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Reloaded – Internationaler Dokumentarfilm
iz3w t informationszentrum 3. welt
Außerdem: t Kritisches zum Dalai Lama t Management der Migration t Heimatkunst in Kreuzberg t Betrachtungen zur documenta …
Sept. / Okt. 2007 Ausgabe q 302 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80
In dieser Ausgabe
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Titelbild: photocase.de
Schwerpunkt: Dokumentarfilm t
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Abschied von der Realität Notizen zur Rezeption von Dokumentarfilmen von Volker Kull
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Filmschaffende am Round-Table Ein Gespräch über die Grenzen des Darstellbaren
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Tschetschenien: Putin im Kleinformat t
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Nicht nur Chronik des Geschehens
Das Dokumentarische, das Filmische und die Menschenrechte Zur ethischen Relevanz des Dokumentarfilms von Georg Seeßlen
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Migration: Ungleiche Partner
»Die Neugier kommt vor der Moral« Interview mit Filmemacher Michael Glawogger
Migrationsmanagement in der Europäischen Nachbarschaftspolitik von Christian Banse, Doreen Müller und Holk Stobbe t
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Religionskritik: Zorniger Raddreher
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Dokumentation des Undenkbaren
Filme über Kindersoldatinnen und den Genozid in Ruanda von Martina Backes
Der Dalai Lama ist kein Friedensfürst von Victoria und Victor Trimondi t
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Afghanistan: Legalize it! Die Probleme Afghanistans lassen sich nur mit der Opiumlandwirtschaft lösen von Lorenz Matzat
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Politischer Dokumentarfilm zu Lateinamerika von Jonas Henze
Präsident Kadyrow auf autoritärem Kurs von Ute Weinmann t
»Keine Probleme mehr am Abend« Interview mit dem Filmemacher Peter Ohlendorf über den Verlust filmischer Freiheit
Politik und Ökonomie t
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Editorial
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Die Ehre der Wirklichkeit Wann ist das Dokumentarische wahr, wann ist es politisch, wann ist es Kunst? von Hito Steyerl
Internationalismus: Solidarische Sammelwut Das Afrika-Archiv des iz3w in Basel von Simon Lutz und Dag Henrichsen
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Deutscher Kolonialismus: Vom »Kind-Neger« zum »schwarzen Wüstling« Deutsche Imaginationen von AfrikanerInnen vor 1920 von Frank Oliver Sobich
Kultur und Debatte
Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier.
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Kunst: 100 Tage Räume für Kunst Betrachtungen zur »documenta 12« von Winfried Rust
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kurz belichtet
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Rezensionen
Kreuzberg: Hypen und Bashen
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Szene / Tagungen
Neue deutsche Heimatkunst im Jahre 2007 von Tilman Vogt
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Impressum
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Editorial
Beim Chinesen D
ie Westfälischen Nachrichten waren nicht die einzige Tageszeitung, die mitten im Sommerloch Alarm schlug: »Jetzt spitzt sich die Lage für den Verbraucher zu: Mit der enormen Nachfrage nach Trockenmilch in China und Indien werden in den deutschen Kühltheken Käse, Joghurt, Butter und sogar frische Milch teurer, teilweise sogar knapp. Erste Handelsketten beklagen, dass sie nicht mehr alle Waren bekommen – kein Wunder, dass diese Art der Globalisierung den deutschen Konsumenten Angst macht.« Sich fürchten müssen auch die deutschen BiertrinkerInnen. Die WELT meldete: »Der wachsende Durst der Chinesen auf Bier treibt weltweit die Kosten für Hopfen in die Höhe. Die Preise für die Bierzutat hätten sich allein im vergangenen Jahr verdreifacht, erklärte der deutsche Branchenführer im Hopfenhandel, Joh.Barth & Sohn, in München bei der Vorlage seines internationalen Hopfenberichts.« Gier auf Bier – jetzt auch beim Chinesen? Endgültig keinen Spaß mehr verstehen die Deutschen bei ihrem Lieblingsthema. »Gerade erst wurde bekannt, dass in China 2006 erstmals mehr Autos von den Bändern liefen als in Deutschland«, schreckte der Münchner Merkur seine LeserInnen in der Sommerfrische auf. Das lässt man sich im Lande von Audi und BMW nicht bieten, und so warnte der Merkur die Deutschen unter der Überschrift »Die gelbe Gefahr« eindringlich vor den Erzeugnissen der chinesischen Automobilindustrie. Natürlich nur wegen deren Sicherheitsmängeln, versteht sich. Ausruhen dürften die deutschen Hersteller sich aber nicht auf ihrem technologischen Vorsprung, weiß ADAC-Experte Volker Sandner: »Die Chinesen sind sehr schnell. Und wer weiß, ob sie nicht plötzlich etwas aus dem Hut zaubern.« Stimmt, für Überraschungen sind »die Chinesen« immer gut. Etwa für die unglaubliche Fülle an Rekorden al-
ler Art, die in jüngster Zeit von der deutschen Presse vermeldet wurden. Ob bei der Zahl der TV-, Handy- und InternetnutzerInnen, beim Handelsüberschuss oder beim Wirtschaftswachstum – der »globale Gigant« (Deutschlandradio) überbietet mühelos alle westlichen Staaten. Da mag selbst die Tierwelt nicht mehr zurückstehen: »China meldet einen Geburtenrekord bei den heimischen Pandabären, die eigentlich als wahre Sex-Muffel gelten«, staunte der Focus. Ob da Doping im Spiel war? Doch ein Jahr, bevor bei den Olympischen Spielen mit oder ohne Doping weitere Rekorde aufgestellt werden, ist in den Medien vor allem von anderen Höchstleistungen die Rede: »China hält Rekord an inhaftierten Journalisten« oder: »Hinrichtungen – China stellt grausamen Rekord auf«.
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eine Frage, in China herrscht ein autoritäres System, das die schlechten Seiten von Staatsozialismus und Kapitalismus zu vereinen weiß. Doch das Bild, das in diesem Sommer von »den Chinesen« gemalt wird, hat mit einer radikalen Kritik der Verhältnisse in China auch nicht mehr zu tun als die einstige Begeisterung deutscher Linker für Mao und dessen Bibel. Für eine solche Kritik müssten ja unter anderem die »wirtschaftlichen Beziehungen« zu China hinterfragt werden – sprich das Recht deutscher Unternehmen, in China zu Billiglöhnen produzieren zu lassen. Wie das rassistische Bild von der »gelben Gefahr« in der Kolonialzeit entstanden ist und wie es in Deutschland besonders nach dem »Boxeraufstand« von 1900 Konjunktur hatte, wird in einer der nächsten iz3w -Ausgaben zum Thema. Verspricht die redaktion
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Seit Anfang des Jahres läuft sie schon, unsere 1+1 AboKampagne. Ehrgeizige Ziele haben wir uns gesteckt, einiges haben wir erreicht. Im Laufe eines Jahres wollen – nein, müssen – wir alle unsere AbonnentInnen dazu ermuntern,
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eineN NeuabonnentIn zu werben und so dafür zu sorgen, dass weiterhin Milch und Kaffee in unseren Redaktionsräumen fließen. Selbstverständlich lassen wir uns durch diese anspruchsvolle Zielsetzung nicht davon abhalten, auch Etappen-Siege zu feiern. Deshalb sind uns die 230 NeuabonnentInnen Anlass genug, einen Sektkorken knallen zu lassen (Piccolo). Ganz herzlich möchten wir uns an dieser Stelle auch bei allen bedanken, die unsere Kampagne zu kleineren und größeren Spenden angeregt hat! Trotz Erfolgsmeldungen und einwandfrei skalierter, handgemalter Anfeuerungs-Statistik bleibt Ihnen und uns das ABER leider nicht erspart: Es reicht noch nicht! Nach wie vor lautet die Lösung unserer existenziellen Krise 1+1! Siehe Seite 41. Deshalb, liebe Leserinnen und Leser: LASST UNS NICHT IM REGEN STEHEN ...
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Ts c h e t s c h e n i e n
Putin im Kleinformat Präsident Kadyrow bringt Tschetschenien auf autoritären Kurs von U t e We i n m a n n
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t Mit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten, Ramsan Kadyrow, im März ist der Weg der zu Russland gehörenden Kaukasusrepublik Tschetschenien für die kommenden Jahre vorgezeichnet. Der erst dreißigjährige Kadyrow wird allgemein als Garant für ein prosperierendes Tschetschenien gehandelt. Er kann sich der Unterstützung aus Moskau sicher sein, und selbst der im Londoner Exil lebende Auslandsemissär der separatistischen Parallelregierung, Achmed Zakajew, billigte Kadyrows Ernennung zum Republikoberhaupt. Tschetschenien kontrollierte er de facto ohnehin bereits längst vor Beginn seiner politischen Karriere mit Hilfe der ihm unterstehenden bewaffneten Sondereinheiten. Kadyrow setzt derzeit ganz auf Loyalität gegenüber dem Kreml. Schon vor seiner Amtseinsetzung gab er zu verstehen, dass er auf die volle staatliche Souveränität Tschetscheniens verzichten werde. Im Unterschied zu seinen Vorgängern werde er keine vertragliche Abgrenzung staatlicher Vollmachten zwischen der tschetschenischen Republik und dem föderalen russischen Zentrum fordern. Er strebe sogar an, die entsprechende Passage aus der tschetschenischen Fassung zu entfernen. Der russische Föderationsrat schmetterte allerdings im Februar den ersten vom russischen Präsidenten Wladimir Putin eingebrachten und von der Duma bewilligten Vertragsentwurf für gesonderte staatliche Vollmachten der Republik Tatarstan ab. Kadyrows Absage an zuvor durch Moskau verbal stets zugesicherte Sonderrechte wie die alleinige Verfügungsgewalt über Rohstoffvorkommen und wirtschaftliche Vergünstigungen kommt so zum einen eine hohe Symbolkraft zu, andererseits hat er ein Gespür dafür, wie weit er derzeit gehen kann, ohne die Beziehungen zu Moskau zu strapazieren. Gleichzeitig zu den russischen Dumawahlen Anfang Dezember soll in Tschetschenien ein Verfassungsreferendum stattfinden. Notwendig wurde es, weil die tschetschenische Verfassung an die russische angeglichen werden soll und weil der neue tschetschenische Präsident die von ihm vorgesehenen Änderungen absegnen lassen will. Die Bevölkerung darf dann unter anderem über einen Passus abstimmen, der ihr eine Herrschaft Kadyrows auf Lebzeiten bescheren könnte. Denn dieser Passus enthält nicht nur die Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten auf fünf Jahre, sondern auch die Abschaffung der
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bislang in der russischen Verfassung geltenGerade die vormals auf Seiten der Separatisden Beschränkung der Amtsausübung auf tInnen kämpfenden tschetschenischen Einzwei Wahlperioden. So Kadyrow will, kann er heiten gehen bei der Suche nach tatsächgemäß der neuen Regelung beliebig oft seilichen oder vermeintlichen GegnerInnen ne Kandidatur anbieten. Eine weitere ÄndeMoskaus besonders brutal vor. Folter gehört rung der Verfassung sieht vor, dass das Repuin der »sichersten Region der Russischen Föblikoberhaupt auf Vorschlag des russischen deration« (so Kadyrow vor seinem AmtsanPräsidenten ohnehin nur noch vom Parlatritt) weiterhin zum Alltagsrepertoire der ment bestätigt werden muss. Sicherheitskräfte. Wie im Fall von Minkail AkDen separatistischen Bestrebungen der bulatow. Angehörige eines der Sicherheitsmipolitischen Führung in der vormals als widernisterien – vermutlich des tschetschenischen spenstig geltenden Kaukasusrepublik wird Innenministeriums – verschleppten den Mausomit formal ein Ende bereitet. Was als rer im Juli in Schatoj. Sie versuchten mit Schwäche Kadyrows ausgelegt werden könnElektroschocks, Schlägen und Halswürgen, te, trifft jedoch zumindest bei einem Teil der von ihm ein Geständnis zu erpressen, wobislang gegen Moskau eingestellten tschetnach er angeblich Bojewiki Schutz für die schenischen Elite auf Zustimmung, wie ZakaNacht gewährt habe. Dabei hielt er sich zum jews Unterstützung zeigt. Pragmatisch befraglichen Zeitpunkt gar nicht am besagten trachtet, verfügen die SeparatisOrt auf. Halbtot kehrte AktInnen derzeit aufgrund jahrelanbulatow zu seiner Familie Tschetschenien ger Niederlagen nur über die zurück, weigert sich jeweist die höchste Mittel für einen lokal begrenzten doch Anzeige zu erstatten. und aussichtslosen PartisanenAusländische InvestoErwerbslosenrate in krieg in den schwer zugänglichen ren stört die miserable ganz Russland auf Bergregionen. Kadyrow setzt damenschenrechtliche Situgegen auf die Vereinigung bisation nicht. Tschetschelang zerstrittener tschetschenischer Clans. niens auf Gewaltherrschaft basierende StabiNur er scheint aufgrund seiner starken Posilität und die bislang fehlende Konkurrenz tion über solche integrativen Fähigkeiten zu üben auf sie Anziehungskraft aus. Anfang verfügen. In ein paar Jahren könnten die KarJuli besuchten deutsche Vertreter des Unterten um den Status Tschetscheniens durchaus nehmens Hebezeugwerk Suhl GmbH und der in neuer Konstellation gemischt werden – mit V&G GmbH auf Initiative der tschetschenidem Hoffnungsträger Kadyrow an der Spitze. schen Industrie- und Handelskammer die Doch nicht alle SeparatistInnen wollen Republik. Im Gespräch sind Betriebe zur Hersich auf einen unbestimmten Zeitraum verstellung von Hebekränen und Bauwerkzeugen trösten lassen. Im Sommer intensivieren die und der Aufbau eines Vertriebssystems für Bojewiki genannten separatistischen Kämpferdeutsche Waren im Nordkaukasus. Dabei Innen traditionsgemäß ihre Aktivitäten. Es würden bis zu 500 Arbeitsplätze geschaffen. kommt in den Bergregionen im Süden der Tschetschenien weist die höchste ErwerbsRepublik regelmäßig zu bewaffneten Auseinlosenrate in ganz Russland auf. Die Bereitandersetzungen zwischen den föderalen schaft, haarsträubende Arbeitsbedingungen russisch-tschetschenischen Truppen und kleizu akzeptieren, ist daher groß. Nur selten nen Kampfeinheiten, welche dem Warlord wird dagegen protestiert: Bauarbeiter in und selbsternannten »Präsidenten Itschkerias« Grosny blockierten aufgrund eines dreimoDoku Umarow nahe stehen, der die territorinatigen Lohnzahlungsrückstandes im Juni die ale Unabhängigkeit von Russland anstrebt. Straße zwischen Rostow und Baku. Im zweiTodesopfer und Verletzte gibt es auf beiden ten Anlauf konnten sie sich zwar durchsetzen, Seiten. Nach wie vor sind in Tschetschenien wurden aber mit lächerlichen Summen abgeinsgesamt über 60.000 Angehörige der födespeist. Der von Kadyrow versprochene ökoralen Streitkräfte stationiert. Unter diese Zahl nomische Aufschwung lässt auf sich warten. fallen beispielsweise rund 17.000 tschetschenische Milizionäre und das dem russischen Verteidigungsministerium unterstehende und für sein rücksichtsloses Vorgehen bet Ute Weinmann ist freie Journalistin in rüchtigte Batallion Vostok des ehemaligen Moskau. Warlords Sulim Jamadajew.
