iz3w Magazin # 390

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75 Jahre Pakistan – der zähe Kunststaat

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t Putins Ideologie t Kolonialraub und Rückgabe t Corona in Syrien

Mai / Juni 2022 Ausgabe q 390 Einzelheft 6 6,– Abo 6 36,–


In dies er Aus gabe . . . . . . . . .

Titelbild: Bibi Sarwat, eine professionelle Boxerin in Mariabad, Quetta | Foto: Habib Qasimi (Instagram @habibqasimii)

Schwerpunkt: Pakistan 17 18

Editorial Ein System von Schieflagen Eine Bastelanleitung für P.A.K.I.Stan in sieben Schritten von Jakob Rösel

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Editorial

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Politik und Ökonomie 24 4

Mexiko: Forensikerinnen wider Willen 27

Somalia: Farce und Fassade 30

Kenia: »Die Auslagerung von Umweltverschmutzung ist keine Lösung«

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Urbanisierung seit fünftausend Jahren Das heutige Städtewachstum in Pakistan ist enorm von Wolfgang-Peter Zingel

Syrien: Die potenzierte Katastrophe Covid-19 trifft auf ein zerstörtes Gesundheitssystem von Adopt a Revolution

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»Wo sollen wir hin?« Lilith Raza über Lebensrealitäten queerer Menschen

Interview mit der Umweltaktivistin Phyllis Omido

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Gletscherschmelze und Monsun Pakistans Umgang mit der Klimakrise von Mome Saleem

Die Regierung agiert ohne Legitimation von Markus Virgil Höhne

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Der demokratische Dreh Im Parlament und auf der Straße geht es hoch her von Theodor Rathgeber

Die Suche nach Verschwundenen von Patricia Saavedra Tovar

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Die erste islamische Republik Pakistans ungeklärtes Verhältnis zur Religion von Simon Wolfgang Fuchs

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»Ich bin keine Heldin, ich gehe meiner Arbeit nach« Interview mit Haya Fatima Iqbal über Dokumentarfilme

Zentralasien: Schwieriger Balanceakt Was der Ukrainekrieg für die Region bedeutet von Peter Korig

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Russland: Einiges Russland Der Putinismus als völkische Ideologie von Heinz Gess

Kultur und Debatte 38

Film I: Sehnsucht nach einem besseren Leben Die Berlinale zeigt afrikanische Dokumentarfilme zu Migration von Isabel Rodde

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Film II: Mutiger Widerstand »Myanmar Diaries« gewinnt den Berlinale-Dokumentarfilmpreis

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Restitution: Mangi Meli – Rufe aus dem Depot Ein tansanischer Enkel sucht die Gebeine seines Großvaters von Victor Maria Escalona

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Kolonialismus: Tief im Westen Wuppertal und der deutsche Kolonialismus von Oliver Schulten

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Rezensionen

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Szene / Impressum


Editorial

Russlands Medien schießen mit D

W

a tanzten sie wieder, die Schwäne. Mit den Worten »Nein zum Krieg« verabschiedete sich am 3. März die Redak­ tion des unabhängigen russischen Onlinesenders Doschd von ihren Zuschauer*innen. Anstatt auf die kritische Berichterstattung über den Angriffskrieg zu verzichten, entschloss sich der unabhängige Kanal den Betrieb einzustellen. Man sendete zum Abschluss Tschaikowskis Schwanensee. Für Zu­ schauer*innen, die den Zusammenbruch der Sowjetunion vor Augen haben, eine eindeutige Anspielung: T ­ schaikowski in der Dauerschleife, das gab es zuletzt im August 1991, während einem erfolglosen Putsch gegen die Regierung Gorbatschow. Vor dem Fernsehen als Massenmedium fürchteten sich die Putschisten. Wladimir Putin hingegen muss das Fernsehen nicht fürchten, als russische Panzer Ende Februar über die ukrainische Grenze rollen. Schon vor dem Krieg nahm das Land auf dem Index der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen den Platz 150 von 180 ein. Mit scharfen Mediengesetzen, Abschaltungen und direkter Einschüchterung geht Russlands Regierung seit Jahren gegen unabhängige Medien vor. Die verbleibende Medienlandschaft ist, mit wenigen Ausnahmen, regimetreu – und schießt im Krieg gegen den Feind in der Ukraine fleißig mit. »Zu unser aller Erstaunen ist ein beträchtlicher Teil der ukrainischen Gesellschaft dem Wahn des Nazismus verfallen«, schwört etwa Margarita Simonyan das russische Fernsehpublikum Ende März gegen die ukrainische Bevölkerung ein. Simonyan ist nicht irgendwer in der russischen Medienlandschaft, sondern Chefredakteurin des staatlichen Medienunternehmens Rossija Sewodnja (Russland heute). Eine knappe Woche nach ihrer Äußerung gehen die Fotos der Kriegsverbrechen von Butscha um die Welt, einer Kleinstadt im Nordwesten Kiews. Offensichtlich sind Zivilist*innen unter den Opfern. Der russische Überfall erweist sich mehr und mehr als organisiertes Massaker. »Wir sind gekommen, um euch von dem Schmutz zu reinigen«, habe einer der russischen Soldaten gesagt, zitiert die Organisation Human Rights Watch eine Zeugin des Massakers. Von der Erklärung einer ganzen Gesellschaft zu »Nazis« lassen sich solche Aussagen nicht trennen.

ährend man im Kreml die Verantwortung für das Kriegsverbrechen von sich weist, rechtfertigen regimetreue Medien den Angriffskrieg und haben ihn mitvorbereitet. Man führe keinen Krieg gegen die ukrainische Bevölkerung, sondern eine Spezialoperation gegen Nazis, hatte man über Wochen erzählt. Nun werden auch Angriffe auf die ukrai­ nische Bevölkerung kaum verklausuliert gerechtfertigt. »Die Annahme ‚die Menschen sind gut – die Regierung ist schlecht‘ funktioniert nicht«, heißt es in einem mit »Was soll Russland mit der Ukraine tun?« betitelten Beitrag, den die staatliche Nachrichtenagentur RIA Nowosti am 3. April veröffentlichte. Die »unausweichlichen Schäden des gerechten Kriegs« s­ eien die »gerechte Strafe« für die Unterstützung des »Ukronazismus« durch einen »erheblichen Teil« der ukrainischen Bevöl­ kerung. Der Text gipfelt in der Forderung nach der Vernichtung des ukrainischen Staats und jeglicher ukrainischer Kultur: »Die Denazifizierung wird unweigerlich eine DeUkrainisierung sein«. Zeilen, die Munition für weitere Kriegsverbrechen sind und die mit ihrem Fokus auf die ukrainische Zivilbevölkerung ahnen lassen, wie das weitere militärische Vorgehen Russlands in der Ukraine aussehen wird. Glaubt man in der russischen Bevölkerung derartigen Wahn? Zumindest ist das Vertrauen in die russischen M ­ edien größer, als man denken könnte. Gerade das staatlich kon­ trollierte Fernsehen gilt unangefochten als das Lieblings­me­ dium der Russ*innen. Immerhin 46 Prozent der Bevölkerung gaben bei einer Umfrage der russischen Agentur Lebeda vom Mai 2021 an, dem russischen Fernsehen zu ver­trauen. Umgekehrt gesagt: Die Verantwortung für die russi­schen Kriegsverbrechen reicht weit in die Medien und in die Bevölkerung hinein. Während dieses Fernsehen weiterhetzt, ist ein großer Teil der Doschd-Redaktion ins Ausland geflohen. Sie erhielten Drohungen und fühlten sich in Russland nicht mehr sicher. Im Krieg, in dem die russische Medienlandschaft mitfeuert, sind sie Deserteur*innen. Den Kolleg*innen in den staatlichen Medienagenturen hingegen möchte man eine Variante dessen sagen, was in ukrainischen Städten an zahlreichen Wänden steht: »российская пропаганда, иди нахуй«: Fuck you, russische Propaganda. die redaktion

PS: Dem Krieg in der Ukraine widmet die iz3w in der

PPS: Unabhängiger Journalismus ist eine finanziell prekäre

nächsten Ausgabe einen eigenen Themenschwerpunkt. Um die Reaktionen auf den Krieg in Russlands Nachbarländern und die Ideologie des Putinismus geht es in diesem Heft in zwei Beiträgen ab Seite 12.

Angelegenheit. Mit den Aboeinnahmen deckt die iz3w ihre Produktionskosten gerade so. Wer die Redaktion und die Projekte des iz3w in ihrer Arbeit unterstützen will, kann dies mit einem Förderabo tun. Infos hierzu unter www.iz3w.org/abo.

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Zentralasien

Schwieriger Balanceakt Was der Ukrainekrieg für Zentralasien bedeutet Der russische Einmarsch in die Ukraine erschüttert die p ­ rekäre Ordnung, die sich im postsowjetischen Raum seit den 1990erJahren herausgebildet hat. Viele Staaten in Zentralasien haben bis heute enge, insbesondere wirtschaftliche Verflechtungen mit dem großen Nachbarn Russland. Wie reagieren sie auf den Krieg?

von Peter Korig Die postsowjetische Ordnung kann kaum als Friedensordnung beschrieben werden. Bürgerkriege, darunter der in Deutschland kaum zur Kenntnis genommene, äußerst blutige Tadschikische Bürgerkrieg (1992 – 1997), die eingefrorenen Konflikte um Trans­ nistrien, Abchasien, Südossetien und Arzach (Berg-Karabach) sowie bewaffnete Aufstände waren in den letzten 30 Jahren Teil dieser Verhältnisse. Der jetzige Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist ein Krieg zwischen zwei souveränen Staaten mit dem Potential der weiteren internationalen Eskalation. Er wurde von Russland mit dem Ziel begonnen sowohl die politischen Verhältnisse des Nachbarlandes als auch dessen international anerkannte Grenzen zu verändern. Deshalb ist er doch etwas qualitativ Neues. Vieles spricht dafür, dass dieses Ereignis die politischen Verhältnisse im postsowje­ tischen Raum grundlegend verändern wird, beziehungsweise sich schon lange anbahnende Veränderungen nun zum Durchbruch kommen. Auch wenn es beim Schreiben dieses Textes – einen knap­pen Monat nach Beginn des Krieges – zu früh ist für ­endgültige Schlüs­se, so lassen sich doch erste wichtige Beobachtungen anstellen. tt

