Fenster zur Parallelwelt

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Fenster zur Parallelwelt Rei sebi l der & Fer nwe h ge s c h i c ht e n

FernWeh


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? Editorial 6

Zwischen den Welten

? Vor der Reise. Traumbilder im Fokus 18

Über Erwartungen

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Die grünen Mauern meiner Flüsse

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Zufallsprinzip

Alain de Botton Mary Kingsley

Katy Gardner

? Being there. Unterwegs in der Travel Bubble 48

Auf dem Dach der Welt

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Zunge zeigen in Kalkutta

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Universität des Lebens

Steffen Schülein Ilja Trojanow William Sutcliffe

? Exotik extrem – Dark tourism. Einzoomen & ausblenden

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Arme Leute gucken

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Liebe Touristen, liebe Biertrinker

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Bakassi Boys

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Are you experienced?

Christoph Wöhrle

Michael Obert William Sutcliffe

Christoph Hamann


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? How much? Begegnung neu belichtet 100

Where are you from ?

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Essaouira, endlich !

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The smiling coast

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Sherpa am Mount Everest

Ramona Lenz Doris Byer

Martina Backes Jon Krakauer

? entdecken – erobern – erholen. (Post-)koloniale Reisebilder 142

Herz der Finsternis

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Mensch Meyer

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Frisch verbuscht

Rosaly Magg

Christoph Hamann Martina Backes

? Migration & Tourismus. Performing the Border 168 171 184

Der Fluss dazwischen Booze Cruise

Steffen Schülein

Martina Backes

Griechischer Wein

Ramona Lenz, Interview

? Nach der Reise – retouchierte Idylle, archivierte Erinnerungen 198

Think pink

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Can I be a Jamaican , please?

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Schreiben Sie so über Afrika !

Pico Iyer Kwame Dawes Binyavanga Wainaina

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Editorial …

Zwischen

Tagsüber von neun bis fünf arbeitet er als Postmann in einer niederländischen Großstadt, ab sechs Uhr abends kontrolliert er Studentenausweise in einem Sportzentrum. Das Wochenende verbringt Moses häufig in Belgien, als Kajakfahrer leitet er Bootstouren in den Ardennen. Von Mitte Juni bis Ende August führt der 35-jährige Abenteuerreisende über die Stromschnellen des Zambesi unterhalb der Viktoria Fälle. Für zwei Monate im Jahr besucht der gebürtige Sambier hier seine Familie, die in einem Dorf nahe der spektakulären Schlucht liegt.

Als kleiner Junge rannte Moses den Trucks mit den TouristInnen hinterher, die hier auf der Rückkehr von ihrer Zambesi-Tagestour vorbeifuhren. Als junger Mann trug er tageweise die Boote der ausländischen Veranstalter aus der steilen Schlucht hinaus. Wegen des geringen Verdienstes wurde er zum Gespött des Dorfes, gute Zukunftsaussichten konnte sich niemand vorstellen. Als sich über die Jahre eine Vertrauensbasis zwischen Moses und seinem Chef bildete, bot dieser ihm eine Ausbildung als Raftguide an – ein Job, der bis dahin den weißen Immigranten aus Europa und Südafrika vorbehalten war. Trainingsaufenthalte in den USA, in Australien und in Costa Rica waren die ersten Auslandserfahrungen, dann wurde Moses einer der ersten schwarzen Raftguides auf dem Zambesi. Inzwischen hat er in Österreich für ein deutsches Unternehmen die Alpenflüsse befahren. Seine niederländische Frau hat er vor einigen Jahren in Sambia bei einer Bootsfahrt auf dem Fluss kennen gelernt. Das Aussehen des Dorfes hat sich seit seiner Kindheit kaum gewandelt: Lehmhütten mit Strohdächern inmitten einer trockenen Savannenlandschaft, in der die Elefanten regelmäßig die Ernte platt trampeln. Es gibt kein öffentliches Transportwesen, kaum Wasser, nur eine kleine Grundschule, keine Gesundheitsstation, nicht einmal ein Kiosk, nur ein Fußballfeld für die Kinder. Wenn der Truck des Adventure-Unternehmens hier nachmittags für eine halbe Minute hält, weil die Träger abspringen, machen die TouristInnen von ihren Hochsitzen aus Fotos von der Dorfszenerie.


den Welten Das globalisierte Milieu, in dem viele der (Ex-)DorfbewohnerInnen leben, und die ökonomischen und materiellen Verflechtungen, die sich daraus ergeben, sind den Lehmhütten auf den ersten Blick nicht anzusehen. Immer noch laufen die kleinen Jungs zum Truck mit den vorbeifahrenden TouristInnen, und immer noch arbeiten die jungen Männer aus dem Dorf als Träger, vornehmlich diejenigen, die nicht Schwimmen können und kein Englisch sprechen. Nur einige wenige haben die Chance, zum Guide aufzusteigen. Moses pendelt zwischen den Welten. Er ist ein Idol für die Jugendlichen im Dorf. Die einheimischen Kollegen fragen ihn, wie er es anstellt, von den Weißen respektiert zu werden. Und die Dorfältesten argwöhnen, dass er sich inzwischen lieber mit den Weißen trifft als mit seinen ehemaligen Schulfreunden im Dorf. Dem touristischen Blick bleiben diese Nuancen oftmals verborgen. Die unterschiedlichen Lebensgeschichten und die vielfältigen interkulturellen Erfahrungen der DienstleisterInnen, die flugs zwischen den kulturellen Standards der Herkunftsländer der TouristInnen und ihren eigenen unterschiedlichen Lebenswelten hin- und herwechseln können, werden selten erkannt. Viele TouristInnen bleiben stattdessen einem Afrikabild verhaftet, das aus exotischen Tierwelten, primitivem Leben in der Wildnis und dadurch vor allem aus eigenen Entdecker- und Abenteurermythen besteht. Erst die Familiengeschichte von Moses offenbart, wie globalisiert das Milieu ist, in dem die DorfbewohnerInnen leben. Der jetzt 78-jährige Vater war, nach mehreren Jahren Arbeit in Südafrika, als Koch in der Küche des staatlichen Hotel Interkontinental in Sambia tätig. Die Schwester arbeitet als Rezeptionistin in einer Mittelklasse-Lodge in der Stadt. Ein Bruder ist Träger und wartet seit nunmehr sechs Jahren auf die Chance, auch einmal eines der Boote fahren zu dürfen, die er täglich für zwei Dollar pro Tour in die Schlucht und wieder hoch trägt. Zwei andere Brüder haben es inzwischen bis zum Raftguide geschafft, einer von ihnen ist sogar in der Schweiz gewesen. Der älteste Bruder verkauft Schnitzfiguren auf einem Souvenirmarkt am Parkeingang zu den Victoria Falls.