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Legalize it! Die Probleme Afghanistans lassen sich nur mit der Opiumlandwirtschaft lösen von L o r e n z M a t z a t t Es ist die Ironie der Geschichte: AusgerechKarzai zuzustimmen, nicht zuletzt mit VerOpium, aus dem derzeit über 90 Prozent des net unter den Taliban war der Opiumanbau in weis auf die umstrittenen Folgen der Gifte für weltweit illegal gehandelten Heroins entsteht, Afghanistan fast zum Erliegen gekommen. Im Menschen, Nutztiere und andere Pflanzen, soll zur Herstellung von Schmerzmitteln wie Sommer 2000, sehr daran interessiert, ihr wie sie sich bei der Bekämpfung des KokaanMorphium, Thebaine und Codein genutzt internationales Ansehen aufzupolieren, verbaus in den Andenstaaten zeigen. Zudem werden. Denn das verteufelte Opium ist in boten die Taliban den Opiumanbau. Die Bäutreibt die Vernichtung von Mohnfeldern und der Medizin unverzichtbar. Anbauflächen, die erInnen gehorchten ihnen, nicht zuletzt aus Verhaftung von Opiumbauern immer mehr einer Ernte von 5.000 Tonnen Rohopium entAngst vor drakonischen Strafen. Pino Arlacchi, AfghanInnen in die Reihen der militanten sprechen, finden sich unter anderem in Frankzu dieser Zeit Chef der UNO-DrogenkontrolAufständischen. reich, Indien und der Türkei. Dort wird unter le, hatte der Führung der Gotteskrieger großDie deutsche Gesellschaft für Technische Lizenz der UNO Schlafmohn für die HerstelZusammenarbeit (GTZ) versucht seit Jahren im spurig für die kommenden zehn Jahre insgelung von Schmerzmitteln angebaut. Allein auf westlichen Teil Afghanistans mit alternativen samt 250 Millionen US-Dollar in Aussicht geder australischen Insel Tasmanien wächst Entwicklungsprojekten den stellt, damit sie den Opiumbann durchsetzen streng bewacht eine Ernte Bäuerinnen und Bauern eiund die BäuerInnen entschädigen. Doch er Das verteufelte Opium von über tausend Tonnen. nen Weg aus der Drogenkonnte kein Geld auftreiben, im Herbst 2000 Am längsten und lautesist in der Medizin ökonomie zu zeigen. Beverschlechterte sich zunehmend die Stimten rührt die internationale scheidene Erfolge werden mung gegenüber dem Taliban-Regime. ArNGO Senlis Council mit Machunverzichtbar barkeitsstudien die Trommel mit dem Anbau von Rosen lacchi ließ unvermittelt die Landesvertretung dafür, OpiumbäuerInnen eiund Sonnenblumen, aus seiner Organisation schließen. Die Taliban ne legale Perspektive zu geben, indem Afghadenen Öl gewonnen wird, sowie Fischzucht waren verärgert, konnten aber durch den nistan eine Lizenz zum Opiumanbau für megemacht. Mittlerweile setzt die GTZ, die soBann die vorhandenen großen Vorräte an dizinische Zwecke erhält. Mehr und mehr Powohl in Südostasien als auch den AndenstaaRohopium, das sich einfach über Jahre lagern litikerInnen im Westen scheinen sich diesem ten das Konzept »alternativer Entwicklung« lässt, abbauen. Ansinnen anzuschließen – in Italien, Kanada, (AE) stark geprägt hat, auf eine Strategie von Sieben Jahre später, im Frühsommer 2007, Großbritannien und auch Deutschland wird »Alternative Livelihoods« (Existenzgrundlaist allen Anzeichen nach die Rekordprodukdarüber eine Diskussion eingefordert. Die gen). Feldervernichtung sei der falsche Weg, tion von 6.000 Tonnen Opium im Jahr 2006 UNO-Drogenbehörden, allen voran der Intererst müssten verlässliche Verwaltungs- und übertroffen worden. Der Bericht des UNOnationale Suchtstoffkontrollrat (INCB) sowie Wirtschaftsstrukturen eingerichtet werden. Büros für Drogen und Kriminalität (UNODC) die US-Regierung sträuben sich: zum einen sei Dann könnten die BäuerInnen Vertrauen fassteht zwar noch aus. Aber es ist bekannt, dass der Schmerzmittel-Weltmarkt gedeckt, zum sen und sich aus der Drogenökonomie lösen, vor allem im Süden Afghanistans – den »aufanderen könne die afghanische Regierung in der sie neben der Strafverfolgung vor allem ständischen« Provinzen – der Mohnanbau zunicht gewährleisten, dass lizenziertes Opium auch einem hohen Verschuldungsrisiko ausgenommen hat. Keine Frage, die Gelder aus nicht auf den Schwarzmarkt gelange. gesetzt seien. Denn sie müssten Kredite für der Drogenökonomie finanzieren die Waffen Doch es ist umstritten, ob weltweit nicht den Kauf von Saatgut der diversen Warlords, Taliwesentlich mehr Opiate in den Krankenhäuund Pacht für Opiumfelban und der anderen GrupDer »War on Drugs« ist sern gebraucht werden. Vor allem die armen der aufnehmen. pen, die gegen die NatoLänder können sich derzeit die teuren OpiatDie GTZ will das Truppen und die Regierung Teil des »War on Terror« Präparate der Pharmaindustrie aus dem NorKonzept der »Alternain Kabul kämpfen. geworden den nicht leisten. Gar absurd ist das Argutive Livelihoods« als ein Das Einkommen aus Opiment, dass in Afghanistan, dessen gesamte Paradigma der Entwickumanbau und -handel stellt Opiumernte bislang auf den Schwarzmarkt lungsstrategie für Afghanistan etablieren. laut UNO über 45 Prozent des Bruttoinlandgelangt, lizenziertes Opium für die HerstelDoch standen alle Konzepte von AE für Droprodukts Afghanistans. Knapp drei Millionen lung illegalisierter Drogen verwendet werden genanbaugebiete, sei es in Burma oder KoAfghanInnen seien in die Opiumlandwirtkönnte. lumbien, immer auch im Zusammenhang schaft involviert, das sind 13 Prozent der BeIn der Logik des »War on Drugs«, der seit mit polizeilichem und militärischem Vorgevölkerung. Zwar wurden nach offiziellen Andem 11. September 2001 Teil des »War on hen: Wenn das Zuckerbrot der AE nicht gaben rund zehn Prozent der Mohnfelder Terror« geworden ist, kann aus einer »bösen schnell genug wirkte, wurde von den Regiedurch Regierungs- und Nato-Truppen verDrogenpflanze« keine Heilpflanze werden. rungen die Peitsche der Strafverfolgung und nichtet. Doch sind diese Zahlen aufgrund der Dabei wäre es historisch allemal gerecht, dass Feldervernichtung hervorgeholt. Insofern Korruption auf allen Verwaltungsebenen ein traditionelles Opiumanbauland wie Afwirkt es wirklichkeitsfremd, wenn die GTZ zweifelhaft. Mehrere Minister der Regierung ghanistan am lukrativen Medizin-Opiumweltannimmt, sie habe in einem Land wie AfghaKarzai stehen unter Verdacht, Drogenbarone markt teilhat. nistan, in dem teilweise eine offene Kriegszu sein, ebenso ein Bruder des Präsidenten. situation herrscht, ungestört jahrelang Zeit, Gleichzeitig drängen die USA vehement AE zu etablieren. darauf, endlich mit Pflanzengift, das mit t Lorenz Matzat ist freier Journalist in Im Trend, aber ebenfalls umstritten ist derFlugzeugen ausgebracht wird, gegen die Berlin. zeit ein anderes Konzept: Das afghanische Mohnfelder vorzugehen. Noch weigert sich
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in Frie e k t is a m a L i er Dala
Als der XIV. Dalai Lama im Juli Hamburg und Freiburg besuchte, rief das in der deutschen Bevölkerung große Begeisterung hervor. Warum eigentlich? Der tibetische Buddhismus war von Beginn an durch Kriege, Mord, Folterungen und soziale Unterdrückung bestimmt. Und er zeichnet sich durch eine apokalyptische Doktrin des Religionskrieges aus. Dem Dalai Lama und seinen SympathisantInnen ist es jedoch gelungen, dies zu beschönigen.
von V i c t o r i a und V i c t o r Tr i m o n d i
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t »Der Buddhismus sagt, dass man ein friedfertiges Leben führen soll – Gewalt wird abgelehnt. Kreuzzüge im Namen des Buddhismus gab es nicht. Erstaunlich ist, dass gerade der tibetische Buddhismus als so friedfertig gilt. Die tibetische Geschichte war nicht friedfertig. Es gab viel Gewalt und immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen, bei denen es um Macht und Einfluss ging und die Religion gerne vorgeschoben wurde – das war gar nicht anders als in anderen Ländern auch.« Mit diesen Worten stellt sich der Münchener Tibetologe Volker Caumanns gegen das gängige Bild vom tibetischen Buddhismus. Tatsächlich herrschten in der alten tibetischen Buddhokratie schon lange vor dem Einmarsch der chinesischen Besatzungsmacht inhumane soziale Zustände. Viele westliche BesucherInnen berichten, dass auf dem »Dach der Welt« bis zum Jahr 1959, als der Dalai Lama aus Tibet flüchtete, diktatorische Entscheidungen, Beamtenwillkür, paranoider Dämonen- und Geisterglaube ebenso an der Tagesordnung waren wie bitterste Armut und exzessiver Reichtum, Sklaverei und Leibeigenschaft.
Ein Tantra als Kriegsritual t Nicht nur in seiner konkreten Geschichte, sondern auch in seiner Mythologie, seiner religiösen Doktrin und im Ritualwesen ist der tibetische Buddhismus aggressiv. Seine AnhängerInnen beten schauerlich aussehende Kriegsgötter und kriegerische Herukas (Buddhas) an. Sie beschwören Schutzdämonen,
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densfürst
welche die Feinde der buddhistischen Lehre vernichten. Nationale Kriegshelden wie Gesar von Ling werden in Epen besungen. Unter den Texten dieses militanten Buddhismus fällt besonders das so genannte Kalachakra-Tantra und die darin enthaltene Prophezeiung des Shambhala-Krieges ins Auge. Der im 10. Jh. n. Chr. verfasste Text gilt den TibeterInnen als »der Gipfel aller buddhistischen Systeme«. Seit fast einem halben Jahrhundert praktiziert der XIV. Dalai Lama weltweit das Kalachakra-TantraRitual, in das schon Hunderttausende InitiantInnen eingeweiht wurden. Die Prophezeiungen dieses Tantra-Textes unterscheiden sich strukturell nicht von der christlichen Apokalypse und dem daraus abgeleiteten aggressiven Messianismus vieler Millionen christlicher FundamentalistInnen in den USA. Mit der Ausnahme, dass es hier nicht ChristInnen, sondern BuddhistInnen sind, die auf Seiten des »Guten« als »Shambhala-Krieger« gegen die »Achse des Bösen« (die Andersgläubigen) in einem angekündigten totalen Vernichtungskrieg antreten werden. Ebenso wie in der christlichen Apokalyptik wird in der buddhistischen Variante die Errichtung einer rechtgläubigen Weltenherrschaft (hier einer »Buddhokratie«) angekündigt, unter der andere Glaubensrichtungen nicht geduldet sind. Die Rolle des militanten Christus, der nach der Vorstellung evangelikaler Sekten als Endzeiträcher alle Ungläubigen ausrottet, nimmt im Kalachakra-Tantra der Shambhala-König Rudra Chakrin (»Zorniger Raddreher«) ein. Die TeilnehmerInnen an einer vom Dalai Lama durchgeführten Kalachakra-EinFotos: iz3w-Archiv
r e h e r d d a R r e Zornig
Religionskritik weihung erhalten das zweifelhafte Privileg, als »Shambhala-Krieger« in »der letzten Schlacht gegen die Mächte der Finsternis« reinkarnieren zu dürfen. Sie werden dann in dem prophezeiten Weltkrieg als »Soldaten Buddhas« gegen die »Feinde der Lehre« kämpfen. Nach einer Vision des Lamas Kamtrul Rinpoche ist es der Dalai Lama selber, der als reinkarnierter Shambhala-König Rudra Chakrin die buddhistische Endzeitarmee anführt.