Abhängigkeit von Russland Absehbar ist, dass auch in Zentralasien, in den von der Ukraine geographisch am weitesten entfernten ehemaligen Sowjetrepubliken, die Folgen des Krieges einschneidend sein werden. In dieser Region konnte sich Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion eine Vormachtstellung sichern, die vor allem auf seiner relativen ökonomischen und militärischen Stärke beruhte. Als mit der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Republiken in den 1990erJahren der innersowjetische Warenaustausch zum internationalen Handel wurde, war Russland wichtigster Handelspartner dieser Staaten. Deshalb wickelt das rohstoffreiche Kasachstan bis heute den Großteil seines Exportes von Erdöl und -gas in Drittstaaten über die Russische Föderation ab; in Usbekistan sind die russischen Konzerne Gazprom und Lukoil die wichtigsten Akteure der Ölförderung. Vor allem aber wurde Russland zum wichtigsten Zielland zentralasiatischer Arbeitsmigrant*innen. Der Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft führte in Zentralasien, das schon zu den ärmsten Regionen der Sowjetunion gehört hatte, zum Verlust der Existenzgrundlage vieler Menschen. Mit der Erholung der russischen Wirtschaft Anfang der 2000erJahre tat sich eine Alternative auf: Millionen gingen als Saison­ar­ beiter*innen im Baugewerbe, im Dienstleistungssektor und in der Straßenreinigung und -unterhaltung nach Russland. 2021 arbeitett

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ten dort etwa 4,5 Millionen Usbek*innen (bei einer Gesamtbevölkerung von circa 35 Millionen), 2,4 Millionen Tadschik*innen (zehn Millionen) und eine knappe Million Kirgis*innen (sieben Millionen). Ihre Rücküberweisungen sind die Lebensgrundlage großer Teile der zentralasiatischen Bevölkerung – in Tadschikistan und Kirgistan machen sie etwa ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes aus. Die existentielle Bedeutung der Arbeitsmigration für die Herkunftsstaaten wird von Russland sowohl als Druckmittel als auch Anreiz benutzt. Neben diesen wirtschaftlichen Verflechtungen spielt Russland eine große sicherheitspolitische Rolle und unterhält Militärbasen in Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan. Den Anspruch, sicherheitspolitisch in der Region den Ton anzugeben, unterstrich Russland zu Jahresbeginn mit einem Militäreinsatz in Kasachstan. Als es dort anlässlich der Erhöhung der Preise für Flüssiggas zu einem Aufstand kam, rief Präsident Qassym-Schomart Toqajew die von Russland dominierte Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) zur Hilfe. Ab dem 6. Januar 2022 landeten russische Militärs, aber auch Einheiten aus Belarus, Armenien, Tadschikistan und Kirgistan in Kasachstan und unterstützten die Niederschlagung des Aufstandes. Es war der erste Einsatz des Militärbündnisses.

Ängste in der Region Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass sich die zentralasiatischen Regierungen gegenüber dem russischen Einmarsch in der Ukraine und den Versuchen, sie zu einer Unterstützung dessen zu bewegen, sehr reserviert verhielten. Noch vor dem Einmarsch in der Ukraine sprach Putin mit dem kasachischen Präsidenten. Presseberichten zufolge soll dabei die Frage einer Unterstützung des russischen Einsatzes durch Kasachstan im Raum gestanden haben. Toqajew wies dieses Ansinnen jedoch zurück. Kirgistans Präsident Sadyr Dschaparow erklärte gegenüber der kirgisischen Nachrichtenagentur AKIpress am 9. März: »Wir sind ein kleines Land und haben nicht genug Einfluss, um den Krieg zu stoppen. Daher müssen wir unparteiisch sein.« Der usbekische Außenminister Abdulaziz Komilov wurde laut der usbekischen Onlinezeitung Gazeta.uz noch deutlicher: »Usbekistan erkennt die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine an. Wir haben die Volksrepubliken Luhansk und Donetsk nicht anerkannt.« Eine derart offene Distanzierung bleibt aber die Ausnahme. Bei der Abstimmung in der UN-Vollversammlung über eine Verurteilung der russischen Aggression enthielten sich die Delegierten der zentralasiatischen Staaten oder blieben der Abstim­ mung fern. Der Balanceakt, der in diesem Agieren zum Ausdruck kommt, hat Gründe. Russland ist für die Region ökonomisch und militärisch zu wichtig, um es zu brüskieren. Andererseits drohen die ökonomischen Folgen des Krieges für Russland die zentralasiatischen Staaten mit in den Abgrund zu reißen. In Folge des drastischen Wertverlustes des Rubels verloren auch ihre Währungen an Wert. Es besteht die Sorge, dass sich durch den absehbaren massiven Einbruch der russischen Wirtschaft die Rücküberweisungen der Arbeitsmigrant*innen drastisch verringern werden. Zudem dürften aufgrund des russischen tt

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Die aserbaidschanische Community unterstützt die Ukraine in Toronto/Kanada am 27. Februar 2022 | Foto: Can Pac Swire CC BY-NC 2.0

Exportstopps für Getreide und dem Wegfall von Lieferungen aus nördlichen Grenzregionen eine große russische Minderheit lebt, der Ukraine die Lebensmittelpreise steigen. Das ist nicht nur ein ist diese Befürchtung groß. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, soziales, sondern, wie der Aufstand in Kasachstan gezeigt hat, auch dass hier – wie auch in der Ukraine – ethnische Russ*innen den ein Sicherheitsproblem. Angesichts dieser SituaHerrschaftsanspruch Russlands zurücktion bemühen sich die Regierungen, nicht durch weisen und sich zu ihrer kasachischen In repressiven Regimen birgt eine öffentliche Unterstützung Russlands selbst Staatsbürgerschaft bekennen. jeder gesellschaftliche Konflikt zum Ziel von Sanktionen zu werden, die die ökoWie groß die Unterstützung für die nomische Lage noch verschärfen würden. unterschiedlichen Positionen ausfällt, die Gefahr der Eskalation ist schwer zu beurteilen. In den hochrepressiven Regimen der Region birgt Unübersichtliche Gesamtlage jedoch jede Form von gesellschaftlichem Konflikt die Gefahr einer tt Neben außenpolitischen und ökonomischen Zwängen ist auch Eskalation, die die Stabilität der jeweiligen Herrschaft zu untergradie Stimmung in den jeweiligen Gesellschaften zu berücksichtigen. ben droht. Deshalb wird versucht, die sichtbar werdenden SpanSo gibt es durchaus ein Segment der Bevölkerung, das prorussisch nungen zu moderieren. In Kasachstan wurde z. B. eine Kundgebung in Unterstützung für die Ukraine genehmigt, an der 6.000 Menschen eingestellt ist und in dem Putin hohe Zustimmung genießt, nicht nur unter in der Region lebenden ethnischen Russ*innen. Die Polito­ teilnahmen. In Usbekistan empfahlen die Sicherheitsdienste den login Asel Doolotkeldieva von der OSZE-Akademie in Bishkek weist Medienschaffenden, bei ihrer Berichterstattung über den Konflikt am Beispiel Kirgistans darauf hin, dass diese Haltung nicht das in der Ukraine neutral zu bleiben. Resultat von Desinformation und Propaganda sei, sondern auf von Dass die Regime in Zentralasien diesen Kurs der Balance verfolArbeitsmigrant*innen gemachten Erfahrungen und dem Vergleich gen können und versuchen, sich den russischen Forderungen nach zwischen den ökonomischen und politischen Verhältnissen in Unterstützung zu entziehen, liegt daran, dass die russische DomiRussland und dem Herkunftsland beruhe. In einer prorussischen nanz in der Region langsam durch andere Akteure abgelöst wird. Haltung drücke sich so ein kritisches Verhältnis zu den Machthabern An erster Stelle natürlich durch China, das Russland als wichtigsten vor Ort aus. Zudem könne eine prorussische Haltung auch Resultat Handelspartner in der Region ersetzt hat, wichtiger Kreditgeber ist der Ablehnung des in der Region wachsenden chinesischen Einund mit dem Projekt der Neuen Seidenstraße (iz3w 372) die infra­ flusses sein. strukturelle Erschließung vorantreibt. Aber auch die Türkei spielt, Andererseits gibt es vor Ort auch eine große Solidarität mit der wenn auch in weit geringerem Maße, eine wichtige Rolle. Ukraine. Neben humanistischen Beweggründen wird diese offensichtlich durch die Besorgnis genährt, Russland könne auch in Zentralasien versuchen, Regionen oder Staaten mit Gewalt seiner tt Peter Korig beobachtet und schreibt über Krisen und soziale Herrschaft zu unterwerfen. Insbesondere in Kasachstan, in dessen Bewegungen in postsozialistischen Gesellschaften. iz3w • Mai / Juni 2022 q 390

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Ein System von Schieflagen Eine Bastelanleitung für P.A.K.I.Stan in sieben Schritten

Die Stadt Quetta | Foto: Zahra Asghari (Instagram @zahrra_asghari)

Hindu-Indien legitimieren sich der 1947 entstandene Kunststaat und sein Militär. Mit aktuell 240 Millionen Einwohner*innen und der doppelten Fläche Großbritanniens, ein Viertel Indiens, ist Pakistan das Resultat einer doppelten Abspaltung: Erst 1947 im Rahmen der gewaltsamen Teilung Britisch-Indiens; und zweitens 1971, mit der Abspal­ tung Ost-Pakistans als Bangladesch. Der zurückgebliebene westpakistanivon Jakob Rösel sche Rumpfstaat wäre ein armseliges Die Vorstellung eines separaten Berg- und Wüstenland, hätte er nicht Staates für Muslim*innen gilt tt Weitgehend unbemerkt und trotz seiner die Lebensader des Indus und seiner als ‚Studentenidee‘ internen Konfliktträchtig­keit ist Pakistan zum fünf Z ­ usatzströme des Punjab. Pakistan ist ein doppeltes Kuriosum. fünftbevölkerungsreichsten Staat angewachsen. Seine Stellung unter den Big Five ist einEinerseits aufgrund seiner ungebremszigartig. Pakistans Regierungseliten haben es geschafft, die beiden ten außen- und militärpolitischen Ambitionen. Andererseits aufgrößten Supermächte, USA und China, als Bündnispartner zu halten grund seines bislang unvollendeten Staatsaufbaus. Das Land ist und gegeneinander auszuspielen. Gegenüber dem Erzrivalen Indien ein nach außen überambitioniertes, nach innen unfertiges Kunstist dies von größtem Nutzen. Diese Rückendeckung ermöglicht gebilde, das trotz einer bemerkenswerten Serie von Katastrophen, Pakistan und seinem Militär direkte oder indirekte Provokationen politischen Morden und ungelöster interner Konflikte nicht nur und Terrorangriffe. Mit der Bedrohung durch ein übermächtiges existiert, sondern wächst und auch funktioniert – zumindest im

Der Gründung von Pakistan lag keine Idee, kein Programm zugrunde. Es entstand, weil eine Partei im indischen Dekoloni­ sierungsprozess mehr Rechte für indische Muslime forderte. Die Eliten- und Herrschaftspositionen waren dennoch schnell besetzt. Und bald existiert Pakistan seit 75 Jahren. Wie und warum ist schwer durchschaubar.

