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Aufbruch, Ausblick und Avantgarde im romantischen Lied

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Daniel Gerzenberg

Daniel Gerzenberg

Wünschelruthe

Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort.

„Schläft ein Lied in allen Dingen“, mit diesen Worten beginnt Joseph Freiherr von Eichendorffs 1835 entstandenes Gedicht Wünschelruthe, dessen Metapher für die Allgegenwart und zugleich schöpferische Kraft des Liedes einen zentralen Aspekt der romantischen Dichtung in den Mittelpunkt stellt: die unauflösliche Verschränkung von Poesie und Melodie, von Dichtung und Gesang. Bezeichnenderweise konnte der Begriff des „Liedes“ zu Eichendorffs Zeiten beides meinen: Gedicht und Vertonung. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts bahnte sich das (Kunst-)Lied als eigenständige Gattung, deren Anspruch weit über die eng gesteckten Grenzen folkloristischer und populärer Weisen hinausreichte, seinen Weg in das Konzertleben vieler europäischer Länder. Unter mannigfaltigen Bezeichnungen – von deutschsprachigen Gesängen und Liedern über französische Romanzen, Mélodies und Chansons bis hin zum englischen Song – erblühte das Lied über die Ländergrenzen hinweg in immer neuen Formen und Farben, deren künstlerische Vielfalt sich aus den gesellschaftlichen, kulturellen und nicht zuletzt sprachlichen Eigenheiten des jeweiligen Wirkungskreises der Komponist*innen speiste. „Der Charakter des begleiteten Sololieds wird mehr als der anderer mus[ikalischer] Gattungen durch nationale Eigenheiten bestimmt“ (Frits Noske) und lässt sich dabei dennoch stets auf die von Eichendorff lyrisch umschriebene ästhetische Prämisse zurückführen: die künstlerische Symbiose von Dichtung und Musik.

„DIE DA TRÄUMEN FORT UND FORT“

Zweifelsohne ist Franz Schubert dabei der geradezu monolithisch herausragende Begründer des deutschsprachigen Kunstliedes. „Schubert indeß ist wohl der einzige Componist, der wahre Meisterwerke darin geliefert hat. Sein ,Wandrer‘ wenigstens steht oben an“, urteilte die von Gustav Schilling herausgegebene Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften noch 1840, zwölf Jahre nach dem frühen Tod des Wiener Komponisten. Mit der Überführung des eindimensionalen Strophenliedes in die Form durchkomponierter dramatischer Miniaturen, der Emanzipation des begleitenden Klaviersatzes und einem bis dahin ungeahnten harmonischen Reichtum definierte Schubert die Gattung völlig neu: „Es ist unglaublich, was für Musik in dessen Liedern steckt“, soll Johannes Brahms seinem Biographen Max Kalbeck zufolge 1887 dem befreundeten Philologen Gustav Wendt anver traut haben. „Bei ihm kommt […] immer das Beste so selbstverständlich heraus, als könnte es nicht anders sein. […] Wir haben das ja auch versucht, aber gegen Schubert ist das alles Stümperei.“ Auch Robert Schumann, der den Liedkompositionen seiner Zeitgenoss*innen – Schubert zuweilen eingeschlossen – zunächst kritisch gegenüberstand und darin „zu viel Noten zu den einfachen Worten“ fand, verfiel, wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck seiner (bevorstehenden) Hochzeit mit Clara Wieck, im sogenannten „Liederjahr“ 1840 schließlich ganz dem Reiz der Gattung. „Ach, ich kann nicht anders, ich möchte mich tot singen wie eine Nachtigall“, schrieb er am 15. Mai an seine Verlobte und komponierte in diesem Jahr 138 seiner insgesamt rund 250 Lieder. Mit einem außerordentlichen Gespür für poetische Formen und Sprachmelodien steigerte er das lyrische