die chinesische Okkupation bewundert. Aber ich muss sagen, ich war enttäuscht, als ich mir seinen Kommentar zum Irakkrieg angesehen habe, denn das ist eine so offensichtliche und klare moralische Angelegenheit, bei der massive Gewalt gegen die Iraker ausgeübt wurde, was Tausende von Toten zur Folge hatte.«. Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte ironisch das Verhalten des Tibeters als die Taktik »eines Interessenpolitikers, der weiß, wer ihm die Butter aufs Brot streicht«. Das bestätigte auch der Journalist Adrian Zupp, der im Boston Phoenix feststellte: Im Kampf gegen Allah ... »Wenn immer er auf dieses Thema [den Irakt Angesichts der aktuellen Weltlage, in der krieg] zu sprechen kommt, geschieht das ein aggressiver Westen einem extrem militaninnerhalb der Vorgaben der US-Antwort.« ten Islam gegenübersteht, ist das KalachaFür die Nähe zu den USA gibt es historische ... und für den US-Krieg kra-Tantra nicht nur deswegen gefährlich, Gründe: Schon vor 1959 kooperierte der t Ausgehend von der Islamfeindlichkeit des weil es den allgemeinen apokalyptischen »Gottkönig« mit der CIA, die ihm die Flucht Kalachakra-Tantras ist es interessant zu erfahWahn fördert, sondern weil es einen konkrenach Indien ermöglichte. Später stand er ren, wie sich der heutige Religionsführer im ten »Heiligen Krieg« zwischen Buddhisten jahrelang auf der payroll der CIA und unterstützte die von ihr ausgebildete tibetische Konflikt zwischen dem Westen und dem miliund Moslems prophezeit und anheizt. Als Guerilla. tanten Islam positioniert. Es gibt zwar in der Gegner des Buddhismus werden darin die Heute, nachdem der Irakkrieg verloren letzten Zeit im Gegensatz zu früher islamwichtigsten Repräsentanten aller drei monoscheint, sieht das wieder etwas anders aus. freundliche Sprüche des Dalai Lama, auffaltheistischen Religionen genannt: Adam, Der tibetische Religionsführer wird von den lend ist aber, dass er sich zu den aktuellen Noah, Abraham, Moses, Jesus, Mani, MoMedien als entschiedener Gegner der USKonflikten in Afghanistan und Irak nichtssahammed und der Mahdi, die allesamt (wie Intervention präsentiert. So schreibt Die Zeit, gend oder ausweichend geäußert hat. Er ließ es heißt) der »Familie der dämonischen vergebens habe der Dalai Lama den amerikasogar Bemerkungen fallen, die selbst seine Schlangen« angehören. nischen Präsidenten nach dem 11. SeptemAnhängerInnen irritierten. Der AfghanistanDoch kämpfen am Ende der Zeiten die ber gewarnt, dass Krieg, so der »Gottkönig«, Buddhisten allein gegen die Muslime, die im Gewalt immer nur habe nicht nur »eine Art von Text als mleccha bezeichnet werden. Die Das Kalachakra-Tantra Christen und Juden sind offensichtlich schon Gegengewalt herBefreiung gebracht«, sonverschwunden. Diese Vision von einer letzten dern die Bombardements heizt einen »Heiligen Krieg« vorrufe. Doch er beSchlacht mit dem Islam hat historische Wurkenne: »I still love der Amerikaner müssten gegen Muslime an zeln. Als das Kalachakra-Tantra vor rund President Bush.« wegen ihrer Treffsicherheit 1.000 Jahren verfasst wurde, waren die Alle Schulrichtunauch als humanitärer Fortbuddhistischen Kulturen Indiens und Zentralgen des Buddhismus, nicht nur der Lamaschritt angesehen werden. Angesichts des ismus, haben »Leichen im Keller« und weisen asiens von den islamischen Armeen schon weltweit verurteilten Einsatzes von StreubomKriegsideologien sowie eine blutige Geüberrannt. Zu Tausenden flüchteten die ben in diesem Krieg ist eine solche Einschätschichte auf. Darin unterscheidet sich der Mönche nach Nepal und Tibet. Da die Muszung aus dem Munde eines »lebenden BuddBuddhismus nicht von anderen Religionen. lime das Lehrgebäude Buddhas nicht als eine has« und Friedensnobelpreisträgers zynisch. Das Kalachakra-Tantra mit seiner aggressiven, »Religion des Buches« anerkannten und die Andere Statements von ihm zur Terrorbeintoleranten und apokalyptischen Weltsicht Buddhisten zu den »Götzenanbetern« zählkämpfung und zum Irakkrieg waren jedenverstößt jedoch in besonderem Maße gegen ten, standen diese nach einer Aussage des falls so vieldeutig, dass sie die Journalistin wichtige Grundaussagen des historischen Korans vor der Alternative, Laurie Goodstein dazu Buddhas, die jegliche Legitimation des Töentweder zu konvertieren veranlassten, in der New In der alten tibetischen tens und des Krieges verbot (ahimsa-Prinzip). York Times einen Artikel oder getötet zu werden. Seit dieser Zeit der VerBuddhokratie herrschten mit dem Titel »Der Dalai Es ist deswegen grotesk, dass gerade der Dalai Lama als der unermüdliche PropaganLama sagt, der Terror verfolgung sitzt das buddhistiinhumane Zustände dist dieses fundamentalistischen Rituals von lange eine gewaltsame sche Misstrauen gegenüber den westlichen Medien zu einer leuchtenden Antwort« zu veröffentdem Islam »so tief, wie für Ikone der Toleranz und des Friedens stilisiert lichen. Das wurde später von einem exiltibeMuslime das Trauma der Kreuzzüge«, wird. tischen Beamten dementiert. Ob ein Missverschreibt Klemens Ludwig, Leiter der deutständnis oder nicht, feststeht, dass sich der tischen Tibetinitiative. Historisch gesehen ist betische Religionsführer in der Irak-Frage auf das Kalachakra-Tantra deswegen eine in die t Victor und Victoria Trimondi sind freie keinen Fall auf eine klare und engagierte FrieZukunft projizierte Revanche der Buddhisten Schriftsteller, Kulturwissenschaftler und Relidenspolitik festlegen wollte. für die erlittene Niederlage. Ein eifriger Vergionsforscher. Sie veröffentlichten unter anDiese Vogel-Strauß-Politik blieb nicht unfechter der Kalachakra-Vision ist der bekannderem die Bücher »Krieg der Religionen – bemerkt und wurde selbst von früheren Date dänische Lama Ole Nydahl, der mit seinen Politik, Glaube und Terror im Zeichen der lai-Lama-FreundInnen mit Befremden komanti-islamischen Sprüchen eine apokalypApokalypse« (Fink 2006) und »Hitler-Buddmentiert. Einer von ihnen ist der bekannte tisch-messianische Stimmung schürt. ha-Krishna – Eine unheilige Allianz im Dritten amerikanische Historiker Howard Zinn: »Ich Aber es gibt auch mehrere Parallelen zwiReich bis heute« (Überreuter 2002). Ihre habe den Dalai Lama immer wegen seiner schen den beiden gegnerischen ReligionsHomepage »Kritische und Kreative KulturforPlädoyers für Gewaltlosigkeit und seiner systemen. Eine davon ist die Vorstellung von schung« findet sich unter: www.trimondi.de Unterstützung der tibetischen Rechte gegen einem Heiligen Krieg: »Die Kalachakra Darstellung des Shambhala Krieges und die islamische Diskussion über den Djihad zeigen bemerkenswerte Ähnlichkeiten«, schreibt der vom Dalai Lama zum Kalachakra-Experten gekürte Alexander Berzin. Kalachakra-AnhängerInnen vertreten zudem einen primitiven Märtyrer-Kult, der an denjenigen moslemischer Mujaheddin erinnert: Wer während der Shambhala-Schlacht erschlagen wird, dem wird als Belohnung der Eintritt ins (buddhistische) Paradies garantiert. Bisher gibt es trotz heftiger Kritik von Seiten des Dalai Lama keinen Kommentar zu den offenkundig kriegerischen und die anderen Religionen diskriminierenden Passagen dieses Textes.
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Ungleiche Partner Migrationsmanagement in der Europäischen Nachbarschaftspolitik
Das Migrationsregime der Europäischen Union macht nicht an den Außengrenzen Europas halt. Inzwischen finanziert die EU sogar Flüchtlingscamps in Staaten, die nicht einmal die Genfer Konvention akzeptieren – etwa in Libyen. Doch die Grenzen werden nicht nur mit polizeilicher Gewalt, sondern auch mit Hilfe von Datenerfassung, Asylvereinbarungen und Rücknahmeverträgen ständig ausgeweitet. Auf EU-Anrainerstaaten, die sich kooperativ zeigen, wartet Belohnung.
von C h r i s t i a n B a n s e , D o r e e n M ü l l e r und H o l k S t o b b e
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t Auf ihrer Ratstagung am 13. Juni sind die zwischen recht erfolgreich darauf hin, ihre EU-Innenminister übereingekommen, dass Nachbarstaaten in die Migrationskontrolle die Zusammenarbeit und der Dialog mit einzubinden. Vor allem mittels der EuropäiDrittstaaten verstärkt werden müssen, um »ilschen Nachbarschaftspolitik (ENP) will die EU legale« Migration effektiv bekämpfen und eieine »verbesserte Zusammenarbeit mit Drittne kontrollierte Zuwanderung nach Europa staaten im Bereich Migration« erreichen. erreichen zu können. Auf der Basis einiger Pilotprojekte soll ein neues Konzept von »MoHerde der Instabilität bilitätspartnerschaften« entwickelt werden. t Die ENP wurde entworfen, weil viele der Dieses sieht vor, interessierte Drittstaaten in EU-Nachbarstaaten nach den jüngsten Erdie Pläne der EU einzubeziehen, eine »zirkuweiterungsrunden keine Chance haben, in läre Migration« mit befristeten Arbeitsvisa zu absehbarer Zeit der EU beizutreten. Mit Hilfe etablieren und unerwünschte MigrantInnen der ENP will die Europäische Kommission Einfern zu halten. fluss auf die Politik und die wirtschaftliche EntWie die effektive Bekämpfung von unerwicklung in den Anrainerstaaten nehmen – wünschter Migration aussehen soll, zeigt sich ohne ihnen eine Beitrittsperspektive zu biederzeit in fast allen Nachbarstaaten der EU. So ten. Für jeden Nachbarstaat wird ein indivifanden Ende 2006 in Marokko zahlreiche duell angepasster Nachbarschaftsplan entRazzien statt. Rund 600 MigrantInnen aus worfen. Aufgestellt wird jeweils ein ganzer Westafrika wurden von marokkanischen PoliKatalog von Reformen, ihre Erfüllung wird mit zeikräften aus ihren Wohnungen gezerrt und Handels- und Visaabkommen oder spezifian die algerische Grenze verfrachtet. Libyen schen Förderprogrammen deportierte seit September belohnt. Adressaten dieser letzten Jahres 12.000 MiViele Anrainerstaaten Politik sind die unmittelbagrantInnen. Sie wurden bei ren Nachbarländer im Razzien festgenommen waren vom »AmeisenMittelmeerraum (Algerien, oder auf See abgefangen, handel« abhängig Ägypten, Israel, Jordanien, in Gefängnisse verfrachtet Libanon, Libyen, Marokko, und abgeschoben. In der Palästinensische Autonomiebehörde, Syrien, Ukraine werden TransitmigrantInnen routineTunesien) und in Osteuropa (Weißrussland, mäßig in ehemaligen Militärkasernen interRepublik Moldau, Ukraine). Durch eine »Straniert. Wenn sie es schaffen, einen Asylantrag tegische Partnerschaft« zählen auch der Südzu stellen, werden sie entlassen und beim kaukasus (Armenien, Aserbaidschan, Geornächsten Versuch, die EU-Grenze zu übertregien) sowie Russland dazu. ten, erneut inhaftiert. Laut Europäischer Kommission soll durch Der Umgang der EU-Anrainerstaaten mit die Nachbarschaftspolitik verhindert werden, TransitmigrantInnen hat sich in den vergandass sich die Kluft zwischen den Nachbarstaagenen Jahren grundlegend geändert. Bislang ten und der EU vergrößert. Die zuständige hatten diese Staaten kein Interesse daran, EU-Kommissarin, Benita Ferrero-Waldner, beMigrantInnen an der Durchreise in Richtung tont, es gehe nicht um »neue Trennlinien« in EU zu hindern. Doch mit einem Bündel aus Europa, sondern »ganz im Gegenteil« darum, Druckmitteln und Anreizen wirkt die EU in-
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die »Grenzen [zu] überbrücken«, wenn die politischen Prinzipien und demokratischen Werte der EU in den Anrainerstaaten gestärkt werden sollen. Dazu gehört die »graduelle Teilhabe an den so genannten ‚vier EU-Freiheiten’, der Freiheit des Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehrs«. An »unseren Grenzen sollen keine Herde von Instabilität bestehen bleiben«, so die Kommissarin.1 Denn »indem wir unseren Nachbarn helfen, helfen wir uns selbst. Indem wir rund um die Union politisch investieren – von der Ukraine bis in den Kaukasus, vom Nahen Osten bis in den Maghreb, erzeugen wir Stabilität
Migration
Umsetzung der EU-Visapolitik und die Aufrüstung des Grenzschutzes vor Ort werden zur Vorbedingung für regionale wie nationale Akteure in den Nachbarstaaten, um Zuschüsse von der EU zu erhalten. Erfüllen sie die Programmvorgaben zufriedenstellend, wird ihnen ein privilegierter Zugang zum EUBinnenmarkt in Aussicht gestellt. Oder vereinfachte Visabedingungen für ihre BürgerInnen werden angekündigt, etwa für den Austausch von Studierenden. Oder es geht – wie im Falle der Ukraine – gar um die EU-Mitgliedschaft.
Die Last der Kleinen
bedingungen für ihre BügerInnen zu erhalten, muss die Ukraine ihre Grenze zur EU schließen und TransitmigrantInnen an der Durchreise hindern. Der von der EU häufig verwendete Begriff der »Grenzkriminalität« ignoriert, dass das Unterlaufen von Grenzen eine weit verbreitete Alltagspraxis ist. Indem die EU »Ameisenhandel«, grenzüberschreitende Prostitution oder »Schleusertätigkeiten« kriminalisiert, werden bislang alltägliche Handlungen zu riskanten Unternehmungen. Die Aufrüstung der Außengrenzen durch EU-Programme verschärft auch Konflikte um strittige Grenzverläufe und um Minderheitenrechte. Gerade in Osteuropa sind viele Territorialgrenzen umstritten, wie etwa jene zwischen Russland und Estland. Durch den Ausbau der Grenzkontrollen verstärken sich die Konflikte zwischen russischsprachiger Minderheit und anderen Bevölkerungsgruppen, weil der Minderheit unterstellt wird, dass sie die Grenzziehung und den Ausbau der Kontrollen ebenso wenig akzeptieren wie die russische Regierung.
Wie die ENPs auf die Grenzregionen wirken, ist lokal sehr verschieden. Die Ausweitung des Schengen-Abkommens erschwert vielerorts die bisherige wirtschaftliche ZusammenarVorverlagerung des Filters beit der Bevölkerung beidert EU-Kommissarin Ferrero-Waldner zufolge seits der EU-Außengrenze. liegt die politische Herausforderung darin, Schließlich wird das Über»das richtige Gleichgewicht zwischen der Beschreiten der Grenze mit der kämpfung der illegalen Migration und der Einführung der Visumspflicht Unterstützung derjenigen MigrantInnen zu für viele Menschen nahezu unfinden, die wir für unser ökonomisches und möglich. Überlebenswichtige soziales Wohlergehen brauchen«. Die AnraiWaren können nicht mehr benerstaaten sind als Transitländer aufgerufen, schafft werden, und es ist kaum die EU bei der Selektion von »gewünschter« noch möglich, durch den kleiMotiv: Hinterland / Bayrischer Flüchtlingsrat und »unerwünschter« Einwanderung zu nen Grenzverkehr ein Einkomunterstützen. Wie zuvor die osteuropäischen men zu erzielen. Beitrittsländer sollen nun die Anrainerländer So war die polnisch-ukrainiund Wohlstand in unseren Partnerstaaten als Pufferzone zwischen der EU und den Hersche Grenze, seit 2004 Außengrenze der EU, und in Europa.« 2 kunftsländern fungieren: Die EU fordert ihre seit der Auflösung der Sowjetunion eine offeDie Grenzpolitik der ENP verfolgt dabei Nachbarn auf, TransitmigrantInnen und auch ne Region des Grenzhandels. Ukrainische, zwei widersprüchliche Ziele. Zum einen soll (bestimmte) eigene BürgerInnen an der Einrussische und weißrussische VerkäuferInnen unter anderem mit der Etablierung von reise in die EU zu hindern. pendelten, um ihre Wa»Grenzregionen« der Austausch über die Die Funktion der Nachbarn ren in Ostpolen zu verDie EU gestaltet die Grenzen hinweg gefördert werden. Hierbei ist in dieser Politik eine doppelkaufen. Viele Grenzgängeht es vor allem um wirtschaftliche Beziete: Zum einen geht es um die gerInnen trugen durch Asylregimes nach dem hungen, aber auch um kulturelle und soziale polizeiliche Sicherung der diesen »Ameisenhandel« eigenen Vorbild Kooperation. Zum anderen werden allzu Grenzen zur EU und eine verbeständig kleine Warendurchlässige Territorialgrenzen als Gefahr bestärkte Kontrolle aller Außenmengen über die Grentrachtet. Die Kommission versucht daher grenzen. Zum anderen wird mittels Rückze. Mit der Visumspflicht für UkrainerInnen ist gleichzeitig, ein rigides Grenzkontrollregime übernahmeabkommen – ein wichtiges Eleder Grenzverkehr stark eingeschränkt und zu etablieren. Die EU-Anrainer sind in der ment aller Nachbarschaftspläne – sichergeden Menschen diese Möglichkeit des AusENP keine gleichberechtigten Partner: Die stellt, dass die Anrainerländer diejenigen tausches genommen. Um erleichterte Visat
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MigrantInnen wieder aufnehmen, deren Austeres Ziel ist, die elektronische Datenerfasoder Weiterreise in die EU sie nicht verhinsung und den Datenaustausch zwischen den dern konnten. Behörden des jeweiligen Landes und der EU Diese Nachbarschaftspläne führen in den zu verbessern. Die Nachbarschaftspläne zieEU-Anrainerstaaten zu wirtschaftlichen und len offensichtlich auf die Entwicklung von sozialen Problemen. Da die Außengrenzen Asylregimes in den Anrainerstaaten nach der EU nur unter großen Schwierigkeiten europäischem ‚Vorbild’. überwunden werden können, stranden viele Ziel der EU-Politik ist vorgeblich die StärTransitmigrantInnen vor der Grenze. Um den kung der Menschenrechte in den Nachbarungeplanten Aufenthalt und die Weiterreise staaten. Die Anlehnung an den Menschenzu finanzieren, suchen sich TransitmigrantInrechtsdiskurs stellt jedoch lediglich die Leginen Arbeit in der lokalen Ökonomie – in der timation für die Auslagerung asylpolitischer Regel als irreguläre Arbeitskräfte. So arbeiten Belange dar. Das machen die Vereinbarung MigrantInnen aus den Kaukasus-Republiken von Rückübernahmeabkommen mit den irregulär in der Ukraine auf Nachbarländern, die Andem Bau, während Ukrainewendung der DrittstaaDie EU delegiert die rInnen in Tschechien und Potenregelung oder die Einlen arbeiten und PolInnen in richtung von »AuffanglaVerantwortung für die Deutschland oder Österreich. gern« deutlich. Der TransAsylsuchenden Ihre jeweiligen Beschäftifer migrationspolitischer gungsbedingungen sind äuMaßnahmen und Instrußerst prekär: Sie erhalten weder Tarif- noch mente ermöglicht die Kategorisierung und Mindestlöhne und können jederzeit (z.B. bei Hierarchisierung von MigrantInnen. Die TrenKrankheit) gekündigt werden. Da sie aufnung zwischen »echten« Flüchtlingen und grund ihres Status keinen Zugang zu Arbeits»Arbeits«- bzw. »WirtschaftsmigrantInnen« gerichten haben und oft von den Gewerkkann dementsprechend schon außerhalb der schaften ignoriert oder gar angefeindet werEU stattfinden. Mit den Asylverfahren wird den, werden sie auch häufig um ihren Lohn ein Filter geschaffen, der durch die Selektion geprellt und haben kaum Möglichkeiten, sich der »Schutzbedürftigen« die übrigen zu »illekollektiv gegen Missstände zu wehren. Zengalen« MigrantInnen erklärt. So kann deren traler Bestandteil des Migrationsfilters sind Inhaftierung und Abschiebung legitimiert asylpolitische Instrumente, die ebenfalls in werden. die Nachbarstaaten exportiert werden. OffiDas Ziel ist klar: die EU-Mitgliedsstaaten ziell heißt es dazu, dass die Verantwortung wollen die Verantwortung für die Asylsuchenbeim Flüchtlingsschutz mit Drittstaaten und den an die Nachbarländer delegieren. Das ist Erstasylländern geteilt und die Schutzkapabisher eben nicht in allen Fällen möglich. Um zitäten in den Herkunftsregionen erhöht werZuständigkeitsregelungen wie die »sichere den müssten, da diese den größten Teil der Herkunfts- oder Drittstaaten«-Regelung umFlüchtlinge aufnehmen. setzen zu können, müssen die betreffenden So wurden asylpolitische Vereinbarungen Drittstaaten zumindest formal die Durchfühin die Nachbarschaftspläne für Marokko, die rung von Asylverfahren und die Einhaltung Republik Moldawien und Tunesien aufgegrundlegender Rechte gewährleisten. Annommen. Eigens für die Ukraine entwarf die dernfalls werden diese Länder von Gerichten EU bereits 2001 einen »EU Action Plan on Jusin den EU-Mitgliedstaaten als nicht »sicher« tice and Home Affairs in Ukraine«. Ein zentraeingestuft und eine Abschiebung dorthin ler Punkt darin ist die Implementierung der untersagt. Genfer Flüchtlingskonvention in nationalDurch die asylpolitische Pufferzone in den staatliches Recht, entsprechende Regelungen Nachbarländern können innerhalb der EU die in der EU haben Vorbildfunktion. Und im Asylantragszahlen und die Zahlen der positiv »EU/ Moldova ENP Action Plan« ist ausdrückbeschiedenen »Fälle« erheblich gesenkt werlich eine Annäherung der Gesetzgebung soden. Tatsächlich hat sich die Zahl der Asylanwie der entsprechenden behördlichen Strukträge in der EU seit 2002 auf 182.000 im Jahr turen an die EU-Normen und -Standards vor2006 halbiert. MigrantInnen werden durch gesehen. die Zuständigkeitsregelungen gezwungen, ihre Anträge bereits in den Transitstaaten zu stellen. Die Anerkennungschancen sind dort Menschenrechtlich geboten? jedoch gering, und der Sinn für die Migrant Weitere wichtige Eckpunkte der NachbartInnen ist fraglich: In der Ukraine werden Anschaftspläne sind die Einhaltung des Rückträge aus der Haft oft nur gegen Bares an die schiebungsverbots und der Zugang zum zuständige Stelle weitergeleitet. Die weniAsylverfahren, die Bestimmung des Flüchtgen, die anerkannt werden, erhalten eine einlingsstatus und die Feststellung »offensichtmalige finanzielle »Unterstützung« von drei lich unbegründeter« Anträge. Um die DurchEuro. Wer angesichts dieser Perspektivlosigführung von Asylverfahren zu gewährleisten, keit dennoch – irregulär – weiterwandert, müssten zudem die erforderlichen Verwalwird entweder mit Verweis auf die sichere tungsstrukturen entwickelt werden. Ein weiDrittstaatenregelung direkt an der Grenze iz3w
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zurückgewiesen und gar nicht zum Asylverfahren zugelassen. Oder der Antrag wird in den EU-Mitgliedsstaaten als »offensichtlich unbegründet« klassifiziert.