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Pakistan

»Land der Reinen«. Bemerkenswert an dieser neuen Utopie: OstBengalen, das heutige Bangladesch, Heimat von so vielen Muslim*­ innen Britisch-Indiens, wird nicht genannt. Ein britischer Fachbeamter, Sir Radcliffe, der Indien nicht kennt und noch nie besucht hat, wird 1947 eingeflogen und in einem Bungalow bei Neu-Delhi eingeschlossen. Hier zieht er die neuen Grenzen. Während die Massaker sich weiter ausbreiten, auch weil die britische Armeeführung die Kontrolle über die muslimischen und hindutreuen Truppenteile verliert, wird in aller Eile der 14. Au­ gust 1947 als Unabhängigkeits- und Teilungstag festgelegt. Am Tag der Teilung wachen etwa in der nunmehr geteilten Provinz Punjab Millionen von Hindus, Sikhs und Muslim*innen auf der ‚falschen‘ Seite einer bislang inexistenten Grenze auf. Die Spaltung zwischen Hindu- und der muslimischen Bevölkerung dominiert das Geschehen. Es kommt zu bislang unvorstellbaren Massakern und Fluchtbewegungen. Insgesamt werden im Westen zwölf Millionen Menschen vertrieben, vermutlich eine Million Menschen werden erschlagen. Im Osten verläuft die Teilung relativ friedlich. Jinnah und die Elite der Muslimliga ziehen nach Karachi, das zugleich als Hauptstadt dient. Diese Fachbeamt*innen, Intellek­ tuellen, Hochqualifizierten und Magnat*innen nennen sich M ­ uhajir. Da aus dem Indus-Tal und Karachi alle Hindu-Beamt*innen verschwunden sind, versucht diese neue Liga-Intelligenzia inmitten der Vertreibungen und Mordwellen einen neuen Staat aufzubauen.

I. 1950er-Jahre: Die Punjabisierung Pakistans Schon der erste Schritt für eine staatliche Strukturbildung wird verstolpert: Die Verabschiedung einer Verfassung und die Durchführung allgemeiner Wahlen. Stattdessen blockiert sich die Muslimliga mit Intrigen und ständigen Kabinettsumbildungen selbst. In neun Jahren ohne Wahlen werden sieben Premierminister verbraucht. Der Grund: Pakistan ruht auf einem Ungleichgewicht. Rund sechzig Prozent der Bevölkerung leben im 1.800 Kilometer entfernten, dicht bevölkerten bengalischen Ost-Pakistan, rund vierzig Prozent im Westen. Gemäß »one man, one vote« läge die Macht rasch bei den Bengal*innen im Osten. Diese gelten einem spezifischen Rassismus folgend als unzuverlässig und faul. Wie kann die Machtkontrolle für den Westen, für die Liga und die Muhajir entgegen der realen Mehrheitsverhältnisse gesichert werden? An diesem Problem zerbricht die Erste Republik. Das Problem der Einbindung Ost-Pakistans verschärft sich zusätzlich aufgrund einer weiteren ethno-politischen Verschiebung. Diese entspringt den innerhalb des Westens existierenden, Matruschka gleichen, weiteren Ungleichgewichten, allen voran denjenigen des Westpunjab. Er umfasst gerade ein Viertel des Territoriums, aber hier lebt rund die Hälfte der Bevölkerung WestPakistans. Die anderen Provinzen zählen zunächst nicht. Weder das riesige Balutschistan noch die Paschtun*innen der Nordwest-Provinz oder die Sindh-Bewohner*innen fallen ins Gewicht. Es sind die übermächtigen Eliten des Punjab, die den weniger als zehn Prozent Muhajir in den 1950er-Jahren den Rang in der Staatsführung und Verwaltung ablaufen. Die Punjabisierung des Staates schiebt das ethnopolitische OstWest Problem auf die lange Bank und macht es zwei Jahrzehnte unsichtbar, am Ende unlösbar. Entscheidend für das Überleben des unfertigen Staates wird eine bis heute fortdauernde Allianz mit den tt

Interesse seiner militärischen und ökonomischen Eliten. Im Folgenden werden sieben Schritte aufgezeigt, die zur Entstehung der aktuellen Struktur beigetragen haben, zu einem System von Schieflagen und Antagonismen, die sich bislang gegenseitig stützen.

0. Ein Schritt zurück Ein Kalauer besagt, Großbritannien soll eine gute Kolonialmacht gewesen sein, aber miserabel in der Dekolonialisierung, Frankreich umgekehrt. Der Unabhängigkeitsprozess Britisch-Indiens wäre dafür ein Paradebeispiel. Weil die säkulare indische Kongress-­ Bewegung unter Nehru und Gandhi Indiens Unabhängigkeit forderte, unterstützt Großbritannien die Muslim-Eliten als neue Partei. Das Resultat ist die 1908 gegründete All-Indische Muslimliga. Sie wird aufgebaut von einem in Karachi geborenen Rechtsanwalt, dem säkularen Ali Jinnah. Die Vorstellung eines separaten Staates für die Muslim*innen gilt noch als Schrulle, als ‚Studentenidee‘. Tatsächlich hatte ein Student P.a.k.i.stan in London entworfen. Dabei steht P für Punjab, A für Afghanistan, K für Kaschmir, I für Sindh/Indus und Stan für Balutschistan. Pakistan bedeutet auch tt

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USA. Es ist die Zeit des Kalten Kriegs. Für einen Südostasienpakt und im Namen der Dekolonialisierung zeigt Indien den USA die kalte Schulter. Damit ist der Weg frei für Pakistan. Das Bündnis USA-Pakistan wird von Anfang an parallel, zwischen den Regierungen und zwischen den Militärs eingefädelt. Dabei steht General Ayub Khan im Mittelpunkt der außenpolitischen Verhandlungen mit den USA. Das Bündnis bringt für Pakistan zukünftig US-Kredite, Technologien, Finanzspritzen, Diplomatie und Dienstleistungen. Das rettet den prekären Staat wieder und wieder: nach seinen Kriegen, Wirtschaftskrisen, Putschen und Provokationen. Wenig später überzeugt Ayub Khan innenpolitisch die handlungsunfähige Karachi-Regierung von einer einstweiligen Lösung des bengalischen Subordinationsproblems: ein ZweiterritorienWahlrecht à la »One Unit«. »50 Prozent zu 50 Prozent« soll die Teilhabe Ost-Pakistans ab 1956 möglich machen, ohne es dominieren zu lassen. Sollte dabei das Parlament oder die Regierung nicht entscheidungsfähig sein, dann sichern die nationalen Kräfte, die Verwaltung und die Armee den Zusammenhalt. Die Eliten sind als Einheitsgarant*innen gefragt – und sie sind überfordert. Es folgt ein Putsch. Jubelnd begrüßen in Karachi die Honoratior*innen und deren Gefolgsleute Putschgeneral Ayub Khan. Punjabistan als Mili­ tärstaat beginnt.

II. Die 1960er-Jahre: Militärherrschaft Feldmarschall und Staatspräsident Ayub Khan ist der perfekte, anglisierte Modernisierer für die Kennedy- und Johnson-Jahre, für die Zeiten der »Entwicklungsdiktatur«. Unter Ayub werden die Grundlagen dessen gelegt, was inzwischen als »military incorporated«, als militärische Parallel-Ökonomie und »Staat im Staate« beschrieben oder kritisiert wird. Auf britischen Vorgängerprojekten aufbauend, werden entlang des Indus riesige neue Staudämme und Kanalsysteme errichtet. Das Militär selbst wird zum Hauptgewinner dieser immensen Anbau- und Kanalerschließung. In allen neuen Bewässerungsabschnitten erhalten die mittleren und höheren Militärs Grundstücke und Beteiligungen. Mithilfe intransparenter Finanzquellen betreibt das Militär Bäckereiketten, Fluglinien, Transportgesellschaften, Bau- und Zementindustrien, Wohnungsbaugesellschaften, Hotelketten, Reisebüros, Kreditinstitute und Shopping Malls. Das Militär verfügt zudem über eigene Bankensysteme. Strategisch folgt 1965 eine Überlebensprobe. Ayubs ehrgeiziger und charismatischer Außenminister, Zulfikar Ali Bhutto, überredet den alternden Feldmarschall gegen Indien einen Angriffskrieg zu führen. Der Plan geht schief, indische Panzerkolonnen stehen kurz vor Lahore. Es folgen demütigende Friedensverhandlungen. Die USA haben Pakistan in dem Debakel im Stich gelassen, glaubt das Militär. Sie suchen sich – zunächst diskret – einen weiteren Bündnisgenossen jenseits des Karakorum-Passes, China. Bhutto gibt Ayub die Schuld für die Niederlage, tritt zurück und gründet die erste große Konkurrenzpartei der Muslimliga, die Pakistan Peoples Party (PPP). tt

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III. Die 1970er-Jahre: Demokratischer Rumpfstaat Die scheindemokratische »One Unit«-Formel hat über ein Jahrzehnt die Unterordnung der Ost-Bengalen vergessen lassen – in West-Pakistan. Im Wahlkampf kommt das Problem zurück. In Osttt

Pakistan hat Sheikh Mujibur Rahman die Awami-Liga in eine all­ gegenwärtige Autonomiebewegung verwandelt. Wenn Wahlen, so fordert er erfolgreich, dann »one man, one vote«. Das Ergebnis von 1971 ist eindeutig. Im Westen erhält Bhutto die absolute, im Osten Sheikh Mujibur und seine Awami-Liga die fast hundertprozentige Mehrheit. In Ost-Pakistan bricht der Bürgerkrieg aus. Eine riesige Zahl von Menschen flüchtet nach Westbengalen, insbesondere nach Kalkutta, mitten im Monsun. Indira Gandhi folgt ihrem Satz: »Es gibt schlimmeres als Krieg« und lässt die indische Armee einmarschieren. Nach wenigen Tagen kapituliert die pakistanische Armee. Damit steht der Wahlgewinner im Westen, Zulfikar Ali Bhutto, vor einem Scherbenhaufen. Der wird ihm vom Militär gern überlassen. Bhutto übernimmt einen Rumpfstaat. In einem Jahrzehnt der noch ungebrochenen Sozialliberalität setzt der programmatische Sozialdemokrat auf Verstaatlichungen, (schwache) Gewerkschaften und Wahlgeschenke. Steuern kann der von Großgrundbesitzer*innen, Industriellen und Militärs geführte Staat nicht eintreiben. Schließlich sind die Bhuttos selbst die größten Landbesitzer im Sindh, im Bezirk Larkana. Bhutto muss sich andere Finanzierungsquellen suchen. Bhutto öffnet die Moscheen, Koranschulen, islamischen Banken, aber auch die Privatschulen des Landes gegenüber dem SaudiWahhabismus und der islamischen Orthodoxie. Diese Maßnahmen retten den pakistanischen Rumpfstaat, aber sie retten nicht den Premier. Er macht mit der Ernennung des niedrigkastigen Mohammed Zia-ul-Haq zum Stabschef der Armee einen tödlichen Fehler. Von Bhutto belächelt und im Kabinett gedemütigt, nutzt Zia als oberster Befehlshaber der Streitkräfte innenpolitische Unruhen, um Bhutto abzusetzen und eine zweite Militärherrschaft zu etablieren. In einem viele Monate durchlaufenden Verfahren orchestriert Zia einen Justizmord. 1979 wird Bhutto gehängt.

