Vom Ur-Land Papierarbeiten von Karin H. Bilyk ............
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Vom Ur-Land. Papierarbeiten von Karin H. Bilyk.
Ausstellung im Museum für Ur- und Frühgeschichte, Freiburg 18. November 1995 bis zum 21. Januar 1996
Titelbild: Monden I (Stele) 1995, über Bötzingen in Richtung Südwesten
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Monden I (Stele), 1995
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Pour MagdalĂŠnien
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Vorwort
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In der neu eingerichteten Steinzeit-Abteilung des Museums für Ur- und Frühgeschichte lesen die Besucher das Adorno-Zitat: »Manches, kultische Gebilde etwa, verwandelt sich durch die Geschichte in Kunst, die es nicht gewesen ist; manches, was Kunst war, ist es nicht länger« (Ästhetische Theorie). Es wurde neben die Funde vom Petersfels gesetzt, die – als »kultische Gebilde« geschaffen – heute mit zu den bedeutendsten Beispielen der Eiszeitkunst zählen. Wenn eine Künstlerin des 20. Jahrhunderts sich solchen Objekten vor- und frühgeschichtlicher Epochen annähert, die vorwiegend in kultischem oder anderem funktionalem Zusammenhang standen, sich in sie einfühlt und aus ihnen für eigene Werke schöpft, die als Werke der Gegenwartskunst autonome Kunstwerke sind, so entsteht bei einer Gegenüberstellung ihrer Arbeiten mit den Archetypen, die sie inspirierten, ein Spannungsfeld, das seine Intensität zu einem großen Teil aus dieser Polarität von funktional eingebundener und autonomer Kunst erfährt. Die Gelegenheit, dieses Phänomen aufzuspüren und zu reflektieren, bietet die Ausstellung der Freiburger Künstlerin Karin H. Bilyk »Vom Ur-Land« in der Schausammlung des Museums für Ur- und Frühgeschichte. Als Karin H. Bilyk sich in den Jahren 1993-94 als Aufseherin im Museum für Ur- und Frühgeschichte ein Zubrot verdiente, übten die ausgestellten Objekte eine große Faszination auf sie aus und es entstand bei ihr allmählich das Bedürfnis, ihre hier gewonnenen Eindrücke und die dabei geweckten Emotionen künstlerisch zu verarbeiten. Gespräche mit dem damaligen wissenschaftlichen Volontär Karl Banghard haben sie in ihrem Vorhaben bestärkt. Der Gedanke, ihre Arbeiten im Museum für Ur- und Frühgeschichte inmitten der archäologischen Objekte zu zeigen und sie mit ihnen zu konfrontieren, lag dann nahe. Ich danke Frau Bilyk dafür, daß sie sich mit großer Hingabe auf dieses Projekt eingelassen hat. Herrn Sebastian Egenhofer möchte ich für die einfühlsame Interpretation der Arbeiten K. H. Bilyks danken. Ines Balzer, wissenschaftliche Volontärin am Museum für Ur- und Frühgeschichte, stand ihm dabei für Fragen aus den Bereichen der Ur- und Frühgeschichte zur Verfügung. Beide haben auch bei der Konzeption der Ausstellung mitgewirkt. Allen, auch dem technischen Stab dieses Museums sowie den Werkstätten der Städtischen Museen sei sehr herzlich gedankt für die Mitarbeit an dieser Ausstellung, die aus dem Rahmen des üblichen Ausstellungsprogramms eines archäologischen Museums völlig herausfällt, die aber auch für die archäologischen Objekte neue Aspekte der Betrachtung zu erschließen vermag. Hilde Hiller
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Vom Ur-Land. Papierarbeiten von Karin H. Bilyk.