Fe n s t e r z u r Pa r a l l e l w e l t

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Aufgrund der Wirkungsmächtigkeit der touristischen Bilder scheint es keineswegs selbstverständlich, dass die komplexen Realitäten der BewohnerInnen in den Reiseländern wahrgenommen werden. Die Eindrücke werden gefiltert durch vorgefertigte Klischees und Interpretationsmuster, von denen sich niemand leicht lösen kann. Viele der möglichen Eindrücke auf Reisen werden ausgeblendet oder fallen durch, weil sie nicht in das touristische Vorstellungsraster passen.

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Das touristische Wissen beeinflusst aber auch den Blick auf MigrantInnen zuhause und anderswo – und die Einordnung dessen, was in der Tagesschau aus fernen Ländern berichtet wird. Der Blick auf den sambischen Postmann in Holland oder den Schlauchbootführer auf dem Alpenfluss wird von den Vorkenntnissen geleitet, die für »Afrika« stehen und die zum Teil erst von der touristischen Bilderwelt erzeugt und vermarktet werden. Hinzu kommt, dass die Perspektiven der beschäftigten DienstleisterInnen, ihre Erwartungen und auch ihr Widerstand, kaum in den Medien repräsentiert sind. Störende oder einfach nur andere Sichtweisen irritieren das Urlaubswissen somit nur selten. Genau diesen Irritationen des touristischen Blicks sind die Geschichten und Bilder dieses Sammelbandes auf der Spur. Teils ernsthaft, teils ironisch handeln die hier veröffentlichten Romanauszüge und Kurzgeschichten von Begegnungen und Nicht-Begegnungen auf Reisen und von den Erlebnissen an der Grenze der gebuchten Vorstellungswelten. Die AutorInnen erzählen von Situationen, in denen sich für sie Fenster zur Parallelwelt öffneten, weil sie den Geschehnissen hinter der touristischen Inszenierung ihre Aufmerksamkeit schenkten oder sie touristische Vergnügungswelten und ihre eigene Rolle als TouristIn als widersprüchlich oder sogar abstoßend empfanden. Der gewählte Begriff der Parallelwelt ist dabei bewusst mehrdeutig. Je nach Perspektive stellt entweder der Alltag der lokalen Bevölkerung oder die touristische Erfahrungswelt eine nur bedingt zugängliche und dadurch fremd erscheinende Welt dar.

Fern


»Fenster zur Parallelwelt« möchte durch die Konfrontation mit anderen, ungewohnten Perspektiven neue Einblicke und Ausblicke auf die komplizierten Beziehungen zwischen TouristInnen und DienstleisterInnen ermöglichen, Wiedererkennungseffekte anregen oder als Spiegelungen einen Blick zurück auf die eigene Bilderwelt über die Fremde werfen. Damit eröffnen sich Möglichkeiten, die Perspektiven zu wechseln und immer wieder Überraschungen zu erleben. Die Zusammenstellung von Reisegeschichten und Bildern aus der FernWeh-Wander-Ausstellung »Beyond Paradise« führt auf eine imaginäre Reise über sieben Stationen. Beginnend mit Impressionen aus der (Reise-)Werbung und Reisevorbereitungen wird der Blick auf klassische Reisesituationen gelenkt. Vor Ort gilt die Aufmerksamkeit den Blickfängen der touristischen Parallelwelten, der lokalen Reisewerbung und der Schwierigkeit, als ReisendeR nicht auch immer wieder TouristIn zu sein. Extrem wird die Exotik dort, wo die Schattenseiten des Urlaubs eine nervenkitzelnde, aber kontrollierbare Abwechslung versprechen. Klassische und (post-)koloniale Dienstleistungssituationen gehören zu den Reiseerfahrungen, die gerne romantisiert, touristisch verklärt oder auch völlig ausgeblendet werden – insbesondere die Berührungspunkte zwischen Migration und Tourismus. Die Gegenüberstellung von touristischen Blicken auf die Migration und migrantischen Perspektiven auf Tourismus verdeutlicht, wie verflochten die beiden Mobilitätsphänomene Tourismus und Migration sind. Am Ende schlägt die multikulturelle Bilderflut den Bogen zurück: denn je nach Perspektive ist »nach der Reise« auch wieder »vor der Reise«. Martina Backes · Rosaly Magg · Steffen Schülein FernWeh 2006

Wir möchten allen Verlagen und AutorInnen danken, die uns die hier abgedruckten Reisegeschichten zur Verfügung gestellt haben. Ohne ihre freundliche Abdruckgenehmigung hätte dieses Buch nicht entstehen können!

Weh

Außerdem gilt unser Dank allen FotografInnen, deren Bilder für die

Ausstellung »Beyond Paradise – Stationen des touristischen Blicks« (2005) in diesem Buch abgedruckt sind. Ihr detailreicher und kritischer fotografischer Blick auf die Fremde hat uns dabei geholfen,

die vielfältigen Begegnungen auf Reisen in Worte und Bilder zu fassen.

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Fe n s t e r z u r Pa r a l l e l w e l t

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Motiv: FernWeh – Ausstellungstafel »Beyond Paradise«

Vor der Reise Traumbilder im Fokus

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____ »Ich darf es gleich

gestehen: Nie hatte ich darüber nachgedacht,

warum ich dorthin ging.« Freya Stark, 1929

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Vo r d e r R e i s e


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»Haut doch ab… ihr Herbsthasser und Frostbeulen!« So wirbt der Reiseveranstalter STA

Travel... und die TUI gelobt: »Adam und Eva wurden aus dem Paradies vertrieben, wir fliegen sie jeden Tag hin«. Ob in Bahnhöfen, in den Schaufensterauslagen, auf den Titelseiten der Reisemagazine oder im Kino: Allerorten wecken Bilder von schönen Landschaften, exotischen Kulissen und »fremden« Menschen Träume von Genuss und Abwechslung. Die mit Reisen verbundenen Fantasien und paradiesischen Bilder bedienen das Bedürfnis nach authentischem Erleben und einmaligen Erfahrungen als Kontrast zum Alltag. Schon vor der eigentlichen Reise existiert eine Vorstellung über die Fremde(n) – die inszenierten Traumwelten in Prospekten und eine nahezu allgegenwärtige Präsenz von visualisierten Mythen prägen die Reisewünsche mit. Die Palette an Medien, die den touristischen Blick trainieren, ist äußerst vielfältig: Reisewerbung, Reiseliteratur, Filme und Infotainment oder Diashows transportieren vorzugsweise eine touristische Wahrnehmung von Fremde(n), die auf archivierte Urlaubserinnerungen sowie Reiseerzählungen von TouristInnen zurückgreifen und auf historisch vermittelte Stereotype über die »Anderen« setzen.