Negative Zuständigkeit t Indem die EU systematisch die Einführung asylpolitischer Instrumente zur Kooperationsbedingung erhebt, wird der migrationspolitische Filter zunehmend schon vor den »Toren« der EU wirksam. Innerhalb der EU wird durch die Dublin-II-Verordnung3 die Zuständigkeit für Asylverfahren den Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen überantwortet. Diese delegieren die Verantwortung durch die Anwendung der Drittstaatenregelung und den Abschluss von Rückübernahmeabkommen an ihre Nachbarn außerhalb der EU, welche ihrerseits Rückübernahmeabkommen mit den Herkunftsländern vereinbaren. Die Ukraine beispielsweise, Transitland für den gesamten asiatischen Raum, hat Rückübernahmeabkommen mit einer Vielzahl von Staaten geschlossen. Durch die negativen Zuständigkeitsregelungen und die Aneinanderreihung von Rückübernahmeabkommen kann sich eine Kette von Abschiebungen ergeben, an deren Ende sich die MigrantInnen in ihrem Herkunftsstaat wiederfinden, ohne dass ihr Asylantrag jemals geprüft wurde. Asylrecht und Flüchtlingsschutz als zwei der letzten Möglichkeiten, sich regulär in der EU aufzuhalten, sind somit fast nicht mehr zugänglich.
Anmerkungen: 1 Ferrero-Waldner, Benita (2004): Chancen einer neuen EU-Nachbarschaft – Moldau und Ukraine. Wien. 29. November 2004. www.eu.int/comm/ commission_barroso/ferrero-waldner/speeches/ moldau_ukraine_de 291104.pdf
2 Alle weiteren Zitate von Ferrero-Waldner aus: dies. (2006): Migration, External Relations and the European Neighbourhood Policy. Speech/06/30. Conference on Reinforcing the Area of Freedom, Security, Prosperity and Justice of the EU and its Neighbouring Countries. Brüssel. Januar 2006.
2 Die sogenannte »sichere Drittstaatenregelung« wurde innerhalb der EU durch die Dublin-IIVerordnung überflüssig. Laut dieser Verordnung ist derjenige Staat für die Durchführung des Asylverfahrens eines Bewerbers zuständig, der diesem ein Visum erteilt oder dessen (irreguläre) Einreise nicht verhindert hat. Durch diese Verordnung verzeichnet z.B. Polen einen Anstieg der AsylbewerberInnenzahlen – denn per »Dublin-IIVerordnung« werden zahlreiche tschetschenische Flüchtlinge, die auf dem Landweg über Polen in die EU eingereist sind, aus verschiedenen EULändern nach Polen zurückgeschoben.
t Christian Banse, Doreen Müller und Holk Stobbe sind SozialwissenschaftlerIn-
nen und forschen in Göttingen zu Grenzen und Migration.
Internationalismus
Solidarische Sammelwut Das Afrika-Archiv des iz3w in Basel
Das öffentliche Archiv ist einer der ältesten Arbeitsbereiche des informationszentrums 3. welt (iz3w). Seit Ende der 1960er Jahre wurden Zeitschriften, Broschüren, Flugblätter und Plakate zu Nord-Süd-Themen aller Art archiviert und verschiedene Tageszeitungen ausgewertet. Das Ausschneiden der Zeitungsartikel wurde angesichts der Digitalisierung von Printmedien vor einigen Jahren eingestellt. Die vorhandenen Bestände bilden jedoch eine enorme Fundgrube. Mehrere Tausend Aktenordner stehen den BesucherInnen zur Verfügung. Als das iz3w 2006 in eine Finanzkrise geriet, musste Bürofläche reduziert werden. Deshalb wurde ein erheblicher Teil der Afrika-Sammlung weggegeben. Angesichts der zahlreichen Materialien zum südlichen Afrika standen vor allem das namibische Nationalarchiv in Windhoek und die Basler Afrika Bibliographien (BAB) zur Debatte. Letztlich ging die Sammlung aus pragmatischen Gründen ins nahe gelegene Basel. Die BAB verfügt über enge Kontakte nach Windhoek, somit ist der Austausch über die für Namibia interessanten Materialien problemlos möglich. Im iz3w verblieben sind die Afrika-Zeitschriften. An dieser Stelle möchten wir allen danken, die in unermüdlicher Arbeit das Archiv zusammengetragen haben. ForscherInnen und andere Interessierte wollen wir ermutigen, diese Quellen zu nutzen – sei es in Basel oder im iz3w. Denn das Archiv birgt wahre Schätze, die gehoben werden wollen.
von S i m o n L u t z und D a g H e n r i c h s e n t Händeringend suchte das iz3w Ende letzten Jahres ein neues Zuhause für sein AfrikaArchiv. Diskussionen zwischen Freiburg, Basel und Windhoek gingen hin und her, Kompromissbewusstsein überwog. Im Januar 2007 transportierten wir das Archiv schließlich in die Basler Afrika Bibliographien (BAB). Die BAB betreibt eine Bibliothek und ein Archiv speziell zum südlichen Afrika. Die sage und schreibe 512 Aktenordner zu allen Ländern Afrikas und zu übergreifenden Themen füllen wie in Freiburg einen ganzen Raum. Sie dokumentieren von winzigen Zeitungsnotizen bis hin zu dicken Broschüren das bewegte und schwierige Leben eines ganzen Kontinentes über fast vier Jahrzehnte.
Spannend an den Namibia-Ordnern, und Das Archiv wurde primär länderorientiert aufdies trifft auch für viele andere Länderordner gezogen. Einen besonders großen Bestand zu, sind die Materialien in den Broschürenbilden die Ordner zu Südafrika (91), ZimbabOrdnern: Manches Redemanuskript »mit liewe (30) sowie Ägypten (26), gefolgt von Anben Grüßen«, manches afrikanische Pressegola (23), Algerien (21) und Namibia (18). communiqué, manche Broschüre wie z.B. Pro Land gibt es Zeitungsordner mit Artikeln »Farmarbeiter in Namibia« wurde ebenfalls aus den wichtigsten Zeitungen der deutschgewissenhaft gelocht und eingeheftet. Besprachigen und internationalen Presselandsonders interessant sind die Dokumente zur schaft. Berücksichtigt wurden lokale Blätter namibischen Befreiungsbewegung SWAPO. wie die Badische Zeitung, vor allem aber überregionale Zeitungen und Magazine wie Die Obgleich deren Zeitschriften offenbar erst ab Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Spiegel, Le 1976 systematischer bezogen wurden, gibt Monde, Neue Zürcher Zeitung, The Guardian es bereits das Manifest der »SWAPO Youth« und New York Times. Hier und da finden sich von 1971, neben frühen Redemanuskripten Zeitungsausschnitte oder Presseschauen aus von SWAPO-Politikern. afrikanischen Ländern. Aufregende Zeitdokumente sind einige Ein anderer Teil der Länderordner enthält Plakate. Eines wurde Anfang der 1970er Jahheterogenes Material, wie Bulletins und Presre nachweislich in Dar es Salaam gedruckt semitteilungen von afrikanischen Befreiungsund zeigt die Porträts der SWAPO-Politiker bewegungen oder Zeitschriften, »GruppenSam Nujoma, Toivo yaToivo, Brendan Simbrundbriefe« und Flugblätter von Solidaritätswaye und Levy Nganjone. Letztere sind heugruppen aus ganz Europa. Auch Referate, te weitgehend vergessen. Simbwaye, Führer Wandzeitungen und sonstiges Aktionsmateder Caprivi African National Union und Vizepräsident der SWAPO, war seit 1964 von der rial finden sich hier. Die europaweite Solidasüdafrikanischen Korität mit den antikolonialen lonialmacht in namiportugiesischsprachigen In den Ordnern spiegeln sich bischen GefängnisKräften (»Portugal mordet politischer Kampf und aufsen inhaftiert oder mit Nato-Waffen in Afrika«) stand, wie ab 1967 bildete für das iz3w-Archiv klärerisches Anliegen wider einen frühen bedeutenden auch Nganjone, unMaterialschub. Die Antiter Hausarrest. HeuApartheid-Aktionswochen der 1980er Jahre te entfaltet das Plakat neue Dynamiken: Der bilden einen weiteren markanten Schwernamibische Historiker Bennett Kangumu, der punkt. zur Zeit die Geschichte der Caprivi-Region In Basel ist das Archiv, wie in Freiburg, erforscht, ist über das seltene Porträt von alphabetisch nach Ländern aufgestellt worSimbwaye hocherfreut. Was wird erst dessen den und innerhalb der Länder chronologisch. Familie dazu sagen? Das Plakat regt dazu an, Die damalige Sorgfalt, in der sich politischer die frühen Jahre der SWAPO neu zu betrachKampf, solidarisches Engagement und auften und Führungsfiguren von damals neu zu klärerisches Anliegen ganz unauffällig widerverorten. spiegelt, überwiegt in den Ordnern bis heuDamit wird deutlich, dass das Afrikate. Für die BAB sind die Bestände eine wesentArchiv des iz3w nicht nur politisches Engagement in (West-)Deutschland und Europa liche Ergänzung der eigenen Sammlungen. dokumentiert, sondern auch die afrikanische Für ein Land wie Namibia ergeben sich inProduktion von Themen und Sichtweisen. zwischen interessante Funde. Die NamibiaDie Archive der europäischen SolidaritätsorOrdner beginnen im Jahr 1968 mit vereinzelganisationen sind so für afrikanische Natioten Zeitungsausschnitten. Schon 1970 ist die nal- und Parteiarchive von manchem InteresSammlung stark angeschwollen. Jede Zeise. Der Zugänglichkeit kommt damit einige tungsnotiz wurde liebevoll aufgeklebt, jedes Bedeutung bei; das erwähnte Plakat ist beverfügbare A4- Blatt dazu verwendet, sei es reits in Kopie an das Nationalarchiv in Windein Flugblatt zur Aktion »Warum wir von eihoek gelangt. Die HistorikerInnen und die nem ordnungsgemäßen Studium dringend Archive in Europa und Afrika sollten sich über abraten« oder Unterlagen aus dem »Konsoviel vergangene Sammelwut freuen! sumseminar«. Auch iz3w -Rundbriefe wurden recycelt. Die Zeitungsnotizen, um die es eigentlich ging, sind damit physisch und visuell t Simon Lutz ist Mitarbeiter der BAB. Dag in einem dichten Gewebe von damaligen Henrichsen ist namibischer Historiker und Aktionen und Ideologien verankert. Bis in das Archivar in den BAB (www.baslerafrika.ch). Jahr 2002 hält die penible Presseschau an! iz3w
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Das Bild, das sich Deutsche von AfrikanerInnen machen, hat sich im Laufe der Jahrhunderte durchaus gewandelt. Viele Versatzstücke von vermeintlich vergangenen Stereotypen finden sich jedoch bis heute – das Bild vom »edlen Wilden« ebenso wie das vom »enthemmten Barba-
ren«. In besonders starkem Maße geformt wurden diese Bilder in den Jahren rund um die deutsche Kolonialherrschaft von 1884 bis 1918. Im Rahmen unserer fortlaufenden Reihe zum Deutschen Kolonialismus zeichnet der Historiker Frank Oliver Sobich die Diskursverschiebungen
während jener Jahre nach. Galten AfrikanerInnen zunächst als »Mangel-Menschen«, die aber immerhin erziehbar seien, sprach man ihnen später ihr Menschsein ab – ein erschreckendes Kapitel in der Geschichte deutscher Ideologieproduktion.