Zwischen den Exponaten des Museums für Ur- und Frühgeschichte finden sich abrupt, scheinbar bezugslos die Papierarbeiten Karin Bilyks. Die frühesten der zum Bestand des Museums gehörenden Funde stammen aus der älteren Steinzeit, die jüngsten sind Überreste, die in die Zeit des späten Mittelalters weisen. Von kaum einem der Ausstellungsstücke läßt sich mit Sicherheit sagen, es sei jemals als Kunstwerk im heutigen Sinn verstanden worden. Über die religiösen Vorstellungen, die kultischen Handlungen und die darin verwurzelte Kunsttätigkeit vor allem der Menschen der frühesten Kulturen ist aus den ergrabenen Resten wenig Bestimmtes erschließbar. Wie ist die Ausstellung der zeitgenössischen Kunstwerke an einem Ort, der gewöhnlich der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse über die archäologischen Funde dient, motiviert? Welchen Bezug gewinnt Bilyk als Künstlerin zu den im Museum bezeugten vergangenen Zeiten, so daß diese relevant sein können für die Konzeption eigener Werke? Welcher Art ist ihre Annäherung an die archäologischen Objekte? Ihr »Ur-Schritt« (Kat. Nr.12) gibt eine Antwort auf diese Fragen. Zwei Sohlen haften aneinander. Sie sind nicht Abdruck eines den Raum aktiv durchmessenden Schrittes, sondern eines Innehaltens und geduldigen Stehens, Spur des gleichzeitigen Daseins mit den Exponaten. Die Zeit dieser Gleichzeitigkeit ist schwer datierbar. Zwar, es sind die Jahre 1993-94, als Karin Bilyk nebenberuflich im Museum für Ur- und Frühgeschichte tätig war und sich täglich zwischen den Ausstellungsstücken aufhielt, betrachtend und skizzierend. Doch bestimmt diese äußere Eingrenzung nicht den Gehalt der Erfahrung, die dem
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wartenden, kontemplativen Sehen zuteil wird. Der »Ur-Schritt«, räumlich ein Innehalten, ist ein Gleiten in der Zeit. So haben die Arbeiten, die in diesen Jahren konzipiert und für die Ausstellung verwirklicht wurden, zwar jeweils einen bestimmten, zum Teil sehr unscheinbaren Bezugspunkt unter den Exponaten oder in den Informationstafeln des Museums, doch gehen sie interpretierend über die Umsetzung der wahrgenommenen äußeren Formen und der gesicherten Information hinaus. Sie zeugen von einer anderen, persönlicheren Anschauung, einem methodisch weniger restringierten Interesse, als sie im Rahmen der Wissenschaft möglich wären. Die Arbeit »Monden I (Stele)« (Kat. Nr. 4) etwa nimmt Bezug auf tönerne halbmondförmige Fundstücke aus der Urnenfelderzeit, die als Feuerböcke oder Mondidole bezeichnet werden. Es ist nicht gewiß, ob diese als profane Gerätschaften, als Grillständer, zu interpretieren sind, oder ob sie sich in kultischem Gebrauch befanden. Bilyks Arbeit trifft hier eine Entscheidung. Der niedrige Feuerbock wächst zu einer hohen Stele auf. Die strenge Symmetrie unterstreicht den hieratischen Eindruck, dem die weiße, rauhreifartige Färbung, die er mit allen Arbeiten der Ausstellung außer »Römisch« und »Gagat« teilt, doch die Schwere nimmt. Offenbar wird das Fundstück als Mondidol, nicht als profanes Gerät interpretiert. Mit welchem Anspruch tritt eine solche Interpretation auf? Es soll nicht die wissenschaftlich ungeklärte Frage stellvertretend gelöst werden. So deutlich die Gestaltung den möglichen profanen Gebrauch des ‘Vorbilds’ unbeachtet läßt und diejenigen seiner formalen Qualitäten aufnimmt und verstärkt, die auf die kultische Funktion hindeuten mögen, sowenig macht das Werk eine thematische Aussage über den Feuerbock als Objekt der wissenschaftlichen Archäologie. Das wird womöglich noch deutlicher mit dem Blick auf »Monden II (Barke)« (Kat. Nr. 5). Die Arbeit nimmt in ihrem Umriß wiederum die Form des Mondidols auf. Doch ist dieser Umriß wolkenhaft unscharf, im unteren Bereich lassen sich ausgerissene Wurzeln assoziieren. An der Wand plaziert, erweckt die offene Form, unterstützt von der hellen Färbung, den Eindruck von Schwerelosigkeit und einer gleichsam schaukelnden Beweglichkeit. Hier ist ohne die Evokation eines kultischen Zusammenhangs, auf den die monumentale Vertikalität der »Stele« zu verweisen scheint, eine Spiritualität erreicht, die einzig im Erscheinungscharakter der Arbeit begründet ist. Als Kommentar zu dem urnenfelderzeitlichen Fund ist sie nicht lesbar, sie muß primär in ihrer materiellen Erscheinung aufgefaßt und aus dieser interpretiert werden. Was hier deutlich wird, gilt für alle Arbeiten der Ausstellung. Ihr Verhältnis zu dem jeweiligen archäologischen Bezugspunkt ist ein sehr offenes, und es ist jeweils erst aus der Erscheinung der Werke heraus zu bestimmen.