Es ist nicht leicht, auf einem globalen touristischen Markt die Aufmerksamkeit der Reisenden zu gewinnen. Für die Vermarktung der Ferienkulissen spielt daher die fremde Kultursymbolik eine gewichtige Rolle. Mit dem Begriff von der ›landestypischen‹ Kultur wird nicht nur das Originelle hervorgehoben, sondern zugleich Einzigartigkeit gelobt: »Im Reich der Mitte« den »Zauber Chinas selber erleben« (Wikinger Reisen) verweist auf Unverwechselbares. Ebenso unmissverständlich stehen »Schlangenbeschwörer und Asketen« als Synonym für den Süden Indiens. Mittels symbolischer Etikettierungen wie dem »Land des Lächelns« oder dem »Dach der Welt« werden Länder in Kategorien eingeteilt. He-

Vor


rausgeber von Reisführern plakatieren ihre Buchcover noch heute mit »typischen« Gesichtern, Gestalten in folkloristischer Verkleidung oder mit exotischer Bemalung, die allesamt an ethnographische Darstellungen erinnern. Die Bilder werden mit entsprechenden Texten unterstrichen, wenn etwa Kreta als die »Heimat eines Volkes beschrieben wird, dessen Stolz und Willensstärke keinem Gast verborgen bleiben«, wo sich »uralte Traditionen und tief verwurzelte Gepflogenheiten« finden lassen.

der

Reise

Mythen wie diese stehen symbolisch für die verschiedenen Urlaubsversprechen und spiegeln insbesondere auch die Erwartungen an die Reise wider. Wer verreist, hat bereits eine zumindest vage Idee von der Kultur des Reiselandes. Auch die Vermarktung des »benötigten« Reise-Equipments knüpft an diese Bilderwelt an. Die Werbung für die speziell für Outdoor-Erlebnisse produzierte Reiseausrüstung steht exemplarisch für die Verquickung imaginierter ethnischer Qualitäten mit einem Produkt. Zugleich bedient die Werbung den Mythos von Sicherheit und Kontrolle: Die teils widrigen fremden Verhältnisse werden dank technischer und materieller Überlegenheit überstanden, erobert, gemeistert. Der enorme Boom an meist teuren Produkten für die Reiseausrüstung spiegelt auch das Bild des Bedrohlich-Gefahrvollen wider, das neben den exotisch-bekömmlichen Eigenschaften eben auch in die Fremde(n) hinein interpretiert wird. Ein Klassiker ist hier sicherlich die Reiseapotheke, in der die Vorstellung von tropischen und unheilbaren oder gar tödlichen Krankheiten in verdinglichter und – egal wohin die Reise geht – auffallend vereinheitlichter Form eine Aufbewahrung findet.

Vo r d e r R e i s e

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Traumbilder

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Erst aufgrund der touristischen Vorerfahrungen und des »Wissens« über »fremde Kulturen« können die Bilder und Erzählungen ihre Wirkung entfalten. Sicher verhindern die Fiktionen in der Reisewerbung nicht grundsätzlich, die politische und soziale Realität eines Landes wahrzunehmen. Und in aller Regel wissen die Reisenden, dass die Reise nie ganz so ausfällt, wie sie es erwarten. Doch werden ambivalente und weniger einladende Bilder über die Reiseziele gerne auf Distanz gehalten oder ausgeblendet, solange es um den Urlaub geht. Auch verblasst die Erinnerung an die vielen Eindrücke, die nicht die Erwartungshaltung bestätigen, da diese oftmals nicht kommuniziert, nicht abgelichtet und auch nicht interpretiert werden. Eben dieser machtvolle Prozess, die »Anderen« ganz nach dem eigenen Geschmack dar- oder sich vorstellen zu können, verweist auf den hegemonialen Charakter des Tourismus. Gekennzeichnet ist diese Bilderwelt ebenso wie das Reisegeschehen von einem pick-and-mix Verhalten: Ganz ähnlich wie bei der Auswahl zwischen indischer und chinesischer, italienischer und thailändischer Küche, zwischen afrikanischem Trommel- und brasilianischem Tangoabend, hat die Reiseentscheidung den Charakter der Selbstbedienung an einem für die eigenen Reisewünsche aufbereiteten Flickenteppich von Kultur-Landschaften. Dabei lassen sich die vielen existenten Negativbilder, die auch mit der Fremde assoziiert werden, in aller Regel nicht nur in die gewollte Exotik einflechten, sondern übernehmen für die Reisewünsche eine ebenso wichtige Funktion: In dosierter und kontrollierter Form werden Bilder der Armut und des Schreckens in die Reisewelt einbezogen – als Garant für Abenteuer, als Kulisse für die persönlichen Sehnsüchte, etwa dem Kennenlernen der eigenen Grenzen zur Distinktion gegenüber den anderen Reisenden oder zur Individualisierung gegenüber den Daheimgebliebenen.


im Fokus

Sicher spielen viele weitere Faktoren wie die Preispolitik der Anbieter, die flexibilisierte Lebens- und Arbeitsweise oder auch Familienbesuche und Arbeitsaufenthalte bei der Wahl des Reiseziels eine ebenso entscheidende Rolle. Auch ist die Einteilung in typische Backpackeroder AbenteuertouristInnen einerseits und all-inclusive oder Ballermann Reisende andererseits völlig unhaltbar, wird doch häufig das dreitägige Abenteuer beim Kamelritt in die Wüste und der Bildungsurlaub mit einer einwöchigen Rundumversorgung in einem Fünfsternehotel kombiniert. Dem Einfluss individueller und kollektiver Bilderwelten kann sich jedoch keiner allein durch die Reiseform entziehen. Dass eher die selbsterdachten Traumbilder in den Fokus des Interesses gelangen, wenn es um (Urlaubs-) Reisen geht und die »Bereisten« hier kaum Möglichkeiten der Selbstrepräsentation haben, ist Ausdruck des postkolonialen Charakters des ferntouristischen Geschehens.

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Alain de Botton erklärt sich die Macht der Bilder daraus, dass sie »das Durcheinander des gegenwärtigen Augenblicks ordnen«. Mary Kingsley stellt 1897 im Vorwort zu ihrem Tagebuch, nachdem sie die Tipps von Bekannten und ihre recht umfangreiche Reiseausrüstung Revue passieren lässt, fest: »Tropen bleiben Tropen, wo auch immer«. Mit einer Geschichte, in der das erste Reiseziel bewusst dem Zufall überlassen wird, wendet sich die Autorin Katy Gardner auf den ersten Blick zwar gegen dieses Ritual der willkürlichen Reiseentscheidung, um dann doch wieder dem besonderen Reiz des Unbekannten zu erliegen.