Vom »Kind-Neger« zum »schwarzen Wüstling« Deutsche Imaginationen von AfrikanerInnen vor 1920 von Fr a n k O l i v e r S o b i c h
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t Die Bilder der ‘Anderen’ spielen für die Durchsetzung und Akzeptanz rassistischer Politiken eine zentrale Rolle. Sie sind Visualisierungen oder prägnante Zusammenfassung dessen, was das ‘Wesen’ der ‘Anderen’ sei. Sie können leicht rezipiert werden und das Denken und Handeln von Menschen gerade dann beeinflussen, wenn sie unhinterfragter Teil des Alltagsdiskurses einer Gesellschaft werden. Rassistische Vorstellungen, die nicht nur verquere Ansichten Einzelner darstellen, sind zumeist gesellschaftlich gültige Assoziationsketten. Das bedeutet, dass einzelne Begriffe bestimmte Konnotationen besitzen und Assoziationen hervorrufen, die allen Mitgliedern einer Gesellschaft präsent sind. Dabei ist sogar egal, ob die übliche Wertung geteilt wird oder nicht, solange das entsprechende Bild vom Großteil der Mitglieder einer Gesellschaft unterschiedlich interpretiert, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Der Frage, wie und warum sich solche Verbindungen von bestimmten Vorstellungen mit sozialen Gruppen so durchsetzen, dass alle sie kennen – eine wichtige Voraussetzung von rassistischen Witzen und Karikaturen – ist eine zentrale Aufgabe historischer Rassismusforschung mit erheblicher politischer Relevanz. Ändern sich solche Assoziationsketten, beruht dies im Regelfall nicht auf der Eigendynamik von Diskursen und Bildern, sondern auf dem Versuch, Fremd- und Feindbilder mit veränderten Verhältnissen, Interessen und/ oder Selbstbildern in Einklang zu bringen. Denn die Macht solcher Ideologien beruht gerade darauf, dass sie ihren AnhängerInnen die Welt (oder Ausschnitte aus ihr) »einleuchtend« erklärt.1 Dabei erfindet das rassistische Denken die Gruppen, die es hasst oder liebt, nicht jedes Mal neu: Vorhandene Vorstellungen werden neu bewertet, in einen neuen Kontext gestellt und/ oder ihnen eine neue Qualität zugesprochen. Bislang verbreitete, dazu im Widerspruch stehende Vorstellungen werden entweder direkt angegriffen oder existieren beziehungslos neben dem neuen Bild, bis sie verschwinden oder einen neuen rassistischen Sinn bekommen.
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an. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts lässt sich eine Vereindeutigung konstatieren. Teile des vorhandenen, positiven Bildes wurden dabei benutzt und umdefiniert: Aus dem fröhlichen Müßiggang wurde Faulheit, aus der Idealisierung der Unbefangenheit des Vom »edlen Wilden« ... ‘Naturmenschen’ wurde die angewiderte Darstellung schamloser Sexualität und ant Bis weit in das 17. Jahrhundert lässt sich in geblich kannibalistischer Praktiken. Europa kein einheitliches Bild von ‘SchwarDas nach 1800 entworfene Bild des negazen’ feststellen, schon weil die Subsumtion tiven Naturwesens und der heidnischen Barvon Menschen unter ihre – angebliche oder barei war eine hervorragende Rechtfertigung wirkliche – Hautfarbe kein durchgesetztes der Aufteilung der Welt durch die europäiKonzept war.2 Dies änderte sich, als die Aufschen Mächte und die USA. Angesichts des klärerInnen begannen, die Menschheit nach gleichzeitigen Siegeslaufs des Sozialdarwi‘Rassen’ zu systematisieren. Die Beschreibunnismus wäre zu vermuten, dass sich nunmehr gen der ‘Schwarzen’ waren dabei noch reladas Bild des ‘Negers’ als ‘Tier’ durchgesetzt tiv einheitlich: Ihnen wurde abgesprochen, hätte. Dies war aber nicht der Fall, sondern zu denken oder zu arbeiten. Sie galten als die Vorstellung des ‘Negers’ als ‘Kind’ wurde sinnlich, leidenschaftlich und musikalisch Allgemeingut. Dieses Bild passte besser zu und ihnen wurde ein starker Körpergeruch den Erwartungen und Wünschen der Metrozugesprochen. Die verschiedenen afrikanipolen an ihre Kolonien und deren Bevölkeschen Hochkulturen wurden entweder rung: Es erlaubte eine ignoriert oder durch Selbststilisierung der negative Attribute Mit den Kolonialaufständen kolonialen Gewalt als mit diesem Weltbild wurden ‘Schwarze’ erstmals als hilfreiche Erziehung. kompatibel gemacht. Schilderungen, die vom Dies alles führte aktive Gegner wahrgenommen Bild des ‘Schwarzen’ als jedoch zu keiner ein‘Kind’ ausgingen, pflegheitlichen Bewertung ten Grausamkeit und Sexualität nicht in den der AfrikanerInnen: Während sie mit OrangVordergrund zu rücken, wohl aber Faulheit, Utans gleichgesetzt und häufig versklavt wurSchmutz und moralische Unarten. den, schwärmten die bürgerlichen und adeMit der Infantilisierung war im Regelfall ligen Salons Europas sie auch als »edle Wilde« zumindest teilweise Erziehbarkeit, ja oftmals an. Zur gleichen Zeit wurden die ‘Ureinwoheine – allerdings in fernster Zukunft liegende nerInnen’ Australiens, Asiens und beider – mögliche Gleichbehandlung von ‘Schwarz’ Amerikas von EuropäerInnen massakriert und und ‘Weiß’ verbunden. Für manche AutorInpartiell ausgerottet. Dies wurde augenscheinnen war aber das Bild des ‘Kindes’ durchaus lich nicht als allzu großer Widerspruch empvereinbar mit der Vorstellung einer unumfunden. stößlichen ‘Kindlichkeit’ als vererbbarer ‘Rasseneigenschaft’. Das ‘Kind’ ist hier ein Bild für ... zum »geborenen Sklaven« einen bestimmten Entwicklungsstand als t Just in dem Moment, als Sklavenhandel Mangel-Mensch, der nicht oder erst nach vieund Sklavenhaltung – die lange Zeit kulturell len Generationen überwunden werden kann. geradezu unsichtbar waren – in das KreuzDieses Bild geriet in eine Legitimationsfeuer der öffentlichen Kritik gerieten, traten krise, als sich 1904 im heutigen Namibia die genau jene Bilder, die diese brutale Praxis bis Herero und Nama gegen die deutsche Kolodato gerechtfertigt hatten, ihren Siegeszug nialherrschaft erhoben. Es mutierte in mehreAll dies zeigt sich idealtypisch bei der Veränderung des Bildes von AfrikanerInnen und ‘Schwarzen’ in der deutschen Öffentlichkeit zwischen 1884 und 1920.
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Deutscher Kolonialismus ren Etappen zum Bild vom »blutrünstigen Wilden«.
Dämonisierte Herero und Nama
fen, verfestigt, umorganisiert und in einen politischen Zusammenhang gestellt. In der Berichterstattung der bürgerlichen Tagespresse wurden die Herero als eine bedrohliche Masse geschildert. Sie tauchten, bis auf einige Häuptlinge, nur als »Horden« und »raubend und mordend umherstreifende Banden« auf. Sie seien »mordlustige Schwarze«, »Unholde«, »Wilde«, »Bestien«, »Scheusale«, »Schweine« und »Hunde«. Sie fielen angeblich »mordend, sengend und plündernd« in die Farmgebiete ein, ihre Kriegführung sei von »Vernichtungswut und Mordlust« gekennzeichnet. Diese Berichterstattung blieb nicht ohne Wirkung. Die Aufstände 1904/07 waren ein »regelrechtes Diskursereignis«, es entstand »eine Flut von Texten«5 unterschiedlicher
Zum anderen sollte die Darstellung der Sittenlosigkeit der Herero beweisen, dass die sexuellen Übergriffe der ‘Weißen’ auf keinen Fall den Grund für den Aufstand darstellten.
t Die Kriegsführung der Herero und Nama Zum Tier gemacht bot dafür eigentlich kaum Anhaltspunkte. Die t Großen Wert legen die Bücher auf die DarHerero und Nama hatten insgesamt 200 stellung der »viehisch-brutale[n] Negernatur«. Menschen getötet, in der Regel deutsche Zwar seien die BewohnerInnen Afrikas von Männer, während sie Frauen, Kinder, Missio»kindischem Gemüte«, aber ihre »teuflische nare und Nicht-Deutsche verschonten. Von Lust« an den Qualen von Menschen und Tieeinem »Rassenkampf«, wie der Krieg häufig ren unterscheide sie von Kindern. Der Kampf bezeichnet wurde, konnte von Seiten der der Deutschen sei »kein Krieg gegen MenHerero und Nama keine Rede sein. Wohl aber schen, sondern gegen Bestien, schlimmer als von deutscher Seite. Der Oberbefehlshaber die Tiere der Wildnis«. Es gab zwar einige General v. Trotha bekannte sich öffentlich zu kritischere Töne, doch der Tenor war zumeist einer Politik des »krassen Terrorismus«. In seigleich, ob Belletristik oder Sachbuch. Die ner berühmt-berüchtigten Proklamation vom ‘Schwarzen’ – auch diejenigen, Oktober 1904 hatte er erdie nicht am Aufstand beteiligt klärt: »Innerhalb der deutwaren – wurden zu Exemplaren schen Grenze wird jeder einer minderwertigen, tierähnHerero mit oder ohne Gelichen und grausamen ‘Rasse’ gewehr, mit oder ohne Vieh ermacht. Die BewohnerInnen andeschossen. Ich nehme keine rer deutscher Kolonien spielten Weiber und keine Kinder dabei keine Rolle in der Öffentmehr auf, treibe sie zu ihrem lichkeit (auch der Maji-Maji-Krieg Volke zurück oder lasse auf in Deutsch-Ostafrika schlug sich sie schießen«. 3 »Zu ihrem Volke zurück«, nicht nieder). Mit dem Aufstand das hieß: zurück in die Omawurden Ansichten über Charakter heke. Die Omaheke war und Wesen der ‘Schwarzen’ zu eine wasserarme Steppenhandlungsleitenden, relevanten gegend, dorthin waren die Ideologien in Bezug auf KriegsHerero von den deutschen führung und Kolonialpolitik. Truppen vertrieben worden. Mit den Kolonialaufständen Ein 250 Kilometer langer Ab1904-06 wurden ‘Schwarze’ erstsperrungsgürtel verhinderte mals als aktive GegnerInnen so gut wie jede Flucht. Im wahrgenommen. Der ‘schwarze’ Dezember 1904 wurde dieMann6 wurde von einem Kind oder ‘ekligen Tier’ zu einer wirkser Befehl aufgehoben, und lichen Bedrohung. Beim »Tier« die Internierung von Hererwie beim »Kind« handelte es sich os, die sich ergaben, angeum Natur, die bearbeitet werden ordnet. Nach zwei Monaten, sollte. Das Kind soll erzogen, das in denen die Alternative darTier dressiert, die Bestie gebändigt in bestand, in der Wüste zu werden. So sehr sich in der wilhelsterben oder von deutschen minischen Zeit Dressur und ErzieSoldaten erschossen zu werhung auch ähnelten, ihre Ziele den, eröffnete sich dann auf waren unterschiedliche: Das Kind höchste kaiserliche Weisung sollte erwachsen werden, das Tier hin noch die Möglichkeit, sich dauerhaft unterordnen – da in einem Internierungslager es niemals ein Mensch werden bei Zwangsarbeit und Man»Das ist die Wahrheit! Überfall und Vernichtung einer Farm«: Propaganda gegen konnte. Der Schritt vom Kind zum gelernährung zu vegetieZentrum und Sozialdemokratie Motiv: Sobich 2006 Tier als angeblichem Charakter ren.4 Im Verlaufe der Aufstandsniederschlagung starder kolonialisierten Menschen ist Genres und Textgattungen. In diesen Texten ben zwischen 45.000 und 65.000 Herero eine De-Humanisierung des Gegners, die die wurde die Vernichtung der Herero und Nama und etwa 10.000 Nama. eigene enthumanisierte Haltung ihm gegenoffen gerechtfertigt und die Herero und NaDoch in der deutschen Öffentlichkeit, die über rechtfertigt. Kinder sollen ‘gezüchtigt’, ma als faul, verlogen, sinnlich und grausam über Verlauf und Niederschlagung der Aufaber kaum, wie das radikalisierte Tier-Kondargestellt. Die Darstellung der »Faulheit« stände zeitverzögert, aber umfassend inforstrukt ‘Bestie’, vernichtet werden. und »Lügenhaftigkeit« diente der Propagiemiert wurde, ging es um Anderes. Mit Beginn rung der Versklavung der Bevölkerung von des Aufstandes wurde in einem Zusammen»Schwarze Bestien« – zweiter Akt Deutsch-Südwestafrika. Die Betonung der spiel von Romanliteratur, Zeitungsberichtt Die Berichterstattung des Jahres 1904 Sinnlichkeit – »Endziel und Inhalt« des Leerstattung, Reichstagsdebatten, Gerüchteüber die Aufstände hatte dazu geführt, dass bens der Herero sei der Genuss, hieß es vorproduktion und Regierungsäußerungen das bestimmte Bilder von ‘Schwarzen’ verbreitet wurfsvoll – sollte dieses Urteil zementieren. bisherige ‘Wissen’ über die ‘Wilden’ aufgeru-
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»Bebels Heerscharen an der Arbeit«: Wahlpropaganda gegen die Sozialdemokratie Motiv: Sobich 2006
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waren und somit bereits durch Andeutungen aufgerufen werden konnten. Dies zeigte sich, als im Dezember 1906 der Reichstag aufgelöst wurde, weil eine bunte Koalition von Sozialdemokraten, katholischem Zentrum und den Vertretern der polnischen Minderheit die Mittelforderungen der Reichsregierung für die restlose Niederschlagung der Aufstände zurückwies. Der sich anschließende Wahlkampf war gekennzeichnet durch den Vorwurf, die schwarzen und roten »Reichsfeinde« wollten zulassen, dass die Aufständischen »deutsche Männer und Frauen morden« und »unsere tapferen Soldaten« in Deutsch-Südwestafrika »grausamen Feinden« schutzlos preisgeben. Wieder erschienen nicht die Herero und Nama, sondern die Deutschen als Opfer des Kriegs. Die deutschen Truppen stünden im Kampf gegen einen »wilden«, »besonders gefährlichen« und »geradezu bestialisch grausamen« Feind. Immer wieder wurde entgegen aller Tatsachen behauptet, die »Mordgier« der Herero habe nicht einmal »vor wehrlosen Frauen und Kindern« halt gemacht. Auch Berichte, die ‘Eingeborenen’ hätten deutsche Krieger »bei lebendigem Leibe verstümmelt«, wurden verbreitet. Jedes Zurückweichen vor den Aufständischen – wie es Sozialdemokraten und Zentrum angeblich propagierten – habe mit Sicherheit »ein neues Aufflackern des Aufstandes« und »neue scheußliche Grausamkeiten heimtückischer Feinde« an Soldaten und SiedlerInnen zur Folge. Während das Bild des ‘schwarzen Mörders’ damit durchgesetzt und jederzeit abrufbar war, war die Assoziation ‘schwarzer Mann’ = ‘Vergewaltiger weißer Frauen’, die sich in der Kampagne gegen die »Schwarze Schmach am Rhein« ab 1919 (siehe unten) so folgenschwer etablierte, augenscheinlich iz3w
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noch nicht Allgemeingut. Aber die Voraussetzungen dafür waren geschaffen.