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Sofern sie interpretierend Bezug nehmen auf Exponate oder Informationstafeln des Museums, entscheidet über die Überzeugungskraft solcher Interpretation einzig die ‘Richtigkeit’, die innere Stimmigkeit des Werks als eines in sich stehenden, autonomen Gebildes. Der Rückschritt, in dem das Eingehen auf den Feuerbock, das Mondidol, gründet, reißt die zeitgenössische Plastik nicht von ihrem Boden in der Gegenwart. Die Kenntnisnahme des Uralten drückt sich ab in der Substanz eines Werks, das seine Orientierung im 20. Jahrhundert sucht und findet. Bilyk hat an der “École Nationale Supérieure des Beaux-Arts” in Paris von 1962-69 eine, wie sie es nennt, “akademische” Ausbildung erfahren. Die formale Sprache der klassischen Moderne, die Komposition in kontrapunktisch geführten Gegensätzen der glatt und geschlossen gebildeten Elemente bestimmt ihre noch während der Studienzeit entstandenen, meist nahezu abstrakten Werke. Zu nennen wären hier »La Grande Tortue« und das Wandrelief »Village Crecy-en-Brie«, die ihr 1965 den Preis der 4.“Biennale des Jeunes” (Paris) in der “section sculpture” einbrachten. Zum Ende der 60er Jahre hin entstehen Arbeiten, die von intensiven Natur- und Anatomiestudien bestimmt sind. Stilistisch besteht eine Nähe zum Surrealismus; manche der Werke formulieren Allegorien über das Verhältnis und die Verflechtungen von Lebendigem und Totem. Doch erwiesen sich schließlich diese Ansätze als ihren Intentionen nicht gemäß, das abstrakt formale Gestalten sowenig wie der literarisierende Illusionismus. In den 70er Jahren hält Bilyk sich fast gänzlich von eigener freischaffender Tätigkeit zurück. Mit dem Beginn der 80er Jahre jedoch findet sie einen neuen Ansatz, der zu einer in ihren Wandlungen doch kontinuierlichen Werkentwicklung führt. Den Anfang dieser Entwicklung stellen Plastiken in Form flacher Quader dar, deren eine Oberfläche reliefiert und oft farbig gefaßt ist. Fragmentarisch erscheint als negativer Abdruck (etwa in »Versunkenes Gesicht«, 1985) die Andeutung eines Gesichts. Doch ist die glatte Oberfläche eines solchen Abdrucks teilweise von schuppiger Struktur überlagert, die gesamte Fläche von Rissen durchzogen, aus denen das ungeprägte, rohe Material hervordringt. 1985 setzte die Werkgruppe der »Mutationen« ein (Ausstellung im technischen Rathaus Freiburg, Veranstaltung des Städtischen Kulturamtes, 1987). Es sind meist weiß gehaltene elementare Formen (»Ur-Kopf«) und fast ‘leere’ Reliefs mit nur rudimentären Hinweisen auf gemeinte Gegenständlichkeit. Die Einfachheit der beinahe akzentlosen Grundformen steht in einem lebendigen Wechselspiel mit der kleinteiligen, wellenartig bewegten Textur ihrer Oberfläche. An diese Ar-
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beitsweise erinnert in der Ausstellung die Vollplastik »Magdalenisch« (Kat. Nr. 1). Seit 1989 verwendet Bilyk als Werkstoff vornehmlich Zeitungspapier. Die Serie der »Papierhäute« beschäftigt sie von 1989 bis 1993. Die Werke bestehen aus gerissenem, in Leim getauchten und zu reliefartigen Gebilden modelliertem Papier, deren atmosphärische Intensität meist durch eine differenzierte Farbigkeit bestimmt ist. Die Entwicklung dieser Serie führte von ersten, ihre Oberfläche schuppig verschließenden Reliefs (»Haut«, 1989) bis zu Arbeiten, deren offene Struktur den Raum tief eindringen läßt und die materielle Einheit des Werkes in eine zunehmend prekäre Labilität bringt. (»Hautdiptychon für Werner Heldt«, 1991, Museum für Neue Kunst Freiburg, »Tarahumara pour Antonin Artaud«, 1993, Regierungspräsidium Freiburg). Mit den neuen, in der Ausstellung gezeigten Arbeiten ist Bilyk von dieser nicht weiterzutreibenden Labilität zu einer stabileren Materialiät zurückgekommen, in welcher sie dennoch die mit den