Motiv: reisegruppe burg metonulle – »Reise« 2004

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Motive: Oliver Arcioli, »Deplazierte Häuserfassaden« – Postkartenserie, Bogota / Kolumbien 2003



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Über Erwartungen

Alain de Botton

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Schwer zu sagen, wann genau der Winter da war. Der Rückgang vollzog sich allmählich, ganz so, wie ein Mensch altert, Tag für Tag in kaum merklichen Schritten, bis die Jahreszeit eine Realität war, an der sich nicht rütteln ließ. Es begann mit sinkenden Abendtemperaturen, dann folgten Tage ununterbrochenen Regnens, jäh wechselnde Böen atlantischen Windes, Feuchte, das Fallen der Blätter und die Umstellung der Uhren – aber immer noch gab es gelegentlich eine Verschnaufpause, Vormittage, an denen man ohne Mantel aus dem Haus gehen konnte und der Himmel wolkenlos strahlte. Doch sie waren wie trügerische Anzeichen der Genesung bei einem Patienten, dem der Tod das Urteil verkündet hatte. Im Dezember hatte sich die neue Jahreszeit durchgesetzt, und über der Stadt lag fast täglich ein bedrohlicher stahlgrauer Himmel wie auf einem Gemälde von Mantegna oder Veronese, die perfekte Umrahmung für die Kreuzigung Christi oder für einen im Bett verbrachten Tag. Der Park um die Ecke wurde zur Ödnis aus Schlamm und Wasser, auf die nächtens der regengrau gestreifte orange Schein der Straßenlaternen fiel. Als ich ihn eines Abends während eines Gusses durchquerte, musste ich daran denken, wie ich mich in der Hitze des vergangenen Sommers auf dem Boden ausgestreckt und mir die Schuhe von den bloßen Füßen gestreift hatte und mit ihnen über das Gras gestrichen war. Bei diesem unmittelbaren Kontakt mit der Erde hatte sich ein Gefühl eingestellt, als werde in mir alles weiter und als dehnte ich mich aus, während der Sommer die normalen Grenzen zwischen innen und außen niederriss, und ich fühlte mich in der Welt so zu Hause wie in meinen eigenen vier Wänden. Doch nun war der Park wieder abweisend, und den Rasen zu betreten verbot sich in dem unablässigen Regen von selbst. Alle Traurigkeit, die ich je empfunden haben mochte, jeder Verdacht, dass Glück unerreichbar, Verständnis zu finden unmöglich war, wurde von den pitschnassen dunkelroten Backsteinhäusern und dem tiefen, von den Straßenlaternen orange getönten Himmel nur zu eifrig bestätigt.


Diese Witterungsverhältnisse und eine Reihe von Ereignissen, die in etwa diese Zeit fielen (und Chamforts Diktum zu bestätigen schienen, dass man morgens eine Kröte schlucken sollte, um gegen weitere Widerwärtigkeiten, die der vor einem liegende Tag noch bringen mochte, gefeit zu sein), wirkten zusammen und machten mich empfänglich für die unverlangt zugesandte große, üppig bebilderte Broschüre mit dem Titel »Wintersonne«, die eines Spätnachmittags eintraf. Auf ihrem Umschlag war eine Reihe von Palmen abgebildet, die schief und krumm auf einem Sandstrand wuchsen, gesäumt von einem türkisfarbenen Meer und mit Hügeln im Hintergrund, in denen ich mir Wasserfälle und Erholung von der Hitze im Schatten süß riechender Obstbäume vorstellte. Die Aufnahme erinnerte mich an die Gemälde aus Tahiti, die William Hodges von seiner Reise mit Kapitän Cook mitgebracht hatte und die eine tropische Lagune im milden Abendlicht zeigen, dazu lächelnde einheimische junge Frauen, die sorglos (und barfuß) durch üppiges Laub streifen, Bilder, die Erstaunen und Sehnsucht ausgelöst hatten, als Hodges sie in der Royal Academy in London im bitterkalten Winter des Jahres 1776 erstmalig ausstellte – und die in der Folgezeit als Vorbild für spätere Darstellungen tropischer Idyllen dienten, nicht zuletzt für die auf den Seiten des »Wintersonne« betitelten Katalogs. Die für diese Broschüre Verantwortlichen hatten intuitiv erkannt, wie leicht Leser mit Fotografien zu ködern waren, deren Macht die Intelligenz beleidigte und jedem Begriff von freiem Willen hohnsprach: mit plakativen Aufnahmen von Palmen, klaren Himmeln und weißen Stränden. Leser, die in anderen Bereichen ihres Lebens eher zu Skepsis und Besonnenheit neigten, fielen bei der Begegnung mit diesen Naturerscheinungen in ein unschuldiges Urvertrauen und in Optimismus zurück. Die von der Broschüre ausgelöste Sehnsucht war, anrührend und trivial zugleich, ein Beispiel dafür, dass bestimmte Vorhaben (und sogar ein ganzes Leben) von den allereinfachsten, fraglos hingenommenen Glücksbildern beeinflusst waren, dass Menschen sich zu einer umfänglichen und enorm kostspieligen Unternehmung hinreißen ließen, und das nur, weil sie das Foto einer von der tropischen Brise sanft geneigten Palme gesehen hatten. Ich beschloss, zur Insel Barbados zu reisen. (…) Der Gedanke, dass eine Reise nie so ausfällt, wie wir sie uns ausgemalt haben, ist uns nicht fremd. Die pessimistische Schule, deren Schirmherr ehrenhalber Des Esseintes sein könnte, behauptet daher, die Realität müsse immer enttäuschen. Besser und lohnender wäre es vielleicht zu sagen, dass sie vor allem anders ist. Ich nahm mir vor, einigen Unterschieden genauer auf den Grund zu gehen. Nach zwei Monaten der Vorfreude landete ich an einem wolkenlosen Nachmittag im Februar mit meiner Reisebegleiterin M. auf dem Grantley Adams Airport von Barbados. Der Weg vom Flugzeug zu den niedrigen Flughafengebäuden war nur kurz, jedoch lang genug, um eine klimatische Revolution wahrzunehmen. Binnen weniger Stunden war ich in einer Hitze und Feuchtigkeit angelangt, die es zu Hause noch in fünf Monaten nicht gegeben und die selbst dann keine solche Intensität erreicht hätte. Vo r d e r R e i s e

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Motive: reisegruppe burg metonulle – »Reise« 2004