IV. Die 1980er-Jahre: Der islamistische Frontstaat Nach dem Justizmord an Bhutto ist Zia ein internationaler Paria. Der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, Weihnachten 1979, muss ihm wie ein Gottesgeschenk erschienen sein. Von Pakistan aus wird künftig der antisowjetische Dschihad organisiert. Seit der US-Präsidentschaft Ronald Reagans 1981 stehen dafür milliardenschwere Gelder und Waffen bereit. Auch Saudi-Arabien ist beteiligt. Zia ist Fundamentalist, aber auf der ‚richtigen‘, der sunnitischen Seite. Er hat, was Bhutto aus Not begann, von Anfang an mit Überzeugung fortgesetzt: mit islamischem Banking, mit Sharia-Gesetzgebung, der Förderung islamistischer Gruppen und selbst der Muhajir. Jetzt bietet sich ihm die einzigartige Gelegenheit eines islamistischen Feldzugs gegen die Sowjets. Er erklärt Pakistan zum Frontstaat, sich nach innen zum Verteidiger des Islam und gen Washington als den der Demokratie. Vor allem aber setzt er ein absolutes Monopol und Kontrollrecht über den Dschihad gegenüber den Finanziers in Washington durch. Nur das pakistanische Militär und sein unheimlicher Geheimdienst, ISI, organisieren die Mudschaheddin. Sie erhalten Geld und Waffen von den USA und verteilen sie an angemessen radikale, überwiegend paschtunische Kriegsführer. 1988/89 endet das goldene Zeitalter des Dschihad. Ebenfalls 1988 kommen bei einem rätselhaften Helikopterabsturz Zia, mehrere Generäle und der amerikanische Botschafter ums Leben. Die Armee ruft die Politiker*innen der zwei großen Parteien zu Hilfe: die Muslimliga und die von Benazir ­Bhutto tt

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Pakistan

geführte PPP. Unter diesen für die Anerkennung und Kreditbeschaffung in Washington alles in allen günstigen Bedingungen enden die 1980er-Jahre besser, als sie begonnen haben.

V. Die 1990er-Jahre: Der Zwei-Parteien-Staat Das Jahrzehnt ist vom schnellen Wechsel von Premiers, Regierungen, übergangsweisen Caretaker-Kabinette und bald sogar Caretaker-Staatspräsidenten geprägt. Die Wahlbeteiligung geht zurück und es mehren sich Wahlüberraschungen, allerdings selten angenehme. Kandidat*innen werden eingeschüchtert und e­ rmordet, zwischen Sunna- und Shia-Wähler*innen entstehen lokale Bürgerkriege, hinzu kommt massenhafter Wahlbetrug, etwa durch gefälschte Stimmzettel. Auf der Parteienebene dominiert die Muslimliga und die Pakistan Peoples Party; daneben bestehen drei religionspolitische Kleinparteien und Netzwerke: eine fundamentalistische, eine orthodoxe und eine anfänglich eher traditionalistische Partei. Alle werden jetzt zunehmend radikaler und kooperieren mit Terrorgruppen. Daneben gibt es eine Vielzahl auf Provinzen beschränkte regionalistische, kulturnationalistische oder tribale Gruppierungen, die meisten im tribal fragmentierten, politisch bedeutungslosen Balutschistan. Auf der Eliten-Ebene sind die Akteure mächtige Punjabi-Eliten, Industriellenfamilien, Handelshäuser, die paschtunischen und die Punjabi Militärs, die Muhajir und die Sindhi »Waderos«, mit fast mittelalterlichem Großgrundbesitz. Hinzu kommen im Sindh und im Punjab die »Pirs«: Dynastien von Heiligen, also volksreligiöse Mystiker, die über große Wallfahrtszentren, riesigen Landbesitz und oft hunderttausende von Anhänger*innen verfügen. Aus Sicht dieser Eliten ist die Regierungsform immer noch zufriedenstellend, nicht nur bis zum nächsten Putsch Ende 1999, sondern im Kern bis heute. Seit 1988 haben sich Benazir Bhutto und Nawaz Sharif von der Muslimliga viermal an der Macht abgewechselt; zumeist vom Präsidenten entlassen und von Caretakern geschäftsführend abgelöst. Daneben droht die Kontrolle des Militärs über die demokratische Scharade verloren zu gehen. Deshalb kommt es kurz vor Ende des Jahrtausends zu einem neuerlichen Putsch. tt

VI. 2000 bis 2010: Das Caretaker-Management Verantwortlich für den neuerlichen Putsch ist der gebildete, leicht onkelhafte Parviz Musharraf, ein Muhajir. Er hat einen Teil seines Lebens in der Türkei verbracht, wo er die Selbstermächtigung des türkischen Militärs kennenlernte. Ihm gefällt die Vorstellung, analog zu Atatürk ein »Atapak«, ein »Vater aller Pakistanis« zu werden. Zwei Rahmenbedingungen machen Musharraf bald zur tragischen Figur: Einerseits scheitert er an einer liberalen Öffentlichkeit, die während mehr als zehn Jahren, wenn auch manipulierter, Demokratie entstanden war. Andererseits gerät er durch den Afghanistan-Krieg der USA zwischen den starken Verbündeten und pro-Taliban-Kräften im eigenen Land. Musharraf tritt schließlich zurück. Die aus dem Exil zurückgeholte Benazir Bhutto kann die e­ rhoffte demokratische Wende nicht begleiten. Das Spiel von Militär und ISI mit den Taliban, mit islamistischen Parteien, mit Terrorgruppen und deren Netzwerken ist außer Kontrolle geraten. Benazirs Triumphzug durch Karachi wird durch einen riesigen Explosionsfeuer­ball unterbrochen, Dutzende von Anhänger*innen werden zerrissen. Sie selbst stirbt wenig später durch eine weitere Bombe. tt

VII. 2010 bis heute: Der diskreditierte Staat Infolge dieser Attentate übernehmen diskreditierte und korrupte Koryphäen der PPP und der Liga die Regierungsführung. Das ist zunächst der zwielichtige, steinreiche Witwer Benazir Bhuttos, Zardari. Das ist auf der anderen Seite der ungekrönte Königsmacher im Punjab und in der Muslimliga, Nawaz Sharif. Die entscheidende neue Kraft aber ist der islamistische Terror. Militär und ISI, selbst fraktioniert, spielen, je nach Anlass und Notwendigkeit, mit den islamistischen Gruppen. Seit Kriegsende 1988 werden diese Gruppen in Richtung Indien, insbesondere nach Kaschmir, entsandt. Im Inneren sind diese islamistischen Parteien, Fraktionen und Organisationen schon längst unkontrollierbar geworden. Die Wahl 2018 bringt einen Machtwechsel. Ein wenig orthodoxer, vierfach verheirateter ehemaliger Cricket-Kapitän übernimmt mithilfe einer neugegründeten Fan-Partei die Macht in Islamabad. Lange Zeit scheint Präsident Imran Khan zur Zufriedenheit und mit Unterstützung der Militärs zu agieren. Die Machtübernahme der Taliban hat er begrüßt. tt

Der Kunststaat funktioniert Gemessen an der grotesken Grundidee, an den Zufallsbedingungen der Entstehung und der katastrophalen Ausgangssituation Pakistans ist der Staat ein Erfolg. Einfach, weil er trotz seiner Krisen und oft bescheidenen Leistungsbilanz immer noch existiert. Das Ganze funktioniert allerdings nur solange der Elitenkompromiss hält. An höchster Stelle sind die entscheidenden ethnischregionalen, wirtschaftlichen, bürokratischen und militärischen Eliten eng vernetzt. Durch juristisches Spezialwissen, Fachpersonal und durch Standesdünkel sind sie außerdem fest miteinander verbunden. Seit Ayub lautet die Machtkonfiguration: Das Militär ist die unsichtbare Hand Gottes, die Zivilbürokratie setzt den Rahmen, die großen Wirtschaftshäuser gehen hemmungslos ihren Ge­schäften nach, Landbesitzer*innen wachen über Heerscharen von Leibeigenen und Sektenanhänger*innen; keiner zahlt Steuern und jeder Zweit- oder Drittgeborene der großen Familien wird ins Parlament entsandt. Sie alle wissen, dass man sich gegenüber Indien alles, gegenüber der EU fast alles, gegenüber Washington, mit Rückendeckung Chinas, sehr viel und dem Militär und ISI gegenüber nichts erlauben darf. Arbeitet die Zeit für oder gegen dieses Arrangement? Schützen und neutralisieren Rückständigkeit und Traditionalismus gegenüber den kommenden Schocks und Krisen? Oder sorgen Fundamen­ talismus und islamistische Netzwerke einerseits, neue soziale Aspira­ tio­nen und demokratische Ambitionen andererseits (beide dank Internet), inzwischen für neue, allgemeine und landesweite Konfrontationen? Können diese wie bisher im Rahmen der alten ElitenKooperation weiter aufgeschoben, kleingemahlen oder unterdrückt werden? Die vorläufige Antwort mit Imran Khan war populistisch: ein Cricket-Kapitän. tt