Papierhäuten erreichte Beweglichkeit zu bewahren sucht. Bilyk hat so einen eigenen, von ihrer Ausbildung her nicht mehr verständlichen, deren Prinzipien fast konträren Sinn für die Materialität und die mögliche Prozessualität von Plastik entwickelt. Das Spiel formaler Spannungen, die Sprachform ihrer an der klassischen Moderne orientierten frühen Arbeiten ist aufgegeben, ohne daß an ihre Stelle eine allegorische Sprechweise träte. Es sind nicht in sich beständige, durchgebildete Elemente, die vermittels ihrer formalen Eigenschaften in einen statischen Dialog treten. Die Spannung, welche sich im Werk hält, ergibt sich anders. Das Material ist nur gerade über die Schwelle der Gestaltlosigkeit gehoben. Es tastet aus dem Ordnunslosen der Textur nach der Form; es bewahrt seine eigene Unruhe und ist nicht der abgeschlossenen Gestalt unterworfen. Die Spannung liegt im Verhältnis der von keinem willentlichen Gestalten beherrschbaren Textur des Materials zur Figuration, in die es sich fügt, in die es drängt und die es zugleich von innen her angreift. Die ausgeprägte Textur bringt eine Unschärfe der Gestalt hervor. Der Blick, der diese auf einmal erfaßt, steht in ständigem Austausch mit der fluktuierenden Wahrnehmung der vielfältigen Reize des Materials, die nicht völlig zu Bewußtsein, vom Auge nicht fixiert und zum Stillstand gebracht werden können. So wahrt auch die fertiggestellte Arbeit eine Qualität des Unabgeschlossenen. Exemplarisch zeigt dies »Mittelalterlich II« (Kat. Nr. 9), eine mit dem Blick auf einen Holzschnitt des frühen 16. Jahrhunderts – eine der frühesten Darstellungen der Stadt Freiburg – entwickelte plastische Skizze des Münsterplatzes. Fast versinken hier die noch unterscheidbaren Elemente, die schiefen Häuser und das schmelzende Münster, in der sich aufwerfenden, wogenden Textur des
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Papiermachés. In eine andere Richtung getrieben ist der Umgang mit der Struktur des Materials in »Mittelalterlich I« (Kat. Nr. 8). Die Arbeit folgt im Ungefähren der Form eines Bettelstabes aus dem späten Mittelalter. Doch öffnet sich hier die Oberfläche in so extremer Weise zum Raum, daß die Gestalt selbst sich fast aufzulösen scheint wie eine zerzauste Wolke. Der Untertitel der Arbeit – »Flug-Stab« – betont diesen flüchtigen Charakter. Daß für dieses gewandelte Verständnis von Form und Textur des Materials und der Art ihrer Spannung die Plastiken Giacomettis, auch Dubuffets Bilyk einen Anstoß gaben, ist sichtbar, doch läßt sich ihre Arbeitsweise nicht auf einen Einfluß zurückrechnen. Der Hinweis darauf soll nur anzeigen, daß Bilyks Arbeitsweise im 20. Jh. situiert ist, in der zeitgenössischen Plastik Bezugspunkte hat. Die urgeschichtlichen Funde bilden so nicht die Wurzel oder den Boden der Konzeption der ausgestellten Arbeiten. Deren Matrix bleibt der geschilderte spezifische Bezug zum Material des Gestaltens. Doch läßt dessen Flexibiliät den Einfluß des Vorgegebenen nicht nur passiv zu, als einen Stempel, der sich ihm eindrückt, sondern ist zugleich Medium einer erprobenden Annäherung an die ‘Vorbilder’, die interpretierend in autonomen Werken anverwandelt werden. Dabei ist der Bezug zu den Fundstücken und der Kultur, der sie entstammen – die zumeist den Titel der Werke ergibt – von Station zu Station sehr verschieden. Die Arbeit »Gagat« (Kat. Nr. 2) bezieht sich auf eine jener kleinen runden Scheiben, die aus dem “Magdalénien”, der jüngsten Epoche der Altsteinzeit (ca. 14000-10000 v.Chr.) stammen. Der Titel nennt das Material, aus dem diese bestehen – Gagat ist fossile Holzkohle –, und die schwarze Einfärbung des Papiermachés intensiviert diesen Bezug. Die kleinen in der Mitte durchlöcherten Scheiben wurden als Schmuck getragen, der vielleicht Amulettcharakter hatte. So waren sie in einen