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Binnen kurzem dämmerte mir, dass die Insel sich anders erweisen würde als das, was ich mir vorgestellt hatte – nicht sonderlich überraschend, wenn man bedenkt, was ich mir vorgestellt hatte. In den zwei Monaten zuvor hatte ich, wenn ich an die Insel dachte, stets drei unverrückbare innere Bilder vor Augen, die sich beim Lesen besagter Broschüre und des Flugplans eingestellt hatten. Das erste zeigte einen Strand mit einer Palme bei Sonnenuntergang, das zweite einen Hotelbungalow, dessen bodentiefe Glastüren den Blick auf einen Raum mit Parkett und weißem Betttuch freigaben, das dritte einen azurblauen Himmel. Auf Befragen hätte ich natürlich eingeräumt, dass zu der Insel auch noch andere Dinge gehören mussten; die aber hatte ich nicht gebraucht, um mir mein Bild zu machen. Ich verhielt mich wie Theaterbesucher, die mühelos der Illusion verfallen, das Geschehen auf der Bühne trage sich im Wald von Sherwood oder im alten Rom zu, weil der Ast einer Eiche oder eine dorische Säule in die Kulissen gemalt ist. Bei meiner Ankunft machte sich jedoch eine ganze Reihe von Dingen geltend, die in den Begriff Barbados eingeschlossen werden mussten. So etwa eine große Tankstelle, gekrönt mit dem gelb-grünen Logo von British Petroleum, und ein kleiner Holzver-


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schlag, in dem ein Beamter der Einwanderungsbehörde in einem makellosen braunen Anzug saß und mit Neugier und gemächlichem Staunen (wie ein Gelehrter, der inmitten der Papierberge einer Bibliothek die Seiten eines Manuskripts betrachtet) die Reisepässe einer Touristenschlange begutachtete, die sich aus dem Flughafengebäude hinaus bis zum Rand des Rollfeldes wand. Über dem Gepäckkarussell prangte eine Rumreklame, im Gang zum Zoll hing das Foto des Premierministers, in der Ankunftshalle befand sich eine Wechselstube, und vor dem Flughafengebäude herrschte ein Gewimmel von Taxifahrern und Reiseführern. Problematisch an dieser Überfülle von Bildern war jedoch allenfalls, dass sie es seltsam erschwerten, das Barbados zu sehen, um dessentwillen ich ja die Reise angetreten hatte. In meinen vorauseilenden Erwartungen hatte schlicht eine Lücke zwischen dem Flughafen und meinem Hotel geklafft. Vorher kein Gedanke an die Tausende anderer Bilder, die vor meinem Auge vorüberziehen mussten, bis die Vorstellung von meinem Hotelzimmer von der Realität abgelöst wurde. Und dazu gehörten, um nur einige zu nennen: ein Gepäckkarussell mit einer zerschlissenen Gummimatte, zwei Fliegen, die über einem überquellenden Aschenbecher tanzten, ein riesiger Ventilator, der sich in der Ankunftshalle drehte, ein weißes Taxi, dessen Armaturenbrett mit einem Fellimitat Vo r d e r R e i s e


mit Leopardenmuster bezogen war, ein streunender Hund in der kahlen Ödlandschaft hinter dem Flughafen, eine Reklame für »Luxus-Eigentumswohnungen« an einem Kreisverkehr, eine Firma namens »Bardak Electronics«, eine Häuserzeile mit roten und grünen Blechdächern, eine Schlaufe am Mittelholm des Autos, auf der in kleiner Schrift »Volkswagen, Wolfsburg« stand, ein Busch mit hell leuchtenden Blüten, dessen Namen ich nicht kannte, eine Hotelrezeption, in der die Zeit an sechs verschiedenen Orten des Globus angezeigt wurde und wo neben den Uhren eine Postkarte an die Wand gepinnt war, die mit zwei Monaten Verspätung »Fröhliche Weihnachten« wünschte. Nur wenige Stunden nach der Ankunft befand ich mich in einem vorgestellten Hotelzimmer, obwohl ich mir vorher kein Bild von seiner voluminösen Klimaanlage oder, auch wenn es mir willkommen war, von dem dazugehörigen Badezimmer mit seinen Plastikwänden und der strengen Mahnung, mit Wasser sparsam umzugehen, gemacht hatte.

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Wenn wir nur zu gern vergessen, wie viel außer dem von uns Einkalkulierten noch in der Welt ist, trifft Kunstwerke daran vielleicht eine gewisse Mitschuld, vollzieht sich in ihnen doch derselbe Prozess der Vereinfachung oder Auslassung wie in der Phantasie. Auch in künstlerischen Darstellungen kommt es zu erheblichen Verkürzungen dessen, womit die Wirklichkeit uns konfrontiert. Einer Reisebeschreibung etwa entnehmen wir, dass der Erzähler einen ganzen Nachmittag unterwegs war, um den Bergort X zu erreichen, und nach einer im dortigen, aus dem Mittelalter stammenden Kloster verbrachten Nacht im Dunst des Morgengrauens erwacht. Doch wir sind niemals einfach nur einen ganzen Nachmittag unterwegs. Wir sitzen in einem Zug. Mühsam verdaut unser Körper das Mittagessen. Das Sitzpolster ist grau. Wir sehen durch das Fenster auf ein Feld. Lassen den Blick wieder durch das Abteil schweifen. Unser Bewusstsein wälzt einen ganzen Sack voller Ängste um und um. Wir bemerken einen Anhänger an dem Koffer im Gepäcknetz gegenüber. Tippen mit dem Finger auf das Fensterbrett. Ziehen uns mit dem am Zeigefinger eingerissenen Nagel einen Faden. Regen setzt ein. Ein Tropfen läuft in einer geschlängelten Bahn über die staubige Scheibe. Wir überlegen, wo die Fahrkarte sein könnte. Schauen wieder auf das Feld. Es regnet weiter. Endlich ruckt der Zug an. Er fährt über eine Eisenbrücke, nach der er aus unerklärlichen Gründen stehen bleibt. Eine Fliege landet auf der Fensterscheibe. Und würden wir lückenlos alle Begebenheiten schildern, die sich hinter der trügerischen Aussage »er war den ganzen Nachmittag unterwegs« verbergen, so wären wir womöglich erst am Ende der ersten Minute angelangt.