Biologisierung, Bestialisierung, Sexualisierung t Mit der Etablierung eines biologistischen Rassebegriffs, der einer Menschengruppe ein Set von unveränderlichen, vererbbaren Eigenschaften zuordnete, war es möglich geworden, animalische Eigenschaften oder Verhaltensweisen als von der Situation unabhängige Determinanten darzustellen. Dies war eine wichtige Voraussetzung für die Logik des Verdachts, mit welcher der Rassismus arbeitet: Da er zu wissen meint, wie die entsprechenden Menschen sind, denken und handeln, braucht er nur noch Anlässe, aber keine Beweise mehr dafür, dass diese Menschen auch dem Urteil entsprechen, das er über sie etabliert. Die zunehmende Sexualisierung der ‘Schwarzen’ folgte ganz diesem Muster. Sie wurde erst ermöglicht durch die Ersetzung des Kind-Schemas durch das Tier-Schema – denn Kinder haben nach bis heute durchgesetzter Überzeugung keine Sexualität. Es ist bemerkenswert, dass zum ursprünglichen Bild des ‘Wilden’ die animalische Sexualität immer dazu gehört hatte, um in der patriarchalischen Phantasie vom ‘Schwarzen’ als großem Kind in den Hintergrund zu treten. Aber nicht um zu verschwinden, sondern um sich mit neuer Kraft zu entfalten, als es wieder zu den in den völkisch-rassistischen Ideologien sich artikulierenden Interessen passte. Im Gefolge des Aufstands in Deutsch-Südwestafrika hatte die Kolonialverwaltung, begleitet von einer erregten Debatte, schrittweise jede »Mischehe« zwischen ‘Weißen’ und ‘Schwarzen’ in den deutschen Kolonien verboten. Zu der weit verbreiteten Furcht vor
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der drohenden »Verkafferung« der ‘weißen’ Siedler, also mit ihrem Herabsinken auf das kulturelle Niveau der ‘Eingeborenen’, kam nun die Bedrohung durch »Mischlinge« hinzu. Dies war »Ausdruck einer kollektiven Untergangsangst der deutschen Kolonisten«7, die in auffälligem Widerspruch zur wirklichen Machtverteilung in den Kolonien stand. Die Kampagne gegen »Mischehen« nahm kolonialkritische Motive, wie etwa das der sexuellen Übergriffe gegen ‘Schwarze’, auf und verwandte sie als Argumente für die Errichtung einer kolonial-rassistischen Herrenmoral – die sich auch gegen die sexuelle Autonomie der Männer wandte und durchaus Berührungspunkte mit der Gleichstellungspolitik der nationalistischen Frauenverbände hatte. Eine Debatte im Reichstag über die Aufhebung dieses Mischehenverbots zeigt den rassistischen Konsens im spät-wilhelminischen Deutschland: Wiewohl es sich um eine Machtprobe über die Gültigkeit des Bürgerlichen Gesetzbuches in den deutschen Kolonien handelte, war man sich »über alle religiösen und politischen Grenzen hinweg« einig, dass diese Ehen unerwünscht waren.8 Zwei Punkte sind bei dieser Debatte auffällig. Erstens kritisierte keiner der Redner den ‘Rassestandpunkt’. Stattdessen wurde die gesamte Debatte darüber geführt, ob auch andere Punkte entscheidungsrelevant sein sollten. Zweitens trat überraschend eine Phantasie auf, die in den bisher skizzierten rassistischen Debatten noch keine Rolle gespielt hatte: Die Angst vor dem ‘schwarzen’ Mann als Konkurrenten. Diese Phantasie war immer wieder damit verbunden, dass es Frauen aus höheren Schichten seien, die vom animalischen ‘schwarzen’ Mann angezogen seien. Der ‘Schwarze’ war spätestens damit zur doppelten Bedrohung geworden: militärisch als
Deutscher Kolonialismus (potenzieller) Aufständischer und sexuell als attraktiver und besonders aktiver Exot.
Die ‘schwarze Schmach’
Verlogenheit der Behauptungen bewusst.11 Die nachhaltigen Wirkungen der Kampagne auf das Bild des ‘Schwarzen’ deuten darauf hin, dass es sich aber nicht nur um eine kühl gehandhabte Methode der deutschen Diplomatie handelte. Zumeist war von ‘Schwarzen’ und ‘Negern’ die Rede, dabei war durchaus bekannt, dass es sich bei den fraglichen Besatzungssoldaten vor allem um Nordafrikaner handelte, die nun beim schlechtesten Willen nicht ‘schwarz’ waren. Aber das Bild war wohl nicht eindeutig genug, während die Sexualisierung und Bestialisierung der ‘Schwarzen’ schon so weite Fortschritte gemacht hatten, dass die entsprechenden Projektionen schon durch die kleine Anzahl von Soldaten aus Madagaskar und Westafrika angeregt wurden. Wiederum ein Beweis dafür, dass Rassismus die Farbe macht und nicht die Farbe den Rassismus.
t Im Vorfeld des Ersten Weltkrieges gesellte sich eine weitere »Bedrohung« hinzu: Angesichts sinkender Geburtenraten war vor allem Frankreich dazu übergegangen, in seine Kriegsplanungen auch die BewohnerInnen seiner Kolonien einzubeziehen, um den militärischen Vorteil des Deutschen Reichs auszugleichen. Es begann eine Kampagne in alldeutschen und völkischen Blättern, die davor warnte, im Falle eines Krieges seien die Deutschen den »wilden Instinkten der Negersoldateska« schutzlos ausgeliefert. Doch erst mit dem Ersten Weltkrieg erreichte das Thema größere Publizität. Dabei gerieten die britischen und die französischen Kontingente gleichermaßen ins Visier. Die ‘farbigen’ Soldaten wurden als »Teufel«, »entmenschte Wilde« und Bestien geschildert.9 Gier auf Germanenfleisch In vielerlei Hinsicht war die Kampagne t Die Bilder der ‘schwarzen’, in Deutschland gegen den Einsatz von Kolonialtruppen die stationierten Soldaten waren eindeutig neVorwegnahme der Propaganda gegen die gativ. Es handele sich um eine »auf niedrigem ‘Schwarze Schmach’ 1919-1924. Diese beNiveau stehende Rasse« mit »exorbitante[m] gann, als die Entente das Rheinland besetzte sexuelle[n] Triebleben«. Die »maßlose Gier und Frankreich dabei auch ‘farbige’ Truppen auf weißes Germanenfleisch« führe zu unzäheinsetzte10. War der Herero-Aufstand die Infragestellung der kolonial-rassistischen ligen »Sittlichkeitsverbrechen«, »SchandtaHierarchie durch ‘Eingeborene’, der Einsatz ten« und »Vergewaltigungen«. Die deutsche ‘farbiger Truppen’ die Gleichsetzung von Bevölkerung sei wehrlos »den tierischen In‘schwarzen’ mit deutschen Soldaten durch stinkten der Farbigen« preisgegeben. den ‘Erbfeind’ – so wurde mit der Tatsache, Angesichts des heutigen Wissens über die dass ‘Farbige’ als Besatzungssoldaten Ordüblichen Mechanismen in Vergewaltigungsnungsfunktionen gegenprozessen ist es schwierig, über den ansonsten recht Zahl und Ausgang der Geobrigkeitstreuen Deutrichtsverfahren als Indizien ‘Farbige’ Besatzungsschen wahrnahmen, dem dafür zu nehmen, wie viel sesoldaten muteten dem rassistischen Verstand Unxuelle Gewalt es wirklich gerassistischen Verstand geheuerliches zugemutet. geben hat. Aber alles spricht Zwischen 1919 und dafür, dass es nur zu relativ Ungeheuerliches zu 1924 begann eine weltweiwenigen Vergewaltigungen te Propagandakampagne, gekommen ist und vielmehr die in einem Sturm der Entrüstung Gräuelgealle Kontakte zwischen farbigen Soldaten und schichten über hunderte vergewaltigte ‘weideutschen Frauen automatisch als »Vergeße’ Frauen und Mädchen und geschändete waltigungen« bezeichnet wurden. Die Pro‘weiße’ Knaben verbreitete und damit das pagandakampagne war geprägt von jener Verabscheuungswürdige des französischen Mischung aus hysterischer Projektion, dem ‘Besatzungsterrors’ illustrieren wollte. Diese wichtigtuerischen Aufbauschen von gehörten Kampagne sollte über rassistische Propagan‘Stories’ und der schlichten Bereitschaft, alles da einen Keil zwischen die USA und Frankzu glauben und alles anzuführen, was den eireich treiben und den Nachwirkungen der genen Standpunkt untermauern könnte. Ein »Hunnenpropaganda« in den Siegerstaaten schwedischer Pastor beispielsweise wollte in und neutralen Länder entgegenwirken. ZuMainz ein ‘Mischlingskind’ gesehen haben – gleich stellte die Kampagne eine Antwort auf es hatte angeblich weiße und schwarze den Vorwurf der ‘Kolonialgräuel’ dar, der eiStreifen auf dem Rücken.12 Andere Quellen ne zentrale Rolle dabei spielte, die deutschen sprachen davon, dass die von ‚Schwarzen’ Kolonien an den Völkerbund zu überstellen. eingebrachte – in Wirklichkeit durch Tse-TseWie immer bei rassistischen Kampagnen, Fliegen übertragbare – »Schlafkrankheit« bean denen staatliche Stellen beteiligt sind, reits mehrere Tote gefordert habe. muss das Verhältnis von Ressentiment und Fast alle Seiten waren überzeugt, die »MuKalkül genau untersucht werden. Zumindest lattisierung von Teilen unserer Heimat« folge Teile des deutschen Staatsapparates waren einem »von maßlosem Vernichtungswillen sich des übertriebenen Charakters und der und Hass diktierten Plan« Frankreichs. In die
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anti-französische Propaganda mischten sich auch antisemitische Töne: Verantwortlich für die »Schwarze Schmach« seien die »meist halb- und ganz semitischen Advokaten«, die Frankreich regierten. Niemals »in der Weltgeschichte« habe es einen »auch nur annähernd ähnlichen Fall solch bestialischer Behandlung« gegeben, war man in jenem Land überzeugt, das die Herero und Nama mit einem Vernichtungs-, Dezimierungs- und Demoralisierungskrieg überzogen hatte. Die Kampagne gegen die »Schwarze Schmach« nahm die aggressive nationalsozialistische Rassenhetze vorweg, ebnete den Weg für die zwangsweise Sterilisierung der so genannten »Rheinlandbastarde« und etablierte bis heute gültige Vorstellungen. Heutige Afrika-Diskurse über Aids, Überbevölkerung oder Bandenkriege beruhen also auf einer soliden Grundlage.
Anmerkungen: 1 Robert Miles: Rassismus. Geschichte und Theorie eines Begriffs. Berlin 1991, S. 107.
2 Vgl. dazu Valerian Groebner: Haben Hautfarben eine Geschichte? In: Zeitschrift für historische Forschung, 2003, S. 1-17, und Wulf D. Hund: Rassismus. Die soziale Konstruktion natürlicher Ungleichheit. Münster 1999.
3 Bundesarchiv Berlin, R 1001, 2089, fol. 7. Zum Aufstand selber siehe Jürgen Zimmerer: Deutsche Herrschaft über Afrikaner. Hamburg 2002.
4 Joachim Zeller: »Ombepera i koza – Die Kälte tötet mich«. In: Jürgen Zimmerer/ Joachim Zeller (Hg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Berlin 2003.
5 Medardus Brehl: »Das Drama spielte sich auf der dunklen Bühne des Sandfeldes ab«. In: Jürgen Zimmerer/ Joachim Zeller (Hg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Berlin 2003, S. 86.
6 Das Bild der ‘schwarzen’ Frau änderte sich nicht gleichermaßen signifikant, obwohl eine deutliche Entsexualisierung des Bildes gegenüber vorher zu konstatieren ist.
7 Pascal Grosse: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland 18501918. Frankfurt a.M. 2000, S. 145.
8 Birthe Kundrus: Moderne Imperialisten. Köln 2003, S. 23.
9 Zu diesem Themenkomplex: Christian Koller: »Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt«. Stuttgart 2001.
10 Vgl. dazu die Arbeiten von Sandra Maß. 11 Gisela Lebzelter: Die »schwarze Schmach«. Vorurteile – Propaganda – Mythen. In: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 42.
12 Sally Marks: Black Watch on the Rhine. In: European Studies Review. Bd. 13 (Jg. 1983), S. 317.
t Frank Oliver Sobich ist Historiker und lebt in Bremen. Er arbeitet in der Jugendund Erwachsenenbildung. Dieser Artikel beruht auf seiner Dissertation »Schwarze Bestien, rote Gefahr« – Rassismus und Antisozialismus im deutschen Kaiserreich (Campus, Frankfurt a.M. 2006). Dort finden sich die Quellenangaben für die verwendeten Zitate.
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Abschied von der Realität Notizen zur Rezeption von Dokumentarfilmen Dokumentarfilme boomen: In den vergangenen Jahren schafften es nicht nur viele ins Kino, auch die FilmtheoretikerInnen brachten ihnen eine erhöhte Aufmerksamkeit entgegen. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Dokumentarfilme das starre Korsett, Repräsentationen der Wirklichkeit zu sein, abgelegt haben und dass ihnen wie Fiktionsfilmen auch erzählerische Qualitäten zuerkannt werden.
tionen des Genres übertragen. Die vielleicht bekannteste Definition, die in der einen oder anderen Form immer wieder auftaucht,
t Wenn wir über Dokumentarfilme reden, stellen wir meistens die Inhalte der Filme in den Vordergrund. Im Unterschied zu fiktionalen Filmen spielen ästhetische Fragen, wie FilmemacherInnen beispielsweise die Ereignisse in Szene setzten, welche dramatisierenden Entscheidungen sie getroffen oder welchen Stil sie gewählt haben, eine nur untergeordnete Rolle. Thema der Gespräche ist nicht so sehr das Gemachte, Konstruierte der Filme, die spezifische Perspektive oder die ästhetischen Entscheidungen der FilmemacherInnen, sondern
Dokumentarfilm zu gelten, erscheint zustammt von Wilhelm Roth. Er ist überzeugt nächst alles klar und eindeutig. Im Allgemeidavon, dass in der Regel ein Film als Dokumennen geht man zunächst davon aus, dass Dotarfilm anerkannt wird, »der Ereignisse abbilkumentarfilme nicht-fiktional sind: Sie verdet, die auch ohne die Anwesenheit der Kamezichten weitestgehend darauf, Geschichten ra stattgefunden hätten, indem reale Personen zu erzählen, und sie sind in ihrem Alltag auftreten – »objektiv«. Es sind Filme, ein Film also, der sich an das Wann ist eine Geschichte Gefundene hält.1 die die Wirklichkeit abnoch »gefunden« und Doch schon beim Lesen bilden, so wie sie ist, undieser Definitionen empfinmittelbar und ohne Einwann ist sie »erfunden«? det man manche Unzulängflussnahme von Seiten lichkeit. Ziemlich rasch stelder FilmemacherInnen. len sich weitere Fragen: Was ist denn die Im Mittelpunkt von Dokumentarfilmen steWirklichkeit, auf die sich Dokumentarfilme hen Menschen, nicht Schauspieler sowie scheinbar beziehen? Was ist eine »gefundeOrte und Situationen, die der Wirklichkeit ne« und was ist eine »erfundene« Geschichentsprechen. Ihr zentrales Stilmittel sind te? Oder anders gefragt: Wann ist denn eine Interviews. Sie werden oft dominiert durch Geschichte noch »gefunden« und wann ist einen autoritären Kommentar, der den Zusie »erfunden«? Müssen denn Ereignisse schauerInnen alles erklärt. nicht bereits als »erfunden« gelten, sobald Diese scheinbare Eindeutigkeit wurde von man sie mit einer Kamera abbildet? zahlreichen AutorInnen lange Zeit auf Defini-
die abgebildete Wirklichkeit. Als Beispiel sei mit Bowling for Columbine (2002) von Michael Moore ein Film über den Waffenfetischismus weiter Teile der US-amerikanischen Bevölkerung genannt. Nur selten wird über einzelne Einstellungen, die Kameraführung, die Verwendung des Tons oder über die spezifische Montage diskutiert. Selten auch wird hervorgehoben, dass die Filme von Michael Moore in der Tradition des Cinéma Vérité stehen. Lange wurden auch in den theoretischen Diskussionen die filmästhetischen Qualitäten von Dokumentarfilmen ignoriert. Einer der ersten, der auf diesen Mangel aufmerksam machte, war der US-amerikanische Filmtheoretiker Bill Nichols. Man solle endlich aufhören, nur über das »Was« zu sprechen, wenn man über Dokumentarfilme rede, sondern auch das »Wie« thematisieren. Nur so sei es möglich, anzuerkennen, dass auch Dokumentarfilme ästhetische Qualitäten besitzen.