spezifischen funktionalen Zusammenhang eingebunden. Dagegen bestätigt Bilyks Plastik ihre Kraft allein in der Anschauung. Die akzentlose Einfachheit der runden Form, die durch die kleine zentrale Öffnung noch unterstrichen wird, und die dichte schwarze Färbung des rauhen Materials stimmen zusammen in einer unmittelbaren intensiven Ausstrahlung, die an die Stelle der funktionalen Eingebundenheit des Fundstücks tritt. Deutlicher fassen läßt sich das ambivalente Verhältnis des ästhetischen Charakters des modernen Kunstwerks zu der Funktionalität seines archäologischen Bezugsobjekts mit dem Blick auf eine weitere, derselben Epoche zugeordnete Arbeit. In »Magdalenisch« (Kat. Nr. 1) hat sich Bilyk anregen lassen von einer der in großer Zahl gefundenen kleinen weiblichen Figuren aus Gagat, die vermutlich gleichfalls als Amulette getragen wurden. Die von Bilyk ausgewählte Figur läßt jedoch das darauf deutende Loch vermissen und wirkt dadurch in sich voll-
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ständiger, autonomer. Der kleinen, energetisch dichten Figur aus fossiler Holzkohle stellt Bilyk die formal deutlich an sie angelehnte, aber wesentlich größere weiße Plastik gegenüber. Die historische Distanz ist deutlich. Ist bei den Figuren aus Gagat eine Funktion anzunehmen, in der Zierde und Kultisch-Religiöses verschmelzen, so ist die Plastik aus Papiermaché ein autonomes Kunstwerk, autonom gerade darin, daß es keinen entsprechenden funktionalen Rahmen mehr besitzt. Ohne auf eine Wertung zu drängen, setzt die Konfrontation mit der Amulettfigur, die nicht Kunst sein will, nicht Kunst sein muß, den Status des Kunstwerks einer Befragung aus, vor der es im Kunstmuseum als dem ihm historisch zugewachsenen institutionellen Ort sicher ist. Als “Verpuppung” bezeichnete Karin Bilyk im Gespräch ihre Plastik, als wäre deren Kern in der Amulettfigur zu sehen, um die sich die dichte dämmende Hülle der Plastik – auf Zeit – geschlossen hat. Schon durch die Wahl des wenig haltbaren Materials ist der Anspruch auf Dauerhaftigkeit – um den sinnentleerten Ausdruck Ewigkeit zu vermeiden – aufgegeben. Als Kokon nimmt das Kunstwerk eine Übergangsstellung ein. Es findet sein Ziel nicht in der eigenen formalen Vollendung und Geschlossenheit. Diese ist gedacht als in einer unbestimmten Zukunft sich auflösende. Offen bleibt, ob aus dieser Auflösung eine neue Kunstauffassung, die zugleich der urgeschichtlichen Vor-Kunst näher sein mag, hervorgehen kann. Auf diese Arbeit ist die Widmung der Ausstellung »Pour Magdalénien« zu beziehen. Im Namen der Landschaft, der zur Bezeichnung der Epoche der in ihr aufgefundenen Objekte wurde, klingt der Frauenname Madeleine an – in Bilyks Vorstellung eine fiktive Ur-Frau. Die als Fundstück greifbare Amulettfigur, zu der die Plastik in augenscheinlichem Bezug steht, wird assoziativ in ihren Lebensraum rückgebunden. So gewinnt auch der Gedanke der Verpuppung eine weitere, poetischere Dimension. Der Kokon der Plastik kann als Schutzhülle verstanden werden, in der jene Ur-Frau die Zeit überdauert, und die sie, erwachend, verlassen wird. Ganz anders, harscher, verhält sich die Arbeit »Römisch« (Kat. Nr. 6) zu der Epoche, auf die sie Bezug nimmt. Bilyk hat kein eigentliches Exponat, keines der zahlreichen tönernen und gläsernen Gefäße gewählt, sondern hat ihre Formidee aus der Photographie eines bei Riegel ergrabenen Töpferofens gewonnen. Die Arbeit wiederholt leicht variiert die Form der Feuerstelle des Ofens. Die Einfärbung des Papiers mit schwarzer und Spuren von roter Ölfarbe verdichtet die Assoziation von Brandresten und weist direkt auf die ehemalige praktisch-technische Funktion des Ofens. Abgelöst von dem ‘Vorbild’ des Töpferofens gesehen, ist das hohe, flache, rauh strukturierte Relief von einer grellen Düsterkeit, die – sowenig die historisch konkrete Assoziation eine