Ein Geschichtenerzähler, der uns eine solche Detailfülle böte, ginge uns schon bald auf die Nerven. Leider verschreibt das Leben selbst sich häufig dieser Erzählweise und ermüdet uns mit Wiederholungen, irreführenden Hervorhebungen und folgenlosen Handlungssträngen. Es besteht darauf, uns die Firma Bardak zu zeigen, den Haltegriff im Auto, den streunenden Hund, eine Weihnachtskarte und eine Fliege, die sich zuerst auf dem Rand und danach mitten in einem überquellenden Aschenbecher niederlässt. Dies erklärt auch das seltsame Phänomen, dass Wertvolles in der Kunst und in der Vorstellung leichter zu entdecken ist als in der Realität. Antizipatorische und künstlerische Vorstellungen lassen aus und verdichten, sie überspringen Momente der Langeweile, lenken unsere Aufmerksamkeit auf das Entscheidende und verleihen, ohne dabei zu lügen oder zu beschönigen, dem Leben eine Lebendigkeit und Stringenz, an der es ihm in der überbordenden Fülle des Moments womöglich mangelt. Als ich in meiner ersten Nacht in der Karibik wach im Bett lag und an den zurückgelegten Weg dachte (in den Büschen draußen zirpte und raschelte es), begann das Durcheinander des gegenwärtigen Augenblicks sich bereits zu lichten, und bestimmte Ereignisse traten in den Vordergrund – denn die Erinnerung gleicht in dieser Hinsicht der Vorausschau, ist ein Instrument der Vereinfachung und der Auswahl. Die Gegenwart ließe sich mit einer langen Filmrolle vergleichen, auf der Erinnerung und Antizipation bestimmte Aufnahmen als Höhepunkte auswählen. Von meinem neuneinhalbstündigen Flug auf die Insel bewahrte das aktive Gedächtnis nur sechs, sieben statische Bilder. Heute ist mir davon nur eines präsent: die während des Fluges gereichte Mahlzeit. Von meinen Eindrücken auf dem Flughafen kann ich nur noch das Bild von der Schlange bei der Passkontrolle abrufen. Die Momente meines Erlebens haben sich zu einer geschlossenen, fest umgrenzten Erzählung geordnet: Ich wurde zu einem Mann, der mit dem Flugzeug aus London gekommen und in dieses Hotel eingecheckt war. Ich schlief früh ein und erwachte am nächsten Tag in meinem ersten in der Karibik erlebten Morgengrauen – obwohl hinter diesen dürren Worten unweigerlich mehr steckte als nur das.

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Alain de Botton, Kunst des Reisens. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2002

Vo r d e r R e i s e

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Die grünen Mauern meiner Flüsse Aufzeichnungen aus Westafrika

Mary Kingsley Vo r r e d e z u r e r s t e n A u f l a g e ( 1 8 9 7 )

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Im Jahr 1893 verfügte ich zum ersten Mal in meinem Leben über einen Zeitraum von fünf oder sechs Monaten, der nicht im Voraus fest verplant war. Ich fühlte mich also wie ein kleiner Junge mit einem neuen Halbkronenstück und überlegte, was damit anzufangen sei. »Studiere die Tropen«, befahl mir eine innere Stimme. Zu welchem Ort der Erde aber sollte ich mich begeben? Tropen bleiben Tropen, wo auch immer. Also nahm ich einen Atlas zur Hand, und da die malaiische Region zu weit entfernt war und zu teuer kommen würde, konnte mein Reiseziel nur Südamerika oder Westafrika sein. Als nächstes besorgte ich mir die »Geographical Distribution« von Wallace, und nachdem ich den Artikel dieses Meisters über Äthiopien gelesen hatte, fasste ich mir ein Herz und entschied mich für Westafrika. Dies fiel mir umso leichter, weil ich nichts über die tatsächlichen Zustände dort wusste, über Südamerika hingegen durch mündliche und schriftliche Berichte eine ganze Menge erfahren hatte. Mir fiel ebenfalls ein, dass Gelbfieber eine ansteckende Krankheit ist, und dass ein bekannter Naturforscher, der mir sowohl physisch wie geistig überlegen war, mit einer Expeditionsgesellschaft den Parana-Fluss hinauffuhr und dabei fast verhungert und an Fieber gestorben wäre. Meine Unwissenheit bezüglich Westafrikas war bald behoben. Und auch wenn der riesige Hohlraum in meinem Kopf inzwischen noch nicht einmal halb gefüllt ist, verfüge ich nun doch über eine ganze Menge seltsamer Informationen. Das Wort seltsam verwende ich absichtlich, da viele Leute meinen Wunsch nach praktischen Hinweisen und Ratschlägen anscheinend dahingehend interpretieren, dass man mir wirklich jeden Bären aufbinden könnte. Trotz heroischer Anstrengungen, diese Informationen in ein System zu bringen, befinden sie sich immer noch im Zustand der Unordnung. Unter den folgenden Punkten lässt sich jedoch fast alles zusammenfassen: Gefahren in Westafrika; Unannehm-


lichkeiten in Westafrika; Krankheiten in Westafrika; Dinge, die man nach Westafrika mitnehmen muss; Nützliche Dinge in Westafrika; Schlimme Fehler, die man in Westafrika begehen kann. Als erstes begann ich damit, alle meine Freunde über Westafrika zu befragen. Die meisten von ihnen wussten nichts. Einige wenige meinten: »Da kannst du unmöglich hinfahren. Dort ist doch Sierra Leone, das Grab des weißen Mannes«. Weitere Erkundigungen ergaben, dass Verwandte dorthin gegangen waren, die sich anderweitig als Versager erwiesen hatten. Aber angesichts der Tatsache, dass diese Leute nicht nur von Westafrika, sondern von der Welt ganz allgemein ihren Abschied genommen hatten, war heute alles vergeben und vergessen. Eine Dame wiederum erinnerte sich an einen Gentleman, der einige Jahre in Fernando Po gelebt hatte. Als er mit vierzig Jahren als gealtertes Wrack zurückkehrte, wurde er so heftig von Malariaanfällen geschüttelt, dass dabei ein Kandelaber herunterfiel, der ein wertvolles Teeservice zerstörte und auch die in der Mitte stehende silberne Kanne zerquetschte. Nein, es bestand kein Zweifel, der Ort war der Gesundheit eher abträglich. Als nächstes begann ich damit, die Ärzte ins Kreuzverhör zu nehmen. »Absolut tödlichster Flecken dieser Erde«, sagten sie fröhlich und zeigten mir Karten, die die Verteilung der Krankheiten auf einzelne Landstriche belegten. Nun sieht ein Land bestimmt nicht einladend aus, wenn es in Giftgrün oder galligem Gelb koloriert ist. Doch diese Farbgebung könnte auf den Mangel an künstlerischer Begabung des Kartographen zurückzuführen sein. Es besteht aber kein Zweifel, was er mit der Farbe Schwarz ausdrücken will, und man muss feststellen, dass das die Farbe für ganz Westafrika ist, angefangen oberhalb von Sierra Leone bis über den Kongo hinaus. »An Ihrer Stelle würde ich dort nicht hinfahren«, sagten meine Medizinerfreunde, »Sie werden sich etwas einfangen. Aber wenn Sie unbedingt in diese Gegend wollen und so stur wie ein Maulesel sind, dann bringen Sie mir doch…«, und hierauf folgte eine Liste von Bestellungen, so lang wie von hier nach New York, wovon jede… aber das habe ich erst später herausgefunden. Alle meine Informanten verwiesen mich an die Missionare. »Viele von denen waren da unten, und zwar jahrelang.« Also wandte ich mich mit großem Eifer den von Missionaren verfassten Büchern zu. Doch nur um festzustellen, dass diese braven Leute ihre Berichte keineswegs geschrieben hatten, um etwas über das Land mitzuteilen, in dem sie lebten. Sie erläuterten vielmehr den Fortgang seiner Entwicklung hin zu dem, was es einmal werden sollte, und vor allem wie wichtig es sei, dass die Leser bereitwilliger spendeten, sich für ihr Geld aber keine falschen Hoffnungen über die Anzahl der dadurch geretteten Seelen machen sollten. Des Weiteren fand ich dort beängstigende Bestätigungen für die Aussagen meiner Medizinerfreunde sowie zahllose Einzelheiten, etwa über die Verteilung von Baumwollhemden, worüber ich mir allerdings nicht weiter den Kopf zerbrach.