Jakob Rösel ist ehemaliger Lehrstuhlinhaber an der Universität Rostock, Südasienexperte und unter anderem Autor des Buches »Pakistan: Kunststaat, Militärstaat, Krisenstaat« im Lit Verlag, 2011. tt

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iz3w-Reihe über Restitution Die Auseinandersetzung um die Restitution von geraubten Gütern aus ehemaligen Kolonien erfährt derzeit einen Aufschwung. Auch in den Ländern der alten Kolonialmächte setzt sich eine späte Einsicht durch: In der Kolonialzeit fand unrechtmäßiger Raub statt. Die geraubten Güter müssen zurückgegeben werden. Am weitesten fortgeschritten ist die Debatte in Frankreich, wo es um die Restitution von Kulturgütern aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien geht. Dies zeigte sich etwa 2017, als Präsident Emmanuel Macron in Algier die Kolonisation als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« bezeichnete. Im folgenden Jahr ließ die französische Regierung den »Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter« erstellen. Interessant ist dieser in dreierlei Hinsicht: Erstens beschreiben Felwine Sarr und Bénédicte Savoy hervorragend die inhaltliche Dimension und den materiellen Umfang des Kulturraubes. Zweitens ist der Bericht als Anleitung für staatliches Handeln gedacht. Und drittens macht er weitreichende Vorschläge für die konkrete Umsetzung dieses Unterfangens, zum Beispiel hinsichtlich neuer Museen oder der Museumspädagogik. Es tut sich also tatsächlich etwas. Das ist ein Erfolg langjähriger Kämpfe postkolonialer Staaten und Aktivist*innen für eine postkoloniale Gerechtigkeit. Doch bereits bei der Begrifflichkeit kommen im iz3w Zweifel auf: Restitution heißt Wiederherstellung oder Wiedergutmachung. Die ist angesichts der vielen Toten und der verheerenden kolonialen Zerstörungen, auch im Bereich der Kultur, gar nicht vorstellbar. Zudem besteht die Gefahr, dass die Restitution von Kulturgütern ein Trostpflaster bleibt tt

und die Debatte um Entschädigungen umschifft wird. Zudem geht es nicht nur um Kulturgüter: Noch immer lagern unzählige geraubte Gebeine von afrikanischen Menschen in europäischen Depots. Oder anders gewendet: Die Debatte um Restitution erfasst nicht die wesentlich größere Reichweite des Kolonialismus, in dessen Verlauf ganze Populationen versklavt oder ein asymmetrisches Weltwirtschaftssystem installiert wurden. Kurz: Die Restitutionsdebatte ist erfreulich, aber die Rückgabe einiger Kulturgüter taugt nichts für tolle Versöhnungsfeiern. Wie weit reicht also die Restitution? Diese Frage beschäftigt die iz3w immer wieder. Wir verweisen auf unser Themenheft 331 über die Restitution geraubter Gebeine. Auch Joachim Zeller schrieb in der iz3w 366 über das Berliner Humboldt Forum und seine Raubkunst. Reinhart Kößler kritisierte in der iz3w 386 die Verhandlungen zwischen der namibischen und der deutschen Regierung über die Konsequenzen des Genozids 1904 bis 1908 an Ovaherero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika. Auch weitere Artikel zum Thema Restitution werden wir auf unserer Webseite zu einem Dossier zusammenstellen. In der gedruckten iz3w führen wir die Restitutionsdebatte mit einer Artikelreihe fort. Der folgende Artikel von Victor Maria Escalona macht sich auf eine besondere Reise. Er zeigt, wie wichtig die Restitution von Gebeinen angesichts der historischen Verwundungen ist. Zugleich wird deutlich, dass die Rückgaben eine begrenzte Reichweite haben. Eine Wiedergut­ machung ist hier unmöglich. red

Mangi Meli – Rufe aus dem Depot Ein tansanischer Enkel sucht die Gebeine seines Großvaters Bei der Rückerstattung geraubter Kolonialgüter nehmen die Schädel und Knochen ehemals kolonisierter Menschen eine besondere Rolle ein. In deutschen Depots suchen die Nachfah­ ren nach den Gebeinen ihrer Ahnen. Hinter jedem von Tausen­ den verschleppter Schädel steht eine Biografie. Eine G ­ eschichte über Restitutionen an die Kilimanjaro-Region im heutigen Tansania.

40 von Victor Maria Escalona Im Namen der Wissenschaft wurden besonders in den knapp vierzig Jahren deutscher kolonialer Expansion (1880er-Jahre bis 1919) tausende Schädel, Knochen, konservierte Köpfe, Haarproben und andere menschliche Überreste aus den besetzten Gebieten in Asien und Afrika nach Deutschland verschickt. Dort wurden sie in großen anthropologischen und anatomischen Sammlungen aufgenommen und katalogisiert (iz3w 331). Die damaligen Anfragen der Forschenden mit der Bitte um die Sammlung menschlicher Überreste folgten in der Regel dem Wortlaut, »ob es nicht möglich wäre, Eingeborene auf gütlichem Wege zu veranlassen, uns einige ­Skelette zu übergeben.«1 So formulierte es ein Urgestein der Völkerkunde, tt

der Anthropologe Felix von Luschan, in einem Brief an Moritz Merker, den Hauptmann der Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika. In der Praxis waren die ‚gütlichen‘ Übergaben oder Handelsabmachungen jedoch seltene Ausnahmen. Häufiger wurden die Überreste heimlich nachts ausgegraben, unter Drohungen erworben oder als Kriegstrophäen gesammelt. Allein in zwei großen Berliner Sammlungen lagern bis heute über 8.500 Schädel und menschliche Überreste aus aller Welt. In den letzten zehn Jahren wurden die Restitutionsforderungen betroffener Gemeinschaften lauter und sichtbarer. Viele dieser Forderungen bestehen schon seit Jahrzehnten, aber sie bekommen erst jetzt öffentliche Aufmerksamkeit. Dank interdisziplinärer Provenienzforschung konnten viele dieser menschlichen Überreste mittlerweile Gruppen und – in seltenen Fällen – Individuen zugeordnet werden. Zuletzt reisten unter anderem Delegationen aus dem heutigen Südafrika, Namibia, Hawaii und Neuseeland nach Deutschland, um menschliche Gebeine entgegenzunehmen, in ritueller Form zu rehumanisieren und in ihre jeweilige Heimat zurückzubringen. Auf der Suche nach dem Haupt seines Großvaters Mangi Meli reiste 2018 auch Mzee Isaria Meli nach Berlin, um eine DNAProbe abzugeben, die mit der DNA von sechs Schädeln abgeglichen

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Restitution

Felix von Luschan (1854 – 1924), Leiter der Abteilung Afrika und Oceanien im Königlichen Museum für Völkerkunde

wurde, die nachweislich aus Old Moshi im heutigen Tansania stammen. Es konnte jedoch keine Übereinstimmung festgestellt werden. Wo ist das Haupt Mangi Melis? Und was wird nun aus den sechs Schädeln aus Old Moshi? Die Suche nach Antworten führt zunächst in eine vorkoloniale Zeit, als Old Moshi noch Moshi hieß.

startete, den Mangi Meli jedoch entschieden zurückschlug. Bei dem Angriff starben ein Deutscher, etwa zwanzig Askari-Soldaten und Freiherr von Bülow selbst. Für die Vergeltung sammelten sich die deutschen Truppen ein ganzes Jahr, bevor Oberst von Schele mit einem groß angelegten Feldzug in Moshi einmarschierte, Mangi Melis Truppen überwältigte und ihn zur Unter­ zeichnung eines Schutzvertrages zwang. Für die kommenden sieben Jahre wurde Mangi Meli auf diese Moshi am Kilimanjaro 1880–1900 Weise zu einer Allianz für militärische tt Der Chief der Chagga, eines Bantu sprechenden Volkes am KiStrafexpeditionen gegen benachbarte Mangis gezwungen. limanjaro-Massiv, Mangi Rindi Mandara aus Moshi hieß die DeutschIm angrenzenden Marangu nutzte gleichzeitig Mangi Mareale seine Ostafrikanische Gesellschaft zuerst willkommen. Die Gesellschaft diplomatische Nähe zu den Deutschen, um sie von einem angeblich baute dort 1887 eine erste Station, der Mangi (König) erhoffte sich geplanten Komplott zu überzeugen, den sein langjähriger Erzfeind von dieser Kooperation einen militärischen Vorteil gegenüber seinen Mangi Meli mit anderen Mangis plane, um die Deutschen aus der lokalen Rivalen. Seine Hoffnung auf eine deutsche Kanone im Tausch Region zu vertreiben. Aufgrund dieser Anschuldigung wurde Mangi für Elfenbein und wertvolle Mineralien wurde jedoch enttäuscht, Meli im Anschluss an einen gemeinsamen Feldzug mit den Deutschen im Februar 1900 überraschend des Hochverrats angeklagt. Gemeinals die 1889 von ihm zu Kaiser Wilhelm gesendete Delegation lediglich mit einer Spieluhr und anderen kleineren deutschen Kultur­ sam mit 18 weiteren Mangis und Akidas (hohen Amtsträgern) ­wurde objekten zurückkehrte. er in einem Blitzurteil zum Tode am Strick verurteilt. Um den antiNach seinem Tod 1891 wurde der Körper des toten Mangi Rindi kolonialen Widerstand endgültig zu brechen, wurden am 2. März 1900 sodann die 19 Verurteilten im Zentrum von Moshi gehenkt, Mandara entsprechend den rituell geprägten Glaubenssätzen der wobei die gesamte Bevölkerung samt Frauen und Kindern aufgeforChagga in die Haut eines geschlachteten Bullen gewickelt und für dert wurde, der Hinrichtung ein ganzes Jahr in einem hölzernen Bienenstock aufbewahrt. Anschließend wurden die spirituell bedeubeizuwohnen. Der letzte war Der Horror der Enthauptung tenden menschlichen Überreste des verstorbenen Mangi Meli selbst, der an brach tatsächlich jeden Widerstand Anführers von den Ältesten entnommen und in einen einem Halsstrick sieben StunTontopf gelegt, der dann an einem heiligen Ort platden lang überlebte, bevor er ziert wurde. Es wurde genau darauf geachtet, dass alle Knochen erschossen und vom Seil abgeschnitten wurde. Laut mündlicher des Verstorbenen beisammenblieben. Fehlende Knochen wurden Überlieferung wurde ihm anschließend vor den Augen des ganzen mit Stöcken und Steinen ersetzt, um die Vollständigkeit der ÜberDorfes – als Zeichen der endgültigen Unterwerfung – der Kopf abreste, und somit den spirituellen Schutz für die gesamte Gemeinde, geschlagen. zu gewährleisten. Diese Praxis folgt einer Logik, welche sich für die Deutschen Als Nachfolger setzte sich sein Sohn Meli durch, der den Deutbereits in anderen Teilen der Kolonien bewährt hatte: In dem Wissen schen deutlich kritischer gegenüberstand. Die Spannung steigerte um die spirituelle Bedeutung des Schädels in den rituell geprägten sich bis zu dem Punkt, dass im Juni 1892 ein deutsches Regiment Glaubenssätzen vieler indigener Gemeinschaften war die Enthaupunter Freiherr von Bülow einen Überraschungsangriff auf Moshi tung gleichbedeutend mit Machtlosigkeit und daher ein sehr effekiz3w • Mai / Juni 2022 q 390