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notwendige ist – eher an das Kriegerische der römischen Zivilisation als an ihre religiöse Komponente denken läßt. Gleichfalls nicht auf ein Exponat, sondern auf den Plan eines Gräberfeldes bezogen ist die ‘historisch’ folgende Arbeit »Merowingisch« (Kat. Nr. 7). Die Form des Reliefs nimmt die Form des Gräberfeldes auf; sie erinnert an ein abgefallenes Blatt. Die Gräber sind nicht Vertiefungen im Material, bloße Gruben, sondern sie durchbrechen dieses. Die Reste angetrockneten Leims ragen wie dünnes Eis von der Grenze her in diese Öffnungen hinein, ohne sie zu schließen. Die Arbeit geht in die Richtung einer Auseinandersetzung mit dem Tod als Grenze und als möglicher Über-Schritt, der weiter zu folgen der primär beschreibenden Annäherung nicht möglich ist. In eine ähnliche thematische Richtung verweist die Arbeit »Megalithisch« (Kat. Nr. 3). Sie bezieht sich auf die in der Ton-Bildschau gezeigten sogenannten Megalith-(=Großstein-)Gräber aus der Jungsteinzeit. Es sind dies aus großen Steinplatten zusammengefügte Grabstätten. Einer der Frontsteine enthält eine ovale Öffnung, die oft als ‘Seelenloch’ gedeutet wurde, als Öffnung, durch die die Seele des Verstorbenen das Grab verlassen kann. An diesen gleichsam pragmatischen Umgang mit einer religiösen Vorstellung erinnert in Bilyks reduzierter Arbeit nichts mehr. Sie gestaltet einzig eine Öffnung, einen Durchblick in dem zu einer wolkenhaft unbestimmten Form gebildeten Material. Hier prägt die Kenntnis des Ausgangspunktes der Arbeit gewiß die Möglichkeit der Interpretation dieser Öffnung als Ein- und Ausgang eines jenseitigen Bereichs. Im Ganzen jedoch erweist die Unterschiedlichkeit ihres teilweise äußerst unscheinbaren archäologischen Bezugspunktes Bilyks Plastiken oder Reliefs – die Zuordnung zu einer der überlieferten Gattungen fällt schwer – als im wesentlichen nicht abhängig von einer objektiven Vorgabe. Ihnen liegt die Produktivität eines Sehens zugrunde, dessen Gesehenes oder Ersehenes nur in der Ausstellung seine Bezogenheit auf ‘Vorbilder’ bemerkbar werden läßt, ohne dessen zu bedürfen. Neben dem »Ur-Schritt« thematisiert dieses ambivalente Verhältnis zum faktisch Gegebenen eine weitere Arbeit, »Alamannisch« (Kat. Nr. 10). Die lapidare Andeutung des Monitors, mittels dessen von der Kasse aus die im Untergeschoß befindliche “alamannische Schatzkammmer” überwacht wird, hängt im Treppenhaus. In die aus Wellpappe gebildete Oberfläche des Bildschirms ist ein aus Papiermaché modelliertes ‘Objektkästchen’ eingesetzt. Dessen rechteckige, klar bestimmte Grundform bezieht sich auf die Vitrinen, in denen in der “alamannischen Schatzkammer” Schmuck aus der Merowingerzeit gezeigt wird. Die Arbeit geht auf einen Moment zurück, als der Monitor den Dienst versagte und
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Schlieren und Wolken zeigte, in welchen sich Formen ausbildeten, die Bilyk zeichnend festhielt. Die in einer Skizze gefundene Gestalt tauchte nach mehreren Versuchen in der Papiermachéarbeit wieder auf. Zwei Muschelformen konfigurieren in dem in den opaken Schirm eingesetzten modellierten Block als eine weibliche Gestalt. In der “alamannischen Schatzkammer” befinden sich tatsächlich zwei Tigermuscheln, sie waren Grabbeigaben und galten als Fruchtbarkeitssymbole. Doch sind nicht die Objekte selbst, sondern ihre flüchtige, zufällige und nur einer besonderen Aufmerksamkeit sichtbare Erscheinung Ausgangspunkt der Gestaltung. Andekdotisch, fast ironisch und dennoch direkt bezeichnet diese Arbeit das Verhältnis der Gegenwart des Sehens zu den Exponaten des Museums. Ein Versagen ihrer technischen Überwachung kann Bedingung sein für einen anderen, bereichernden Blick. Was so sichtbar ist, sind