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Die Missionare vermittelten mir dennoch einen ersten Eindruck von den gesellschaftlichen Zusammenhängen in Westafrika. Ich erfuhr, dass dort in erster Linie Eingeborene leben – eine Art Rohmaterial, das entweder zum Guten oder zum Bösen neigt, je nachdem ob sie unter dem Einfluss von Missionaren oder Händlern stehen. Zudem gibt es Regierungsvertreter, die hauptsächlich die Arbeit der Missionare zu unterstützen und abzusichern haben, eine Aufgabe, die sie mit unterschiedlichem Erfolg ausüben. Die Händler hingegen reihte ich sofort unter die Gefahren Westafrikas ein. Über sie hörte ich später so genannte gute alte Geschichten, echtes »Küstengarn«: Fährt ein Händler aus dieser Region – man legt sich dabei nicht auf einen Ort fest – endlich zur Hölle, zögert Luzifer nicht einen Moment, ihm den Thron freizumachen. Das allerdings ist die Seemannsversion. In der Festlandsvariante wird aus dem Händler ein Kerl aus Liverpool. Doch niemand muss das glauben – es ist nicht die Geschichte eines Missionars.

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Während ich mich noch gedanklich mit all diesem beschäftigte, war ich gefühlsmäßig schon längst auf die Abreise eingestellt. Ich musste einfach fahren. Glücklicherweise zählte zu meinem Bekanntenkreis ein Herr, der sieben Jahre lang an jener Küste gelebt hatte. Und wenn es auch nicht genau in der Gegend war, die ich aufsuchen wollte, so hatte sein Rat für mich doch größte Bedeutung, denn trotz des langen Aufenthalts am gefährlichsten Flecken der ganzen Region befand sich dieser Mann in guter Verfassung. Als ich ihm erzählte, dass ich nach Westafrika gehen wollte, meinte er: »Das beste ist, Sie machen diesen Entschluss rückgängig und fahren statt dessen nach Schottland. Wenn Sie aber so viel Verstand nicht aufbringen, dann setzen Sie sich nie der prallen Sonne aus. Nehmen Sie außerdem zwei Wochen lang jeden Tag vier Chinintabletten ein, bevor Sie die Flüsse erreichen, und besorgen Sie sich ein paar Empfehlungsschreiben für die Missionare der Methodisten. Das sind die einzigen Menschen an der Küste, die einem ein anständiges Begräbnis ausrichten.« Als nächstes beschäftigte ich mich damit, meine Reiseausrüstung zusammenzustellen. Da ich allen Ratschlägen gegenüber offen war, stellte sich bald völlige Konfusion ein. Meine Freunde und deren Freunde schienen unter der Wahnvorstellung zu leiden, ich beabsichtigte einen Dampfer zu chartern und sei eine reiche Frau ohne jeden Geiz. Mir blieb nur, dankbar zuzuhören, den Dingen aber ansonsten ihren Lauf zu lassen. Man überschüttete mich mit verschiedenen Chininvorsorgepackungen und anderen so genannten medizinischen Tröstungen, wie Senfblättern, einem Patentfilter, einer Wärmflasche. Zu guter Letzt beschenkte man mich sogar mit einer großen, viereckigen Flasche, die angeblich eine Mischung aus Malz und Dorschleberöl enthielt. Im Aufruhr gegen die afrikanischen Temperaturen sollte sie sich ihres Korkens entledigen und als wirkungsvoller, wenn auch nicht besonders wohlriechender Klebstoff entpuppen. Aber nicht nur die Dinge, die man mitnehmen muss, sondern auch ihre Behältnisse für den Transport stellen den jungen Reisenden vor eine Fülle von Problemen. Jeder meiner Ratgeber schwor auf eine ganz bestimmte Art von Gepäck, dessen unschätzba-


rer Wert für ihn feststand, und es braucht wohl nicht hinzugefügt zu werden, dass sich die empfohlenen Gepäckstücke sowohl in Form wie Material erheblich voneinander unterschieden. Bei all dieser Qual der Wahl war ich zu beschäftigt, um mir etwas Neues zu kaufen; abgesehen von einem langen wasserdichten Sack mit einem ordentlichen Verschluss und einem Tragegriff. Dort hinein packte ich Decken, Stiefel, Bücher und alles, was nicht in meinen Koffer oder meine schwarze Tasche passte. Anfänglich verfolgte mich die Vorstellung, dass der Boden des Sacks herausbrechen könnte.

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Ulrike Budde (Hg.), Mary Kingsley: Die grünen Mauern meiner Flüsse. Aufzeichnungen aus Westafrika. DTV, München 1992

Motiv: Martina Backes, Schaufenster eines Reisebüros / Freiburg 2004

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Zufallsprinzip

Katy Gardner

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»Weisst du, was?«, sagte ich. »Ich finde, wir sollten jetzt mal unsere Route ausarbeiten.« Ich stand auf und zog an meinen Fingern, dass die Knöchel knackten. »Lass mal das Buch rüberwachsen.« Gemma nahm den Lonely Planet aus ihrer Tasche und begann darinzu blättern. »Ich habe im Flugzeug etwas über Goa und Kerala gelesen«, sagte sie. »Muss toll sein.« »Komm, wir machen es anders. Wir befragen die Götter.« Ich hatte es mir, schon lange bevor feststand, dass Gemma mitkommen würde, vorgenommen. Ich wollte mich nach dem Zufall richten und wie ein richtiger Abenteurer gehen, wohin das Schicksal mich führte. »Die Seite, auf der das Buch landet, ist unser erstes Reiseziel.« Ich sah in ihr skeptisches Gesicht. »Na los, ist doch viel lustiger!« Ich nahm ihr das Buch aus der Hand, stellte mich feierlich in die Mitte des Zimmers und warf es hoch über meinen Kopf. Es flog durch die ventilatorgefächelte Luft, und mit den flatternden Seiten sausten unzählige Möglichkeiten vorbei. Im Zenit seiner Flugbahn verharrte es einen Augenblick, dann klatschte es auf den blanken Steinboden. Unser Schicksal war besiegelt. Ich hätte es verhindern können, ganz klar. Ich hätte das Buch auffangen, die Seiten selbst umblättern und alles ändern können. Aber ich wusste ja nicht, was auf uns zukommen würde, und ließ das Buch fallen. Es landete neben Gemmas Füßen. Die Seiten waren aufgespreizt und nach außen gebogen wie die Flügel eines zerquetschten Käfers. »Also – heb auf und schau nach!« Sie nahm es, legte es sich auf den Schoß und las mit angestrengt gerunzelter Stirn. Ich trat an ihr Bett.