Wolf

Avantgarde

Element des Liedes und hob den nunmehr eigenständig kommentarhaft oder gar solistisch hervortretenden Klavierpart endgültig auf eine Stufe mit der Gesangsstimme. Schumanns Lieder verkörpern in ihrer nuancierten Verschränkung von Struktur und Inhalt „das Romantische in reinster Essenz, als radikale Introversion des Fühlens und Schauens, als Empfindlichkeit für leiseste, zarteste Schwingungen und Stimmungen, als Ausdruck der unstillbaren, die Wirklichkeit überfliegenden Sehnsucht und der visionären Phantasie“ (Werner Oehlmann). Neben der in der Tradition Schuberts stehenden, gewissermaßen ‚originären‘ Form des Kunstliedes erstarkte im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch wieder das Interesse an Volksmelodien unterschiedlichen Kolorits. Ebenso wie Johannes Brahms in seinen Zigeunerliedern op. 103 wandte sich beispielsweise Franz Liszt, der sich mit dem Erbe Schuberts nicht zuletzt in seinen zahlreichen Klaviertranskriptionen auseinandersetzte, in seinem Liedschaffen verschiedenen Facetten des Volksliedes zu und erwies dabei auch seiner ungarischen Heimat die Reverenz. Gustav Mahler, dessen vokales Schaffen in fruchtbarer Wechselwirkung mit seinen Sinfonien entstand – so zitierte er etwa im ersten und dritten Satz der Sinfonie Nr. 1 D-Dur seine Lieder eines fahrenden Gesellen und integrierte ab der Sinfonie Nr. 2 c-moll auch direkt liedhafte Abschnitte in seine sinfonischen Sätze –, bediente sich, angeregt durch die Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn, gleichfalls häufig klassizistischer Formen und volkstümlicher Elemente, während sein Jugendfreund und Studienkollege Hugo Wolf eine gänzlich andere Richtung einschlug: „Wir können bei Wolf eine ganz merkwürdige Eigentümlichkeit finden, der wir bei keinem anderen Liederkomponisten in einer derart konsequenten Art begegnen. […] Er schließt zur Zeit der Komposition einen so innigen Bund mit dem jeweiligen Dichter, daß er nicht zur Ruhe kommen kann, bevor er nicht seiner Verehrung für dessen poetischen Genius durch Vertonung einer ganzen Reihe von Gedichten Genüge getan […] hat“ (Helga Hinghofer). Wolfs sprachnahe Deklamatorik und freie, narrative Form lassen die Grenzen zwischen Dichtung und Musik bisweilen vollkommen verschwimmen, weshalb der Komponist seine Lieder selbst sinnfällig als „Gedichte für eine Singstimme und Klavier“ bezeichnete.

Auf einem Skizzenblatt, das heute im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am Main aufbewahrt wird, notierte Eichendorff 1835 einen ersten Entwurf seiner Wünschelruthe, die hier noch als dritte Strophe eines Sonetts mit dem Titel Musik aufscheint:

Es schläft ein Lied (o[der] eine Wunderbare Melodie) in allen Dingen Viele Jahrhundert lang , Und sie heben an zu singen , Wie Säuseln von Schwingen , Triffst du den rechten Klang .

Über dem einleitenden „Es“ vermerkte der Dichter das Wort „Verzaubert“ „Verzaubert schläft ein Lied in allen Dingen“ also? Das wäre ein schönes Bild für die allem Realen, aller Alltäglichkeit innewohnende Poesie, in Verzauberung schlummernd und nur des Dichters harrend, der sie erweckt. Dass diese Aufgabe keine Geringe ist, zeigt eine Notiz, die sich am linken Rand des Blattes neben den drei letzten Zeilen der Strophe findet und sich gleichsam als Appell an alle Liedkomponist*innen und Interpret*innen lesen lässt: „Der Dichter soll den Zauber lösen – Sieh zu, daß du triffst den rechten Klang!“

Andreas Meier

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