nicht die in die historische Vergangenheit datierbaren Objekte, sondern diese sind umgeschmolzen und einbezogen in die gegenwärtige Gestaltung. Der »Ur-Schritt« und »Alamannisch« implizieren eine eigene Auffassung von Zeit, die das Verhältnis aller ausgestellten Arbeiten zu den historisch entfernten Bezugspunkten betrifft. Der historischen Zeitfolge sind die Arbeiten nicht untergeordnet, obwohl sie die Epochen jeweils im Titel führen. Ihr Bezug auf die Epochenfolge sprengt nicht ihre einheitliche Gegenwart auf. Es ist umgekehrt die Gegenwart der Arbeiten, welche die distanzierten Epochen an sich zieht. Der Moment der Gegenwart verliert seine scharfe Kontur. Mitlaufend mit der Flexibilität des Materials erweitert sich der Gesichtskreis möglicher Gestaltung im meditativen Sehen. Es ist jedoch nicht allein die formale Erscheinung, das Material und der Rauhreif seiner Färbung, in der die dichte Zusammengehörigkeit der Arbeiten anschaulich wird. In konzeptioneller Weise wird ihre Unabhängigkeit von der historischen Zeitordnung, deren Geltung das Museum institutionell repräsentiert, von der Arbeit »Paradiesisch« (Kat. Nr.11) hervorgehoben. Es handelt sich um ein nach einem alten Plan gebildetes, im Vergleich zu »Mittelalterlich II« geradezu tektonisches Modell des Colombischlößles und seiner Gartenanlage. Diese Arbeit übergreift noch einmal das Ganze der Ausstellung. Sie spiegelt den Ort, an dem die historisch bedingten Stationen versammelt sind – das Museum – in dieses selbst hinein. Das Werk vereinnahmt den Ort, in dem es selbst als Schaustück vorfindlich ist. So ist der Anspruch betont, die historische Zeit in die Gegenwart der Werke einzubeziehen und von dieser aus zu bestimmen. Der Titel »Paradiesisch« soll im Bedenken dieser Gegenwart mitklingen. Sebastian Egenhofer
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Magdalenisch, 1995
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Gagat, 1995
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Megalithisch, 1995
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Monden II (Barke), 1995
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Rรถmisch, 1995
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Merowingisch, 1995
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Mittelalterlich I (Flug-Stab), 1995
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Paradiesisch, 1995
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Ur-Schritt, 1995
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Katalog
1
Magdalenisch, 1995: Zeitungspapier, Leim und Ölfarben, 91 x 20 x 14 cm
2
Gagat, 1995: Zeitungspapier, Leim und Ölfarben, 52 x 48,5 x 1,5 cm
3
Megalithisch, 1995: Zeitungspapier, Leim und Ölfarben, 110 x 85 x 3 cm
4
Monden I (Stele), 1995: Zeitungspapier, Leim und Ölfarben, 210 x 108 x 5 cm
5
Monden II (Barke), 1995: Zeitungspapier, Leim und Ölfarben, 65 x 100 x 5 cm
6
Römisch, 1995: Zeitungspapier, Leim und Ölfarben, 142 x 97 x 4 cm
7
Merowingisch, 1995: Zeitungspapier, Leim und Ölfarben, 150 x 110 x 5 cm
8
Mittelalterlich I, (Flug-Stab), 1995: Zeitungspapier, Leim und Ölfarben, 145 x 36 x 3 cm
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Mittelalterlich II, 1995: Zeitungspapier, Leim und Ölfarben, 60 x 60 x 17 cm (ohne Abbildung)
10
Alamannisch, 1995: Zeitungspapier, Pappe, Leim und Ölfarben, 73 x 60 x 10 cm (ohne Abbildung)
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Paradiesisch, 1995: Zeitungspapier, Leim und Ölfarben, 100 x 80 x 6 cm
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Ur-Schritt, 1995: Zeitungspapier, Leim und Ölfarben, 76 x 78 x 2 cm
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Biographie
1941
in Freiburg/Breisgau geboren
1960-1962
Staatliche Meisterschule für Bildhauer und Steinmetze (u.a. bei Reinhard Schakowski und Johannes Schmidt), Freiburg