Motiv: Martina Backes, Schaufenster eines Reisebüros / Freiburg 2004

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»Und, was steht da?« Sie blätterte seufzend um, sagte aber immer noch nichts. »Und? Wohin geht‘s?« »Das ist wirklich interessant…« »Jetzt gib schon, Gem!« »Nein, warte. Ich lese es dir vor. Bist du bereit?« Ich nickte ungeduldig. »Okay, also… Agun Mazir, Orissa. Die bekannteste Sehenswürdigkeit dieser wenig besuchten Stadt inmitten des Urwalds von Ost-Orissa ist der Schrein von Pir Saheb Nirulla, eines Sufi-Mystikers, der dort 1947 angeblich verbrannte…« Sie stockte, las einige Sekunden lang schweigend weiter. »Die Stadt ist seit vierzig Jahren ein wichtiger Wallfahrtsort… Also, das ist wirklich krass…« »Was steht denn da?« »Dieser Typ, dieser Pir-Saheb-Irgendwas, ging in Flammen auf, als er gerade meditierte oder betete oder was weiß ich, und seitdem pilgern die Leute zu seinem Schrein, weil sie glauben, dass er sie heilen oder ihnen einen Job verschaffen kann oder so was…« Ich wollte nicht länger zuhören und nahm Gemma das Buch aus der Hand. »Was soll das heißen, er ging in Flammen auf?« »Es war ein Wunder. Da, lies mal den Absatz hier unten. Er lebte als Einsiedler im Dschungel und ist einfach so, ganz von selbst verbrannt.« »Die Wahrheit hinter dem Mythos«, las ich vor, »ist unter indischen Historikern heftig umstritten… Während die Verehrer des Schreins darauf beharren, dass sich Pir Saheb Vo r d e r R e i s e


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Nirullas Verbrennung auf übernatürliche Weise vollzog, klingen andere Erklärungen nüchterner und grausamer. So werden als wahrer Grund für die Verbrennung die Teilung Indiens und die Gewalttätigkeiten zwischen Hindus und Moslems angeführt.« Gemma sah mich erschrocken an. »Mann, o Mann!« »Tja, das ist jedenfalls unser erstes Ziel. Klingt aufregend.« Wir schwiegen. So wie Gemma dreinsah, erwartete ich jeden Augenblick einen Einwand. »Gibt es denn da was zum Übernachten?«, fragte sie leise. »Warte mal…« Ich überflog die Seite auf der Suche nach entsprechenden Informationen. »Das einzige Hotel am Ort beherbergt ausschließlich Pilger, die aus ganz Indien kommen, um den Schrein zu besichtigen… Außerdem gibt es einen Touristen-Bungalow, den man auf einem Pfad durch das Urwaldgebiet nördlich der Stadt erreicht. Preis… vierzig Rupien… Einzelbetten, Klimaanlage… Blabla… Klingt gut. Das machen wir.« Ich legte das Buch weg und stand auf. Über die Art unserer Routenplanung hätte ich Gemma natürlich schon vor unserer Abreise aus Stevenage unterrichten sollen, aber das hatte ich in der Hektik – Visa beschaffen, Impfungen erledigen, packen – einfach vergessen. Ich musterte sie und spürte, dass sie immer noch nicht restlos überzeugt war. »Wie kommt man da hin?« »Mit dem Zug nach Kalkutta, umsteigen, weiter nach Orissa und dann mit dem Bus. Na, komm schon, Gem, das wird total gut. Es liegt offenbar völlig abseits der Touristenrouten, und wir wollen doch gerade nicht zu den üblichen Orten, die jeder besichtigt! Nach Goa können wir hinterher fahren.« Gemma blieb skeptisch, aber das Ganze war bereits ein so fester Bestandteil meiner Reiseplanung geworden, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen war, sie könnte etwas anderes wollen als ich. »Wir müssen ja nicht immer nach dem Buch gehen«, erklärte ich geduldig. »Aber jetzt haben wir es nun mal getan, und ich finde, dann sollten wir es auch befolgen und hinfahren. Vielleicht hat es seinen Grund, dass es genau auf dieser Seite liegen geblieben ist.« »Seinen Grund?« »Na, du weißt schon – Schicksal.« Sie starrte mich an. Sie war verschwitzt und wirkte unglücklich. So sah sie oft in Clubs und bei Partys aus, wenn sie eigentlich ihren Spaß haben sollte. Manchmal be-


Motiv: Martina Backes, Freiburg 2004

obachtete ich, wie sie lustlos in einer Ecke tanzte und plötzlich, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, einen Moment lang auf ihre Füße starrte und die Mund winkel hängen ließ, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Sie schwieg. Überlegte es sich offenbar noch einmal. Schließlich strich sie sich die Haare aus den Augen, schüttelte den Kopf und lachte. »Du hast gewonnen. Wir fahren hin.«

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Katy Gardner, Die fremde Freundin. Droemer Verlag. München 2002 Vo r d e r R e i s e

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Motiv: FernWeh – Ausstellungstafel »Beyond Paradise«

being there

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unterwegs in der travel bubble

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____ »Am Anfang war der Mythos dieser Orte, aus Literatur, Filmen und Musik …

Ich habe alles, was ich mir ausgemalt habe,

auch gefunden. Das war eine aufregende Erfahrung: Es war in meinem Kopf und jetzt ist es da.«

Jim Jarmusch

travel bubble


Reisebilder & Fernwehgeschichten: ? Vor der Reise. Traumbilder im Fokus ?

Being

there. Unterwegs in der Travel Bubble ? Exotik extrem – Dark tourism. Einzoomen & Aus?

blenden tet

?

How much? Begegnung neu belich-

entdecken – erobern – erholen. (Post-)

koloniale Reisebilder

? Tourismus & Migration.

Per forming the Border ? Retouchier te

ISB N 3- 9 2 2 2 6 3 - 2 3 - 2 E U R 15 ,– / SF R 2 5 ,–

FernWeh w w w.iz 3 w.or g

und: Nach der Reise .

Idyl le, archivier te

Er innerungen

?


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