von Vo l k e r K u l l t Am Beginn der Überlegungen, was denn ein Dokumentarfilm überhaupt sei und welche Kriterien ein Film erfüllen müsse, um als
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Dokumentarfilme als Texte
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Dokumentarfilm »Nur dadurch, dass wir untersuchen, was eine bestimmte Reihe von Tönen und Bildern bedeuten, können wir beginnen, den Dokumentarfilm vor dem anti-theoretischen, ideologisch komplizierten ‚Dokumentarfilmgleicht-Fenster-Argument’ zu retten und davor, dass die Leinwand eher ein Fenster als eine reflektierende Oberfläche sei.« 2
Abbildung der Realität? t Um sich von der allzu simplen Haltung zu distanzieren, dass Dokumentarfilme die Wirklichkeit abbilden, differenzierte Eva Hohenberger 3 fünf unterschiedliche Realitätsebenen von Dokumentarfilmen: Die nichtfilmische Realität ist gleichsam die historische, soziale, kulturelle und politische Welt. Sie beinhaltet die gesamte Menge aller überhaupt verfügbaren Bilder und Einstellungen und ist der Teil
den Fernsehformaten von Dokumentarfilmen len, auch kulturspezifischen sowie kinematokennen, ist die Bildsprache von erklärdokumengraphischen Rahmenbedingungen für die taristischen Filmen eher von untergeordneter Produktion eines Films. Von besonderer BeBedeutung. Zentrales Kennzeichen ist vielmehr deutung für den Dokumentarfilmbereich ist ein Off-Kommentar, der beispielsweise die Kamenicht selten allwissenden ratechnik, deren jeweiliCharakter aufweist und ger Entwicklungsstand die Ein Kommentar aus Ästhetik der Filme wesentdem Off will »Objektivität« »Objektivität« beabsichtigt. Aus diesem Grund lich beeinflusst. erzeugen spricht man auch oft von Die filmische Realität ist einem Voice-of-God-Komals die Ebene zu verstementar. Die Montage ist hen, die der Film selbst ist, weniger darauf ausgerichtet, einen raum-zeitnämlich eine Aneinanderreihung von Einstellichen Zusammenhang als rhetorische Kontinulungen und Sequenzen, die nach der Monität herzustellen. Das zentrale Ziel dieser Filme tage als sinnhaftes Ganzes wahrgenommen ist es, Wissen zu vermitteln. wird. Die fünfte und letzte WirklichkeitsErklärdokumentaristische Filme entspreebene ist die nachfilmische Realität. Sie ist chen gleichsam dem, was im Allgemeinen ungleichzusetzen mit der Wahrnehmungs- bzw. ter TV-Dokumentationen verstanden wird. Sie Rezeptionsebene der Filme. Diese Ebene verdecken aber nur einen geringen Teil des dokueint die Rezeption von ExpertInnen, also
Filmstills aus: We feed the world (Erwin Wagenhofer), Good woman of Bangkok (Dennis O'Rourke), Vacances au Pays (Jean-Marie Teno), Cunnamulla (Dennis O'Rourke)
der Wirklichkeit, aus denen die FilmemacherInnen auf der Grundlage ihrer politischen und ideologischen Voreingenommenheiten ihre Filmbilder auswählen. Die vorfilmische Realität ist die Ebene, die sich vor der laufenden Kamera abspielt. Sie ist ganz eng mit der nichtfilmischen Realität verknüpft, denn sie ist es, auf die Dokumentarfilme im Allgemeinen Bezug nehmen. Die vorfilmische Realität wird immer in der Auseinandersetzung der FilmemacherInnen mit der nichtfilmischen Realität hergestellt, indem sie auf der Grundlage von Kriterien der visuellen und dramaturgischen Verwertbarkeit eine Auswahl treffen und diese nicht selten inszenieren. Unter der Realität Film versteht Hohenberger alle Elemente, die in die Produktion eines Films einfließen, darunter Organisation, Finanzierung, Arbeitsweise, Technik, Schnitt, kinematographische Infrastruktur usw. Die Realität Film definiert die historischen, sozia-
FilmkritikerInnen oder -wissenschaftlerInnen, mit der des allgemeinen Kinopublikums. Legt man das Modell von Eva Hohenberger zugrunde, ist der an Dokumentarfilme gestellte Anspruch, die Realität abzubilden, auch auf theoretischer Ebene entkräftet. Dokumentarfilme haben vielmehr unterschiedliche Wirklichkeitsbezüge und nutzen auf der Ebene der filmischen Realität die unterschiedlichsten künstlerischen Formen zur Darstellung der Wirklichkeit, um ihre Geschichten zu erzählen. Insgesamt aber steht Dokumentarfilmen das gesamte Repertoire stilistischer Möglichkeiten zur Verfügung, wie wir es auch von »fiktionalen« Filmen kennen.
Idealtypen von Dokfilmen t Auf diesen Grundlagen lassen sich wiederum idealtypische dokumentarfilmische Repräsentationen unterscheiden: Wie wir es aus
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mentarfilmischen Schaffens ab und haben mit kinematographischen Dokumentarfilmen nur wenig gemein. Die so genannten Interviewfilme stehen in der direkten Tradition der erklärdokumentaristischen Filme. Dabei hat sich die einzelne Kommentarstimme des Erklärdokumentarismus auf mehrere Personen bzw. Stimmen verteilt, so dass statt des simplen didaktischen Reduktionismus der erklärdokumentaristischen Filme eine Mehrstimmigkeit verschiedener Perspektiven möglich wird. Beobachtende Dokumentarfilme erzählen vor allem von Ereignissen, die eine inhärente dramatische, manchmal auch ritualisierte Form aufweisen. Auf Interviews wird weitestgehend verzichtet. Eine indirekte Adressierung von ZuschauerInnen herrscht vor, was einen voyeuristischen Eindruck verstärkt. Darüber hinaus sind die FilmemacherInnen darauf bedacht, ihre Anwesenheit bei den Dreharbeiten als Abwesenheit zu inszenieren. t
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Im Unterschied dazu versuchen die FilmemacherInnen von teilnehmenden, interaktiven und reflexiven Filmen ihre Anwesenheit nicht zu leugnen. Bei interaktiven und reflexiven Filmen noch mehr als bei teilnehmenden Filmen suchen die FilmemacherInnen den Kontakt zu den gefilmten Personen. Sie treten in eine Kommunikation ein und versuchen darüber hinaus, den dokumentarischen Filmprozess selbst zu thematisieren. Dieser reflexive Stil verdeutlicht, womit wir es bei Dokumentarfilmen zu tun haben, nämlich mit Konstruktionen und filmischen Repräsentationen über die Welt. Dies ist noch stärker bei selbst-reflexiven Filmen der Fall, wo die FilmemacherInnen neben den technischen Rahmenbedingungen auch ihre persönlichen Voreingenommenheiten in die Darstellung des Filmprozesses mit einbringen.
Die »Lesetätigkeit« des Publikums t Bei dem Versuch, den Wirklichkeitsbezug von Dokumentarfilmen auf der Ebene der filmischen Realität zu identifizieren, läuft man
unweigerlich Gefahr, definieren zu müssen, was man unter Realität versteht, und unter Umständen in eine tiefgründige philosophische Diskussion einzutreten. Dies veranlasste Roger Odin, den Begriff »dokumentarisch« auf der Rezeptionsebene zu definieren. Ausgehend von der Tatsache, dass jeder Film als dokumentarisch betrachtet werden kann, versucht er nicht, charakteristische Kennzeichen von Filmen zu finden. Er spricht nicht mehr von einem dokumentarischen Genre, als vielmehr von einem »dokumentarischen Ensemble« und von der »dokumentarisierenden Lektüre«. Nach Odin ist die Wahrnehmung eines Films als Dokument sowohl von individuellen Faktoren, sprich dem kinematographischen Vorwissen der ZuschauerInnen, als auch von bestimmten stilistischen Elementen eines Films und von historischen, sozialen, kulturellen und kinematographischen Institutionen abhängig.4 Die Gründe, weshalb man einen Film als dokumentarisch »liest«, liegen also nicht in der normativen Kraft eines Films, sondern sind vielmehr das Resultat eines Kommunika-
tionsprozesses zwischen AutorInnen, Film und ZuschauerInnen.
Anmerkungen: 1 Wilhelm Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960. München 1982
2 Bill Nichols: Image and ideology. Bloomington 1981, S. 172
3 Eva Hohenberger: Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm – ethnographischer Film – Jean Rouch. Hildesheim 1988, S. 28
4 Roger Odin: Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre. In: Eva Hohenberger (Hrsg.). Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms. Berlin 2000
t Volker Kull ist Ethnologe mit Schwerpunkt Dokumentar- und ethnologischer Film, freier Dozent für Visuelle Anthropologie, Filmjournalist und -kurator. Der Beitrag ist gekürzt entnommen aus Poeten, Chronisten, Rebellen. Internationale DokumentarfilmemacherInnen im Porträt, Schüren Verlag 2006, hg. von Verena Teißl und Volker Kull.
Die Filmbewegungen des Cinéma Vérité und des Direct Cinema
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t 1959 brach im Dokumentarfilm eine völVertov zurück. Dementsprechend ist er keilig neue Epoche an. Durch die Entwicklung nesfalls Ausdruck eines puristischen Wahrleichter 16mm-Schulterkameras und der heitskonzeptes, nach dem die Wahrheit a gleichzeitigen Möglichkeit, Synchronton aufpriori existiert und nur noch festgehalten werzunehmen, glaubten die FilmemacherInnen den muss. »Vérité« beschreibt vielmehr die ihrem Ziel, die Wirklichkeit unmittelbar im Wahrheiten, die durch die Stilmittel des Films Film festhalten zu können, einen wesenterst hergestellt werden. Jean Rouch formulierlichen Schritt näher gekommen zu sein. Als te es so: »Für mich jedoch ist Kino-Prawda ein Folge setzte ein regelrechter Boom im Dokupräziser Begriff, [...] der nicht ‚pure Wahrheit’, mentarfilmschaffen ein. Es entwickelten sich sondern die spezifische Wahrheit der aufgezwei dokumentarfilmische Bewegungen, die nommenen Bilder und Töne – eine filmische noch heute das dokumentarfilmische SchafWahrheit, ausdrückt. [...] Das bedeutet nicht fen grundlegend beeinflussen: das Cinéma das Kino der Wahrheit, sondern die Wahrheit Vérité in Europa und das Direct Cinema in des Kinos.« 1 Die FilmemacherInnen unternehmen daNordamerika. Obwohl beide Konzepte insbebei keinen Versuch, ihre Anwesenheit und ihsondere im angelsächsischen Raum oftmals ren Einfluss auf das Geschehen zu verbergen. synonym gehandhabt werden, gibt es entGanz im Gegenteil, die FilmemacherInnen scheidende Unterschiede. verstehen sich als so Der Film, der den Begenannte »agents ginn des Cinéma Vérité provocateurs«. Dies markiert, ist Chronik eines Die FilmemacherInnen Sommers (1960) von Jean verstehen sich als so genannte bedeutet, dass die Rouch und dem franzöDreharbeiten im Sin»agents provocateurs« sischen Soziologen und ne der so genannten Politologen Edgar Morin »provozierenden Ka(*1921). Der Film war als mera« in höchstem soziologisches Experiment geplant. Er erzählt Maße durch die Interaktion der Filmemachervon den Ereignissen im Sommer 1960 wähInnen mit den gefilmten Personen bestimmt rend des Algerienkriegs und von den Erfahsind. Ganz bewusst sollen dabei Reaktionen rungen einer Gruppe junger Leute, die die und Emotionen bei den ProtagonistInnen EinwohnerInnen von Paris und sich selbst hervorgerufen werden mit dem Ziel, Prozesnach ihren Vorstellungen von »Glück« befrase zu thematisieren, die durch die Intervengen. Der Begriff des Cinéma Vérité geht auf tion der FilmemacherInnen möglich werden. das Konzept der »Kino-Prawda« von Dziga Der heute vielleicht bekannteste »agent pro-
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vocateur«, der die Ideen des Cinéma Vérité in seinen Filmen umsetzt, ist Michael Moore. Die andere Filmbewegung, die sich aus der neuen Kamera- und Tontechnologie entwickelte, war das Direct Cinema, auch Uncontrolled Cinema genannt. Die Vertreter des Direct Cinema sind Richard Leacock (*1921), Don A. Pennebaker (*1925), Frederick Wiseman (*1930), Robert Drew (*1924) und die Maysles Brüder, Al (*1925) und David (*1931).2 Im Unterschied zum Cinéma Vérité bevorzugen die FilmemacherInnen des Direct Cinema, auf Interviews zu verzichten. Ebenso sind sie darauf bedacht, keinen Off-Kommentar zu verwenden. Im Unterschied zu vielen aufklärerischen und didaktischen Dokumentarfilmen jener Zeit sollten die Bilder für sich selbst sprechen. Hierzu wird die Anwesenheit der FilmemacherInnen gleichsam als Abwesenheit inszeniert, so dass die FilmemacherInnen für die ZuschauerInnen unsichtbar bleiben, in einer eher beobachtenden Position verharren und es vermeiden, die Geschehnisse vor der Kamera zu beeinflussen. V. K.
Anmerkungen: 1 Jean Rouch: Ciné-Anthropology. Jean Rouch with Enrico Fulchignoni. In Steven Feld: Ciné-Ethnography. Minneapolis 2003, 147.
2 Der kanadische Filmemacher Peter Wintonick hat in seinem Film Cinéma Vérité. Defining the moment (1999) alle noch lebenden Mitglieder der Filmbewegung portraitiert und die wichtigsten Ideen rekapituliert.