Fotos: SLUB / Deutsche Fotothek / Hans Meyer / Public Domain Mark 1.0

Der Chief der Chagga, Mangi Meli, Ende des 19. Jahrhunderts am Kilimanjaro

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Restitution tives Mittel zum Brechen des Widerstands. Mangi Meli hinterließ ein traumatisiertes Dorf. Der Horror der Enthauptung und der Diebstahl von Mangi Melis Kopf brach tatsächlich jeden Widerstand in der Region. Für mehr als ein Jahr gaben die Menschen jegliche Tätigkeit auf. Aus Angst vor den Weißen gaben sie ihre Kinder nun nicht mehr in die Schule. Viele verließen Moshi. Dieses kollektive Trauma nutzte letztlich der christlichen Kirche in Person des evangelisch-lutherischen Missionars Bruno Gutmanns, der den Menschen einen Neuanfang im christlichen Glauben versprach.

Im Depot, Berlin 2018–2022

Seit den letzten anthropologischen Untersuchungen an den verschleppten Gebeinen in Berlin sind nun schon fast hundert Jahre vergangen. Dennoch besteht allein die Luschan-Sammlung, die mittlerweile von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) verwaltet wird, noch aus mehr als 5500 Schädeln. Die SPK ist ausdrücklich dazu bereit, menschliche Überreste zu restituieren, sofern die Provenienz eindeutig geklärt werden kann und Kilimanjaro-Region heute eine entsprechende Restitutions­ forderung gestellt wird. Dank intert Ab August 2022 wird ein deutsch-tan­ disziplinärer Provenienzforschung, sa­nisches Team aus Forschenden und Akti­ bestehend aus historischer Quellenvist*­innen für sechs Wochen durch die analyse und biologisch-forensischen Regionen am Kilimanjaro und Mount Meru Untersuchungen, konnten im Bereisen, um den Menschen mit einer Wanstand bereits 12 Schädel identifiziert derausstellung einen neuen Zugang zu werden, die einst aus der Kilimanjaroihrer eigenen Geschichte zu ermöglichen. Region nach Deutschland geschickt Als Teil dieser Ausstellung werden Fotograwurden. Davon kamen sechs Schädel fien gestohlener kultureller Objekte gezeigt nachweislich aus Old Moshi. und es wird der Dialog mit der Bevölkerung Mit finanzieller Unterstützung der gesucht. Umgekehrt werden mit dieser Rosa-Luxemburg-Stiftung reiste Mzee Wanderausstellung die Perspektiven dieser Isaria Meli (89), der Enkel Mangi Menschen am Kilimanjaro ab 2023 dann Melis, im Oktober 2018 nach Berlin, in Deutschland präsentiert. Es besteht die Das Mangi Meli Memorial in Old Moshi um bei der SPK eine Probe seiner Hoffnung, dass auf diese Weise weitere von Foto: V. M. Escalona DNA abzugeben. Bei sich trug er Schädeldiebstahl ihrer Ahnen betroffene auch zwei weitere DNA-Proben von Personen und Gruppen ausfindig gemacht werden können, welche ihrerseits dazu bereit sind, DNA-Proben Menschen aus der Kilimanjaro-Region, deren Ahnen ebenfalls am zur Feststellung von Identitäten abzugeben. 2. März 1900 erhängt und deren menschliche Überreste verschifft Die Rückkehr der Ahnen in ihre Heimat am Kilimanjaro rückt worden waren. Der Abgleich mit der DNA der sechs Schädel aus Old Moshi führte jedoch zu keiner Übereinstimmung. Für die nunmehr näher. Die Suche nach dem Haupt Mangi Melis ist nicht Rückkehr der 12 Schädel bedarf es nun einer offiziellen Restitu­ abgeschlossen. Aber sie hat einen größeren Prozess mit Restitu­ tionsforderung von der tansanischen Regierung. In diesem Prozess tionsforderungen aus dem heutigen Tansania ins Rollen gebracht. gibt es seit Januar 2022 neue Bewegung, da die tansanische Präsi­ Vielleicht taucht das Haupt Mangi Melis niemals mehr auf. Aber den­tin Samia Suluhu Hassan nach Moshi reiste, um Mzee Isaria seine Rufe aus den Tiefen der Depots haben zu einer intensiveren Meli und Gerald Mandara, dem offiziellen Vorsitzenden des MeliAuseinandersetzung mit diesem dunklen Kapitel der deutschtansanischen Geschichte geführt. Mandara Clans, ihre politische Unterstützung bei der Restitutionsforderung für die vermissten Schädel zuzusagen. tt

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Geister (Roho) dieser Menschen adressiert und besänftigt werden, bevor die Bauarbeiten beginnen konnten. Es wurde eine Ziege geopfert und ein kleines Stück jedes einzelnen Organs des Tieres in einer Schale dargeboten. In dutzenden Interviews bestätigte sich, dass die Abwesenheit des Hauptes Mangi Melis für viele Chagga spirituell eine große Unruhe bedeutet, die auch für Unglück und schlechte Ernten verantwortlich gemacht wird. Seit über sechzig Jahren ist Mzee Isaria Meli auf der Suche nach dem Haupt seines Großvaters. Mit der Unterstützung verschiedener tansanischer und deutscher Aktivist*innen und Forschender ist er schon weit gekommen. Sollte das Haupt Mangi Melis in den kommenden Jahren noch ausfindig gemacht werden, dann brächte seine Rückkehr nach Old Moshi einen tiefen spirituellen Frieden. Zur Besänftigung seines Geistes würden ihm mindestens drei große Kühe geopfert werden. Nach der Durchführung aller Rituale würde sein Haupt anschließend in einem Museum in Old Moshi ausgestellt werden, um für immer an den Widerstand Mangi Melis gegen die deutsche Invasion zu erinnern.

Anmerkung

Old Moshi 2019

1 Brief: Felix von Luschan an Moritz Merker. Ethnologisches Archiv, 1901 – 03

Allen politischen und religiösen Veränderungen der vergangenen 150 Jahre zum Trotz betreibt der Großteil der ­Chagga-Community in der Kilimanjaro-Region bis heute eine regelmäßige rituelle Praxis zur Besänftigung ihrer Ahnen. So mussten vor dem Bau des ­Mangi Meli Memorials im Februar 2019 unter der Akazie in Old Moshi, an der die 19 Chiefs und Akidas hingerichtet wurden, zunächst die tt

Victor Maria Escalona ist Afrikahistoriker, der afrikanische Perspektiven auf die deutsche Kolonialgeschichte beleuchtet. D ­ ieser Artikel basiert auf einem qualitativen Interview-Forschungsprojekt aus dem Jahr 2019. tt

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...Rezensionen Geister sind das kleinste Problem In ihrem Roman Dschinns erzählt Fatma Aydemir die Geschichte der Familie Yilmaz, deren Mitglieder Hüseyin, Ümüt, Sevda, Peri, Hakan und Emine um die Jahrtausendwende von diversen Geistern (Dschinns) der Vergangenheit heimgesucht werden. Jedes der sechs Kapitel ist dabei aus Sicht eines anderen Familienmitglieds geschrieben. Das Buch erinnert damit in seinem Aufbau an die multiperspektivischen Erzählweisen in Shida Bazyars Roman »Nachts ist es leise in Teheran« (2016) oder in Bernardine Evaristos »Mädchen, Frau, etc.« (2019). Aydemir gelingt es in dieser multiperspektiven Einteilung glaubwürdige Charaktere mit Gefühlen und Widersprüchen zu entwerfen. Wie bereits in ihrem ersten Roman »Ellenbogen« spielt ein großer Teil von »Dschinns« in Istanbul. Im Zentrum steht dieses Mal aber nicht die Stadt, sondern eine frisch möblierte, noch unbewohnte Wohnung, deren Sterilität man beim Lesen beinahe riechen kann. Hier wünschst sich Hüseyin, der pensionierte Familienvater, die Erlebnisse als Migrant in Deutschland und seine Traumata aus der Zeit im türkischen Militär in Kurdistan hinter sich zu lassen. Zur harmonischen Familienvereinigung in Istanbul kommt es jedoch nicht. Hüseyin stirbt nach der Fertigstellung des Apartments an einem Herzinfarkt und die Familie eilt zur Beerdigung an den Bosporus. tt

Aydemirs Roman kommentiert aus der Perspektive der Protago­ nist*innen nahezu beiläufig zahlreiche gegenwartspolitische Themen, ohne dabei oberflächlich oder plakativ zu sein: Rassistische Gewalt und Polizeiübergriffe in Deutschland, Homo- und Transphobie, Identitätskonflikte, psychische Krankheit sowie die Erinnerung an den Holocaust aus postmigrantischer Perspektive und den Krieg gegen die Kurd*innen in der Türkei. Themen, die relevanter sind als die Befürchtung, versehentlich einen Dschinn zu rufen: »Was soll diese ständige Angst vor Dschinns eigentlich? Warum warnt man die Kinder immer noch vor irgendwelchen mythologischen Wesen, und nicht vor richtigen Gefahren? Faschisten zum Beispiel oder dem Kapitalismus?« Überdies enthält der Roman zahlreiche geistreiche und kreative popkulturelle Referenzen und Seitenhiebe, zum Beispiel gegen Rapper aus Stuttgart. Zahlreiche solcher Referenzen machen nicht nur den Red Bull-getränkten Roadtrip des ältesten Sohns Hakan von Deutschland nach Istanbul, sondern den kompletten Roman zu einer lesenswerten, unterhaltsamen aber auch nachdenklich stimmenden Zeitreise zurück in die 1990er-Jahre. Patrick Helber Fatma Aydemir: Dschinns. Hanser Verlag, München 2022. 368 Seiten, 24 Euro. tt

