenische Projekte: Mag. Jan David Schmitz
Redaktion: Andreas Meier, Mag. Jan David Schmitz | Das von Andreas Meier mit Martin Riccabona geführte Gespräch ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft. | Biographie & Lektorat: Mag. Claudia Werner
Gestaltung: Anett Lysann Kraml | Abbildungen: M. Borggreve (S. 33 [4. v. o.]), Fotoart Wiesner, Regensburg (S. 33 [3. v. o.]), S. Gallois (S. 33 [2. v. o.]), A. Grilc (S. 33 [1. v. o.]), Musée de l’Orangerie, Paris (S. 14–15), R. Newman (S. 28), T. Pewal (S. 31), privat (S. 7, 9, 10, 19, 20 & 24–25), Shutterstock (S. 32), W. Puntigam (S. 34)
LIVA – Ein Mitglied der Unternehmensgruppe Stadt Linz