1962-1969
École Nationale Supérieure des Beaux-Arts, Paris. Meisterschülerin bei H.G. Adam und Etienne Martin, Staatsexamen für das Lehramt an Höheren Schulen
1965
Preisträgerin der 4. Biennale des Jeunes, Paris (Sektion Skulptur)
1965
1. Preis beim Internationalen Bildhauerpreis der École Nationale Supérieure des Beaux-Arts, Paris
1966
Einjähriges Arbeitsstipendium für die Stadt Cannes (Domaine de Barbossi)
1969-1972
Tätigkeit als Restauratorin für die staatliche Denkmalpflege (Monuments Historiques) – u.a. Palais Bourbon, Paris
seit 1968
Medaillen und Kleinplastiken für die Staatliche Münze (Monnaie de Paris), Bezirksärztekammer, Foundation Dr. Falk, Strahleninstitut der Universität, Freiburg
1971
Naturalisation française (auparavant apatride)
1973
Rückkehr nach Freiburg – seitdem freischaffend
1974
Preisträgerin beim internationalen Wettbewerb »Prix Renouveau de la Médaille«, Versailles
1978
1. Preis beim Medaillenwettbewerb: »Befreiung der Stadt Orléans durch Jeanne d’Arc«, Paris
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Ausstellungsbeteiligungen
1965
Chapitre Artistique de la Butte Montmartre, Paris
1965
Galerie Transposition, Paris (Annex – Ausstellung zur 4. Biennale des Jeunes, Paris)
1965
Salon de la jeune Sculpture, Paris
1965
4. Biennale des Jeunes, Paris
1966
Salon de la jeune Sculpture, Paris
1967
5. Biennale des Jeunes, Paris
1968
Gedenk – Ausstellungen: H.- G. Adam und Jeanne d’Arc, Musée de la Monnaie, Paris
1969
Salon de Mai, Paris
seit 1976 Jahresausstellungen des BBK, Freiburg 1983
»Gegenwartskunst im Augustinermuseum«, Städtische Galerie Schwarzes Kloster, Freiburg
1984
»Baden-Württembergische Landeskunst-Woche«, Landratsamt Rottweil
1985
»Fläche und Volumen, Wege zum Dreidimensionalen«, Rathaushalle am Marktplatz, München
1985
15 Stühlinger Künstler »100 Jahre Stühlinger«, Städtische Galerie Schwarzes Kloster, Freiburg
1986
Landesgartenschau, Freiburg
1992
»Medaillen seit der Antike bis zur Gegenwart«, Staatliche Galerie Moritzburg, Halle
1994
»50 Jahre Zerstörung und Wiederaufbau Freiburgs«, Ausstellungshalle Marienbad, Freiburg
1995
Museum für Naturkunde (Jubiläums-Ausstellung), Freiburg
1995
»’Gold, Perlen und Edel – Gestein…’ Reliquienkult und Klosterarbeiten im deutschen Südwesten«, Augustinermuseum, Freiburg
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Einzelausstellungen
1984
Städtische Galerie Schwarzes Kloster, Freiburg
1987
Städtisches Kulturamt Freiburg, Technisches Rathaus
1989
Galerie Zimmermann, Breisach
1993/94
Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, Freiburg
1995/96
Museum für Ur- und Frühgeschichte, Freiburg
Arbeiten in Sammlungen und im öffentlichen Raum Stadt Cannes, Musée de la Monnaie, Paris, Foundation Johnson, Wisconsin, USA in Freiburg: Augustinermuseum, Museum für Neue Kunst, Kulturamt, Allgemeine Stiftungsverwaltung (Adelhausen-Stiftung), Regierungspräsidium, Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, Universitätsbibliothek, Nonnengruft (Schwarzes Kloster), Synagoge, Rathaus
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Atelier: TellstraĂ&#x;e, Freiburg, 1995
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Herausgeber: Städtische Museen Freiburg, Museum für Ur- und Frühgeschichte
Konzeption der Ausstellung: Karin H. Bilyk, Sebastian Egenhofer, Ines Balzer, Hilde Hiller
Redaktion: Hilde Hiller, Ines Balzer
Schreibarbeiten: Daniela Götz
Fotos: Hans-Peter Vieser
Gestaltung: Büro MAGENTA Freiburg
Litho und Druck: Schwarz auf Weiß, Freiburg
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Museum für Ur- und Frühgeschichte der Stadt Freiburg und Karin H. Bilyk
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Vom Ur-Land. Papierarbeiten von Karin H. Bilyk.
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