Der Fluch der Ressourcen Rund fünfzig Jahre nach Erscheinen des Standardwerks der Dependenztheorie »Die offenen Adern Lateinamerikas« von Eduardo Galeano legt der Journalist Andy Robinson eine Bestandsaufnahme der Ausbeutung natürlicher Ressourcen des Kontinents vor. Während Galeanos Manifest eine 500-jährige Geschichte (post) kolonialer Ausplünderung nachzeichnet, liegt Robinsons Fokus auf aktuellen Geschehnissen. In Gold, Öl und Avocados. Die neuen offenen Adern Lateinamerikas begibt er sich auf eine Reise durch den Kontinent und stellt in 16 kurzen Kapiteln jeweils eine natürliche Ressource anhand von Beispielen vor. Darin werden neben den »alten Adern« wie Silber, Erdöl oder Bananen auch neuere Rohstoffmärkte wie der Abbau beziehungsweise Anbau von Lithium oder von Quinoa in Bolivien abgehandelt. Durch die zahlreichen Stationen bleibt das Buch streckenweise zwar etwas oberflächlich, aber die Leser*innen bekommen einen guten Überblick in die Entwicklungen des Rohstoffsektors. Diskutiert wird dabei etwa das wirtschaftliche Phänomen »Holländische Krankheit«. Es gibt Aufschluss darüber, warum ein boomender Rohstoffexport die industrielle Entwicklung erschwert und warum sich viele Länder Lateinamerikas trotz des unglaublichen Ressourcenreichtums nach wie vor in einer postkolonialen Abhängigkeit befinden. Auch die seit den 2000er-Jahren linken Regierungen wie in Venezuela, Brasilien oder Bolivien konnten sich von tt

diesem Modell nicht lösen und finanzierten ihre Umverteilungsprogramme durch einen »desarrollistischen Extraktivismus« (von span. desarrollo = Entwicklung). Robinson erklärt diese Zusammenhänge gut zugänglich, in seinem Reisebericht mischt er Erzählungen über persönliche Begegnungen, Verweise auf das Werk Galeanos sowie weitere einschlägige Literatur. Gespickt wird dies mit Wortwitz und trockenem britischem Humor, etwa wenn Robinson Aussagen von Großunternehmen oder Politiker*innen kommentiert, wie eine Rede des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro zum »Fetisch der brasilianischen Ultrarechten«, dem Schwermetall Niob: »‘Brasilien könnte eines der wohlhabendsten Länder der Welt sein. Sie alle kennen Silicon Valley; ich sehe in der Zukunft von Brasilien ein Niob Valley`, verkündete er, ohne dass ihn jemand aus dem Publikum darauf hingewiesen hätte, dass es in Silicon Valley nicht mehr Silizium gibt als anderswo auf der Welt«. Auch wenn ein abschließendes vergleichendes Kapitel hilfreich gewesen wäre, liefert das Werk eine ausgezeichnete und gut lesbare Übersicht zu den gar nicht mal so neuen offenen Adern Lateinamerikas. Felix Lang Andy Robinson: Gold, Öl und Avocados. Die neuen offenen Adern Lateinamerikas. Unrast Verlag, Münster 2021. 320 Seiten, 19,80 Euro. tt

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Rezensionen ... Who cares? Weltweit arbeiten unzählige Frauen aus ärmeren Ländern dauer­ haft oder für längere Zeit im wirtschaftsstarken Ausland. Zahlreiche soziale und individuelle Probleme gehen mit dieser Form der Arbeits­migration einher. Care-Arbeit und Familie transnational untersucht am Beispiel von Arbeitsmigrantinnen aus der Ukraine, wie sie das grenzüberschreitende Familienleben organisieren, welche Rahmenbedingungen dafür herrschen und welche Lebenskonzepte unter transnationalen Gegebenheiten entwickelt werden. Innerhalb dieser Arbeitsmigration liegt Eugenie Wirz‘ Schwerpunkt auf einem allzu oft übersehenen Thema. Care-Arbeit wurde lange als selbstverständlich und unbezahlt angesehen. Im klassischen männlichen Alleinverdiener-Modell galt die Frau als kostenlose Haushaltskraft, deren Arbeit nicht genug gewürdigt wurde. Vor allem mit Migrant*innen aus dem Ausland, die bezahlte Care-Arbeit tätigen, sind viele Stereotype verbunden. Die Probleme der Arbeiterinnen werden nicht gesehen, weil das Thema kaum gesellschaftliche Beachtung findet. Wirz analysiert dabei die Gründe für die Arbeitsmigration und widerlegt Vorurteile. In einem der ausgewählten Fälle ist etwa der Ehemann verstorben und das eigene Gehalt reicht nicht aus, um die Kinder finantt

ziell unterstützen zu können. Die Motivation der portraitierten Frauen ist es, durch die Arbeitsmigration ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Zugleich wird klar, dass die Arbeiterinnen nicht dauerhaft emigrieren wollen, sondern die Situation nur als temporär ansehen. Weiterhin versuchen sie trotz der räumlichen Distanz, so gut wie möglich ihrer Mutterrolle nachzugehen. Dies definiert Wirz als »transnationale Mutterschaft«. Die Arbeiterinnen sind entweder Teil eines weiblichen Care-Netzwerkes oder leiten dieses sogar. In der Ukraine werden emigrierenden Mütter oft dafür kritisiert, ihre Kinder zurückzulassen. Gerade angesichts dieser moralisierenden ‚Sozialwaisen‘Debatte sind Wirz‘ Ausführungen wertvoll. Sie verweist auf die prekären Lebensverhältnisse, die hinter Migrationsentscheidungen stehen. Ihre Darlegung zeichnet sich dadurch aus, dass den Betroffenen mit qualitativen Interviews eine eigene Stimme gegeben wird. Zusammenfassend bietet die Arbeit von Wirz einen reflektierten Einblick in Aspekte der Care-Arbeit. Laura Bulczak Eugenie Wirz: Care-Arbeit und Familie transnational. Rekonstruk­ tionen sozialer Netzwerke ukrainischer Arbeitsmigrantinnen. Springer VS, Wiesbaden 2021. 299 Seiten, 54,99 Euro.

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Feministisch gegen Lukaschenko »Ich habe große Angst, aber ich kann es einfach nicht mehr mit ansehen, wie gegen Menschen mit Kriegsgerät vorgegangen wird. Ich will Frieden und unverfälschte Wahlergebnisse«, so die Worte einer Demonstrantin in Minsk, nur wenige Tage nach dem Wahlbetrug von 2020. Die Bilder der belarussischen Bürger*innenbewegung gingen um die Welt. Olga Shparaga legt in ihrem Buch Die Revolution hat ein weibliches Gesicht einen besonderen Fokus auf die Rolle der Frauen und Aktivist*innen der LGBTQ*-Community in dieser Bewegung. Dabei wird deutlich, dass die »Revolution-in-progress« (Shparaga) genau von den Menschen getragen wurde, die in der weißrussischen Gesellschaft ganz besonders marginalisiert werden. Die Autorin zeigt, wie es den Akteur*innen gelang, ihre gesellschaftliche Unsichtbarkeit zu überwinden und als »weibliches kollektives Subjekt« Teil einer Protestbewegung zu werden, in der sich Menschen unterschiedlichster Hintergründe solidarisch begegneten. Dabei ergänzen sich soziologische Analysen, Interviews mit Zeug*innen und eine oft sehr bildhafte Beschreibung der Proteste. Shparaga war Mitglied der feministischen G ­ ruppe des Koordinierungsrats, und damit selbst aktiver Teil der Bewegung. Für ihr politisches Engagement saß sie in Minsk im Gefängnis. Aus eigener Erfahrung kann sie daher nicht nur die Entstehungsgett

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schichte der Proteste aufzeigen, sondern auch die Solidarität und Entschlossenheit, die diese trugen, vermitteln. Dabei wird klar: Den Protestierenden ging es um weit mehr als den Rücktritt des amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko. Vielmehr zeigt sich in der gesamten Protestbewegung ein tiefer Wille zur gesellschaftlichen Transformation. Dieser drückt sich auch in der dezentralen Organisationsform und einer breiten Partizipation von Menschen unterschiedlicher sozialer Hintergründe aus, die sich gemeinsam gegen soziale Ungerechtigkeit, Wahlbetrug sowie gegen die Misogynie und Fremdenfeindlichkeit des Präsidenten Lukaschenko einsetzen. Auf jede weitere Repression durch das Regime reagierte die Bewegung trotz der omnipräsenten Bedrohung mit neuen Strategien des friedlichen Widerstands. Damit ermöglicht das Buch nicht nur einen Einblick in die Proteste gegen das gewalttätige Regime, sondern veranschaulicht auf inspirierende Weise die Kraft der Solidarität gegen autoritäre Grausamkeit und patriarchale Gewalt weltweit. Anna Wessely Olga Shparaga: Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 234 Seiten, 13 Euro.

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Europäischer Selbstverrat Mit klarem Blick führt der Journalist, Aktivist und Europaabgeordnete der Grünen Erik Marquardt in Europa schafft sich ab die Leser*innen durch die vergangenen Jahre europäischer Asylpolitik. Es gelingt ihm, bewegende Einzel­ schicksale und empörende Vorfälle mit der strukturellen und politischen Ebene zu verbinden. Seine persönlichen Erfahrungen aus der Zeit als Journalist an den europäischen Außengrenzen, in Afghanistan oder entlang der Balkanroute ergänzen sich dabei in spannender Weise mit seinen Einblicken in die politische Arbeit in Brüssel. Dieser doppelte Blick macht die Stärke des Buches aus. Daneben beschreibt Marquardt, wie sich die Solidaritätsbewegung mit Geflüchteten in öffentlichen Debatten immer wieder in einer Verteidigungsposition wiederfindet. So etwa, wenn es um den CSU-Vorschlag einer »Obergrenze« für die Aufnahme von Geflüchteten ging. In rechter Rhetorik wurde an dieser Stelle die Wiederherstellung von ‚Recht und Ordnung‘ thematisiert. Dass dieser Vorschlag der ‚Obergrenze‘ einen massiven Bruch des Grundrechts auf Asyl bedeutet, wird dabei vernachlässigt. Der auf Thilo Sarrazin anspielende Titel ist vor diesem Hintergrund als fast schon ironische Verdrehung des öffentlichen Diskurses zu verstehen, der sich in den letzten Jahren nach rechts verschoben hat. tt

In den letzten Kapiteln versucht Marquardt, trotz des erdrückenden Gesamtbilds, einen positiven Ausblick zu entwerfen. Er macht Vorschläge zur Gestaltung der europäischen Migrationspolitik und zeigt, was Einzelne tun können, um die Situation zu verbessern. Viel Neues ergibt sich dabei nicht: Der Vorschlag eines europäischen Verteilmechanismus und auch die Antworten auf die Frage »Was kann ich selbst tun?« zeigen kaum neue Perspektiven auf. Dadurch wird allerdings das Grundproblem der europäischen Migrationspolitik deutlich: Die Situation ist bekannt, und ebenso die Lösungen – es mangelt an der Umsetzung. Dieses Buch versucht, ein Anstoß in die richtige Richtung zu sein. Wer bereits tief im Thema steckt, wird wenig neue Informationen in dem Buch finden. Die Stärke liegt jedoch in der Zusammenstellung und Verknüpfung der Ereignisse und Schauplätze. In seiner Klarheit und Verständlichkeit hat Marquardts Buch das Potenzial, auch Menschen zu erreichen und zu bewegen, die sich mit Flucht nach Europa bisher weniger beschäftigt haben. Sarah Spasiano Erik Marquardt: Europa schafft sich ab. Wie die Werte der EU verraten werden und was wir dagegen tun können. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2021. 240 Seiten, 14 Euro. tt

In Zivilgesellschaft aufgelöst »Die Antifa« gibt es nicht. So zeigt auch der Zeithistoriker Richard Rohrmoser in seinem Buch Antifa. Portrait einer linksradikalen Bewegung, dass die Antifa aus zahllosen Gruppen besteht, die mit verschiedenen Bündnisparter*innen arbeiten und unterschiedlich an Politik herangehen. Zwar ist Antifaschismus spätestens seit den 1990er-Jahren ein verbindendes Aktionsfeld der radikalen Linken in Deutschland, doch hat die Antifa eine längere Geschichte mit vielen Umbrüchen. So beginnt das Buch mit den Vorläuferorganisationen gegen den entstehenden Faschismus in den 1920er-Jahren und zeigt, wie die Antifaschistische Aktion vor der Reichstagswahl 1932 entstand. Nach einem kurzen Überblick über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus geht Rohrmoser auf die 1947 gegründete VVN-BdA und die K-Gruppen ein. Waren diese Organisationen eher hierarchisch strukturiert, entwickelten sich ab den 1980er-Jahren die autonomen Antifa-Gruppen. Auch gegenwärtige Antifa-Bündnisse werden in dem Buch beleuchtet: vor allem das kommunistische Bündnis »...ums Ganze!« sowie die »Interventionistische Linke.« Rohrmoser macht deutlich, wie unterschiedlich antifaschistische Politikformen sein können, die von Recherche- und Bildungsarbeit über Aktionen des zivilen Ungehorsams bis hin zu Sabotageaktionen und zu direkten militanten Konfrontationen mit politischen Gegner*innen reichen können. tt

Falsch ist daran nichts. Jedoch ist auch wenig Neues dabei, insbesondere wenn man bereits existierende Einführungsliteratur kennt – insbesondere das exzellente Buch von Bernd Langer: »Antifaschistische Aktion: Geschichte einer linksradikalen Bewegung«. Während Langer, der selbst in antifaschistischen Zusammenhängen aktiv war, zahlreiche Quellen aus der Bewegung wie Zeitschriften oder Flugblätter erwähnt, hätte eine solche verstärkte Innenperspektive auch Rohrmosers Buch gutgetan. So bleibt es in erster Linie eine Forschung über einen Gegenstand. Durchaus sachlich beschäftigt sich Rohrmoser mit dem »Zwiespalt zwischen Legalität und Legitimität« und distanziert sich nicht explizit von militanten Aktionsformen. Jedoch möchte er nicht, dass »einzelne zur Gewalt bereite Gruppen ohne Weiteres das Deutungsmonopol« über die Bewegung haben sollen. Dafür löst Rohrmoser das Label »Antifa« jedoch in eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung gegen rechts auf. Es ist nichts gegen vielfältiges Engagement gegen neue oder alte Nazis einzuwenden – doch auch wenn es viel an der antifaschistischen Bewegung zu kritisieren gibt, ihre Militanz ist es nicht. Christopher Wimmer Richard Rohrmoser: Antifa. Portrait einer linksradikalen Bewegung. Von den 1920er Jahren bis heute. C.H.Beck, München 2022. 208 Seiten, 16 Euro. tt

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Szene ... Vom 20. bis 26. April ist in Berlin das Arabische Filmfestival ALFILM zu sehen. Die über 44 Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme bieten einen Einblick in aktuelle po­ li­tische und gesellschaftliche Themen der arabischen Welt und ihrer Diaspora. Ein inhaltlicher Schwerpunkt liegt dieses Jahr auf der Krise und dem Widerstand im ­Libanon. Das Programm wird von Filmgesprächen und Panels mit eingeladenen Regisseur*innen, Schauspieler*innen und Produzent*innen begleitet. tt alfilm.berlin tt

Inspiriert durch das Buch »Afropäisch« von Johny Pitts zur Geschichte der Schwarzen Europäer*innen und der Beteiligung des Schwarzseins an der europäischen Iden­ tität thematisiert die Ausstellung Radi­cal Encounters, Perspektiven des Afroeuropäischen die Fragen eines gemeinsamen afroeuropäischen Wegs. Die Ausstellung findet von 6. Mai bis zum 3. Juli in der Galerie für Gegenwartskunst im E-WERK Freiburg statt und beinhaltet Filme, Fotos, Installationen sowie Aufführungen der Künstler*innen John Akomfrah, Mohamed Bourouissa, Johny Pitts und Jasmine Tutum. tt gegenwartskunst-freiburg.de tt

Das Bündnis Internationale Advocacy Netzwerke präsentiert im Dossier Menschenrechte 2022. Aktuelle Lage in 17 Ländern einen Überblick zur Menschenrechtssituation und zu möglichen politischen Handlungsoptionen auf der Basis von Länderberichten aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Ein besonderes Augenmerk gilt den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf Diskriminierungs- und Unterdrückungsverhältnisse sowie auf antidemokratische und autoritäre Tendenzen. tt Kostenloses PDF unter bit.ly/38tECQK

Foto: UK Dokumentarfotografie CC BY-ND 2.0

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südlink

DAS NORD-SÜD-MAGAZIN VON INKOTA

Klimagerechte Landwirtschaft Vorschau: iz3w 391

Krieg in der Ukraine Lange sprach man vom »Säbelrasseln«, nun sind zehn Millionen Menschen auf der Flucht, Russlands Armee bringt gezielt Menschen um, ukrainische Großstädte werden unbewohnbar gebombt. In der iz3w 391 schauen wir auf den Krieg, seine Vorgeschichte und seine Folgen. Neben Flucht und Widerstand in der Ukraine behandeln wir auch die Verhältnisse in Russland. Was Russland antreibt, interessiert uns ebenso wie die Stimmung in der russischen Bevölkerung – und ein möglicher Widerstand gegen das Putin-Regime. tt

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a Landwirtschaft als Klimaschädling a Agrarkonzerne und Greenwashing a Lebensmittel, die das Klima schonen a Von indigenen Konzepten lernen a Jeder Hof zählt Es schreiben unter anderem Lena Bassermann, Lena Luig, Bakary Traoré, Richard Mahapatra, Philip Howard, Xenia Brand und Andrea Beste Außerdem: Markus Bickel über die Diskussion in Israel um den Amnesty-Bericht / Interview mit Joshua Kwesi Aikins über den Afrozensus / Afghanistan nach dem Abzug: Jasamin Ulfat über einen Krieg, der keiner sein wollte / Kaum aufgearbeitet: Ute Löhning über die Verbrechen in der Colonia Dignidad / Bestellung: versand@inkota.de www.suedlink.de Probeabo: 2 Ausgaben, 7 Euro

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Herausgeberin t Aktion Dritte Welt e.V. informationszentrum 3. welt, Kronenstraße 16a (Hinterhaus), D-79100 Freiburg i. Br. Telefon: 0761 / 740 03, Fax: 0761 / 70 98 66 E-Mail: info@iz3w.org Bürozeiten: Montag bis Freitag 10 bis 16 Uhr

www.iz3w.org

Redaktion

Impressum

Unter dem Motto »KlimaGerechtigkeit« tagt vom 4. bis 6. Mai in Halle (Saale), Leipzig und digital der bundesweite Kongress WeltWeitWissen für Globales Lernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung. Durch das Format verbindet der Kongress die Erprobung von und Diskussion zu hybriden Bildungsformaten und Methoden. Aktive des Globalen Lernens sollen mit denen der Umweltbildung vernetzt werden. Es wird davon ausgegangen, dass die Digitalisierung der Bildungsarbeit eine zunehmend wichtige Rolle spielt. tt weltweitwissen2022.de tt

t Martina Backes, Katrin Dietrich,

Annalena Eble, Robert Gather, Nikolas Grimm, Kathi King, Madeleine Lang, Svenja Lichtenberg, Rosaly Magg, Christin Meusel, Stephy-Mathew Moozhiyil, Winfried Rust, Larissa Schober, Clara Taxis, Anna Wessely

Copyright

t bei der Redaktion und den Autor*innen

Vertrieb für den Buchhandel

t Prolit Verlagsauslieferung GmbH,

Postfach 9, D-35463 Fernwald (Annerod), Fax: 0641/943 93-93, service@prolit.de

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Ausgabe 2-3/22 u.a.: Imke Heller: »Dann geben wir die Straße wieder zurück?« – Mit Organizing zum feminist. Streik . Sebastian Durben: »Einzig realistische Alternative: enteignen« – Perspektiven der Kämpfe um privatisiertes Uniklinikum . ver.diBetriebsgruppe Uniklinikum Düsseld.: »Ja zum Impfen – Nein zur Impfpflicht« – Positionspapier . Wolfgang Schaumberg: »Von nix kommt nix, nä?« – Möglichkeiten kritischer Betriebsratsarbeit . Roland Kohsiek: »Weitgehend oder durchgehend prekär?« – Arbeitsbedingungen in (beruflicher) Weiterbildung . Bernd Gehrke: »In Memoriam Memorial?« – Putin-Regime will Schandflecken der Sowjetunion unkenntlich machen

Gen-ethischer Informationsdienst Zeitschrift für Informationen & Kritik zu Fortpflanzungs- & Gentechnologie Nr. 260 Februar 2022 Einzelausgabe 8,50 h Der GID erscheint alle drei Monate.

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