Dokumentarfilm
a b le -T d n u o R m a e d e n F il m sch a ff n baarreen deess Daarrsstteellllb Der Dokumentarfilm ist ein einflussreiches Medium, wenn es um die Darstellung gesellschaftlicher Realitäten und sozialer Missstände geht. Dennoch fristete dieses Genre in der Kinowelt lange Zeit ein Schattendasein. Dokumentarfilme wurden vorwiegend für ein kritisches Publikum produziert – zumindest fanden sich die AnhängerInnen eher auf kleineren Festivals. Sozialkritische Filme über die Zusammenhänge zwischen Nord und Süd erreichten bislang primär ein vorinformiertes und politisch interessiertes Publikum. Erst in den letzten Jahren erwecken Dokumentarfilme auch im Kino die Aufmerksamkeit bei einer größeren Öffentlichkeit. Dabei haben sich die Darstellungsformen der Wirklichkeit und die Ästhetik des Dokumentarischen stark verändert. Wir sprachen mit Freiburger Filmschaffenden über die Grenze zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem. Hans-Peter Hagmann arbeitet im Kommunalen Kino in Freiburg. Er hat verschiedene Lehraufträge im Medieninstitut der Pädagogischen Hochschule und an der Universität im Bereich Dokumentarfilm und visuelle Anthropologie. Sein Film Bomben auf Freiburg (zusammen mit Dirk Adam) ist für seine Begriffe »mehr eine Dokumentation als ein Dokumentarfilm«. Klaus Fuhrmann hat für das Fernsehen ethnographische Filme gemacht, ein »Mittelding zwischen Dokumentarfilmen und Reportagen«. Er gibt Seminare zu dokumentarischen Filmtechniken und zur visuellen Anthropologie. Mirjam Quinte ist Produzentin von Dokumentarfilmen, unter anderem von Nach Saison (zusammen mit Pepe Danquart) und Workingman’s Death (von Michael Glawogger). Sie ist zudem Gründungsmitglied der Freiburger Medienwerkstatt. Wolfgang Stickel ist »Dokumentarfilmliebhaber« und arbeitet als »selbständiger Multimedia-Service-Man«. Zudem ist er langjähriger Mitarbeiter der Freiburger Medienwerkstatt.
iz3w : Dokumentarfilme bewegen sich oft in einem Spannungsfeld zwischen Authentizität und Inszenierung. Wir würdet ihr den Dokumentarfilm gegenüber anderen Formen nicht fiktionaler filmischer Darstellung abgrenzen? t Mirjam Quinte: Man muss allein schon zwischen Reportage und Dokumentarfilm unterscheiden. Bei der Reportage hast du eine Dreiviertelstunde im Fernsehen mit viel Kommentar. Du hast eine bestimmte Theorie und bebilderst sie. Das begreife ich als journalistische Arbeit. Der Dokumentarfilm funk-
tioniert mehr einer bestimmten Dramaturgie folgend... t Hans-Peter Hagmann: Inszenierungen waren früher im ethnografischen Dokumentarfilm üblich. Heute ist das eher eine teilnehmende Beobachtung, mit dem Versuch, so wenig wie möglich mit der Kamera zu stören. Das ist ein eher partizipativer Ansatz. Aber auch die technischen Mittel haben eine große Wirkung im Hinblick auf die Authentizität. Beim Einsatz einer Handkamera z.B. hat der Betrachter viel mehr den Einiz3w
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druck, das Gefilmte war spontan und eben nicht inszeniert. t Wolfgang Stickel: Es gibt aber auch das andere Extrem: Dokumentarfilme, die vollständig inszeniert sind, in denen mit SchauspielerInnen eine dokumentarische Situation nachgestellt wird. Ich denke z.B. an den Film Das Problem ist meine Frau von Calle Overweg. Da geht es um Gewalt gegen Frauen. Der Filmemacher hat Aufnahmen und Interviews mit Männern gemacht, die ihre Frauen schlagen. Daraus hat er fingierte, inszenierte Therapiesitzungen gemacht. Die Schauspieler sind in die Rollen der Männer geschlüpft und haben deren Argumentationen und Redeweisen übernommen. Anders hätte das Thema gar nicht behandelt werden können, weil sich die betroffenen Männer geweigert hätten, sich filmen zu lassen. t Hans-Peter: Ich fand bei diesem Film ganz außergewöhnlich, dass die Inszenierung hier ganz explizit gemacht wurde: immer wieder wurde eine Sequenz dazwischen geschaltet, in der sich die Schauspieler darüber unterhalten haben, wie sie jetzt spielen müssen, damit sie so authentisch wie möglich wirken. Ab welchem Punkt wird denn die Grenze vom Dokumentarischen zum Fiktionalen überschritten? t Mirjam: Wenn eine Szene der Phantasie, einer Idee entspringt, dann ist es fiktional. Zwar schöpft man auch eine Spielfilmidee oft aus Erfahrungen, aber in der filmischen Umsetzung kommen Interpretationen oder die Phantasie der AutorInnen ins Spiel. Im Doku-
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Dokus, Doku-Fiction, Reality-Crimes, RealityGerichtsverhandlungen. t Mirjam: Da geht es ja nicht wirklich um Dokumentarisches, da geht es um Sensationslust. t Wolfgang: Ja, aber es gibt auch Seriöses in diesem Bereich. Aktuell zum Beispiel in der Reality-Soap vom Leben in der Eiszeit, wo versucht wird, die damalige Lebenswelt nachzustellen. t Mirjam: Papperlapapp. Also wenn das nicht inszeniert ist ... t Wolfgang: Natürlich ist das inszeniert. Aber es ist eine bedeutende und erfolgreiche Form im Fernsehen, die unter dem Label Dokumentarfilm läuft. Im Duisburger Dokumentarfilm-Festival war das heiß umstritten, inwieweit diese Formate eine Art von Realitätswahrnehmung bei den ZuschauerInnen tref-
der Dokumentation darstellen. Und genau das lässt sich heute sehr gut vermarkten. Bei Filmen über den Süden wissen die ProtagonistInnen oft gar nicht, wie das Filmmaterial später genutzt wird. Welche Konflikte ergeben sich dabei? t Hans-Peter: Es ist natürlich richtig, nicht nur die Bilder zu zeigen, die medial bereits abgefeiert worden sind und eine bestimmte westliche Sicht darstellen. Aber das wird oft von den verschiedensten Interessen überlagert. Beim letzten Filmforum in Freiburg hatten wir einen indischen Filmemacher zu Gast, der erzählte, dass es in Indien inzwischen eine Sparte gibt, die sich NGO-Film nennt. Diese Filme werden von NGOs finanziert und verfolgen den Zweck, Unrechtszustände zu zeigen und damit Geld zu akquirieren. Dabei werden oft gerade Klischeebilder bemüht, um Bedürfnisse von BetrachterInnen oder ZuschauerInnen zu bedienen. Problematisch wird es, wenn man einen Film über Kinderprostitution oder Kinderarbeit machen will und dann alle Dinge, die auch in eine andere Richtung weisen, selektiv einengt oder ausschließt. Foto: M. Backes
mentarischen ist es hingegen so, dass man an einen bestimmten Ort geht, etwas sieht, hört, empfindet. Man beobachtet die Wirklichkeit. Und dann ist es die Frage, wie man diese Wirklichkeit inszeniert. Dabei muss man sich darüber klar sein, dass man immer auf eine gewisse Weise in das Geschehen eingreift, sobald man eine Kamera aufbaut. Die Frage ist eben, wie weit man eingreift und was man aus der Wirklichkeit rausholt. Das ist für mich der Unterschied. t Hans-Peter: Letztendlich liegt die Entscheidung darüber, ob ein Film ein Dokumentarfilm ist oder nicht, auch bei den BetrachterInnen. Ob ein Film glaubwürdig ist, ist viel entscheidender als die Methode, mit der die Bilder zustande gekommen sind. Bei diesem Punkt fällt mir Michael Moore ein. Hier sind die Bilder so montiert, dass sie die ZuschauerInnen auf eine bestimmte Meinung stoßen, ein Stück weit tatsächlich auch manipulieren. t Klaus Fuhrmann: Bei Michael Moore ist die Manipulation vollkommen offensichtlich. Das merkt im Grunde jeder, auch der, der nicht über Schnitt und Montage Bescheid weiß. Deshalb ist das eine Art ehrliche Propaganda. Das ist anders als bei vielen anderen Filmen, die subtiler versuchen, durch Schnitt, Montage und die gezielte Auswahl von Bildern eine politische Meinung zu beeinflussen. t Mirjam: Das erinnert mich an unsere früheren »Szene«-Filme (Medienwerkstatt Freiburg, Anm. d. Red.). Wir hatten unsere Theorie, unser Weltbild und daraufhin haben wir gefilmt. Das waren filmische Flugblätter. Was uns an Material in die Hände fiel, haben wir zur Untermauerung unserer Thesen benutzt. So arbeitet Moore eigentlich auch. Und seine Filme werden deshalb so gerne gesehen, weil er andere vorführt und entblößt, weil die Leute Under-Cover-Geschichten gerne mögen und weil er sich selbst auf eine naiv-plump-lustige Weise in Szene setzt. Das amüsiert, und er bestätigt Meinungen, die man eh schon hat. t Hans-Peter: Ich denke auch, dass die Manipulationsthese heute nicht mehr stimmt, nicht mehr stimmen kann, weil doch mittlerweile jeder über filmische Gestaltungstechniken, die auch manipulativ sein können, Bescheid weiß... t Klaus: Ja schon, andererseits interessiert es aber auch niemanden mehr, ob er oder sie manipuliert wird. Das Unterhaltenwerden steht stärker im Vordergrund und das verbindet sich immer mehr mit dem Dokumentarischen. Diese Tendenz zum Dokumentarischen zeigt sich in neuen Formaten: Reality-
Geht es denn überhaupt, einen Film z. B. über Kinderarbeit fernab dieser Klischees zu machen? Wie kann man die Realität zeigen, ohne die Menschen auf die Rolle des reinen Opfers zu reduzieren? t Wolfgang: Da steht ja zunächst einmal fen. Sicherlich gibt es da viele unseriöse das Interesse der FilmemacherInnen. Was beFormen. Aber das dokumentarische Beobwegt mich, den Film zu machen? Will ich achten von Alltagssituationen hat insgesamt Geld sammeln für Projekte, will ich die reale eine große Bedeutung gewonnen. t Mirjam: Das ist ja keine Realität, die darSituation zeigen, dass nämlich Kinderarbeit gestellt wird. Da werden Menschen ganz beauch ein wichtiger Faktor für den Unterhalt wusst in Situationen gebracht, in denen sie der Familien ist? Es gibt keine neutrale Beobreagieren müssen. Das ist wie Mäuse im Käachterposition. Ausschlag gebend ist immer fig beobachten. Mit dem Bedürfdie Position der Filmenis nach Verständnis der Welt hat macherInnen und die »Es gibt keine neutrale das nicht viel zu tun – was man Wirkung, die sie erziemit dem ethnografischen Film len wollen. Beobachterposition« oder Dokumentarfilm zu befrieWie würden sich kritidigen sucht. Es geht doch vielsche FilmemacherInnen, die frei von äußeren mehr um das Lust-erleben, zu sehen, wenn Zwängen sind, dem Phänomen Kinderarbeit andere sich öffentlich entblößen. t Klaus: Es gibt dokumentarische Vorfahannähern? t Mirjam: Die erste Voraussetzung für so ren von dieser Art der Realitätsbetrachtung: einen Film ist Neugier. Ich würde keinen Film Jean Rouch beispielsweise mit seinem cinema vérité. Dabei geht es um die Realität, die erst von FilmemacherInnen produzieren, die beunter der Anwesenheit der Kamera und des reits ein festes Konzept in der Schublade haFilmemachers entsteht, um die realen Empben. FilmemacherInnen müssen so rangefindungen, die dabei hochkommen. Dieses hen, dass sie sich interessieren, Fragen haben Muster findet sich auch bei diesen Dokuund sich mit diesem Fragen ihren Subjekten Shows wieder, in denen gerade die herausgeannähern. Z. B.: Was macht es mit einem kitzelten Emotionen die zentralen Momente Kind, wenn es ganz früh arbeiten muss; wenn
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Und wie würdet ihr den klassischen Dokumentarfilm definieren? t Mirjam: Das kann man nicht eindeutig festlegen. Es ist ja auch die Frage, ob ich einen Dokumentarfilm fürs Kino mache oder fürs Fernsehen. Bei einem Kinofilm habe ich den Anspruch, dass der Dokumentarfilm eine bestimmte Dramaturgie, eine bestimmte Bearbeitung haben muss. Im Kino, in dem dunklen Raum vor einer großen Leinwand hat man andere Erwartungen – und für die FilmemacherInnen stellen sich eben auch andere Erfordernisse. Bei den Dokumentarfilmen, die fürs Kino produziert werden, gibt es Filme, die eher nur über Bilder sprechen, dann gibt es welche, die eine ausgeklügelte Dramaturgie haben, bis hin zu den inszenierten Elementen. Was sind die Kriterien, die den Dokumentarfilm fürs Kino geeignet machen? t Mirjam: Wenn wir einen Film ins Kino bringen, wollen wir ZuschauerInnen haben. Die haben wir nicht, wenn wir sie über ein bestimmtes Thema belehren wollen. Man muss sie mit etwas ins Kino locken. Die Filme müssen einen bestimmten Unterhaltungswert haben, ob das auf der sinnlich-poetischen Ebene liegt oder ob sie eine Dramaturgie haben, bei der man auf die Geschichte gespannt ist. Sie brauchen einen Spannungsbogen. KinoDokumentarfilme brauchen bezüglich Technik, Sounddesign und Bearbeitung eine ganz andere Qualität als Filme fürs Fernsehen. t Hans-Peter: Ich beobachte in dem Zusammenhang eine Annäherung des Dokumentarfilms an bestimmte fiktionale Erzählmuster. Inzwischen steht die Narrativität sehr
regelrecht aus dem Dokumentarfilm importiert. Das geht inzwischen hin und her: der Dokumentarfilm kommt im Fernsehen und im Kino und das beeinflusst sich wechselseitig. Die Bildsprache im Kino passt sich immer mehr dem Fernsehen an: früher hatte man zum Beispiel sehr viel mehr Totalen in den Kinoproduktionen, heute hat man viel mehr Großaufnahmen (close-up) im Stil des Fernsehformats. t Mirjam: Für mich ist die Annäherung des Dokumentarfilms an den fiktionalen Film ein wichtiger Aspekt: Du musst auch im Dokumentarischen den ZuschauerInnen die Möglichkeit geben, eine Emotionalität aufzubauen, mit zu leben, etwas mit zu empfinden. Erst damit erzeugst du überhaupt die Bereitschaft, Hintergründe erfahren zu wollen. Egal ob inhaltlich, emotional oder auf einer rationalen Ebene – wichtig ist, dass die ZuschauerInnen gefesselt sind und dass es glaubwürdig erscheint. Du kannst sie ja trotzdem im luftleeren Raum lassen wie bei Unser täglich Brot von Nikolaus Gayrhalter, der etwas umstritten war. Hier wurde völlig wertfrei gezeigt, wie heute Nahrungsmittel produziert iz3w
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werden, ohne irgendwann mal zu sagen: das ist böse oder schlecht. Ist damit gemeint, dass die Filme ohne Kommentar frei von irgendeinem moralischen Impetus sind? Filme, die einfach nur Bilder haben, keine Interviews und keinen Kommentar? Da besteht doch die Gefahr, dass letztlich übermächtige und emotionalisierte Bilder in Erinnerung bleiben, klischeehafte Szenen. t Mirjam: Unser täglich Brot hat keinen Kommentar, aber ich sehe trotzdem die Realität, wie die Nahrungsmittel produziert werden. Und ich habe als ZuschauerIn ein Wissen, das ich mitbringe. Die Moral ist schon in meinem Kopf, die muss mir nicht der oder die FilmemacherIn vermitteln. Ich fand es einen sehr hehren Anspruch des Films, uns das zu zeigen, was man normalerweise nicht sehen kann, an was man sonst nicht dran kommt als ZuschauerIn. t Wolfgang: Ob mit Kommentar oder ohne ist doch völlig egal. Die Bilder werden ausgewählt, sie sollen eine bestimmte Botschaft transportieren und das machen sie auch. Der Kontrast dazu ist We feed the world von Erwin Wagenhofer. Das war ja das gleiche Thema, aber mit Kommentar. Ich fand Unser täglich Brot eindrucksvoller, obwohl er keinen Kommentar hatte. Der Film hat dich selbst mehr gefordert, dir eine Position zu bilden, und die Bilder sind so mächtig, dass du dich nicht drum herum drücken kannst. Was gezeigt wird, das ist Backstage, die Welt, die uns verborgen bleibt, die wir nie zu sehen bekommen. Da braucht es keinen Kommentar, denn die Bilder sprechen für sich. Foto: M. Backes
im Zentrum und das Bestreben, die Zuschaues keine Kindheit hat? Was passiert da? Gehst erInnen emotional zu involvieren. Das ist du mit einer fertigen Theorie dahin oder aus ganz anders als bei früheren Filmen, in denen Neugierde? Willst du was wissen, willst du das Thema nicht so stark mit Blick auf die Zuauch was lernen von deinem Gegenüber? Filschauerorientierung bearbeitet wurde und memacherInnen sind genauso Teil des Prozesdie damit aber auch sehr viel randständiger ses wie die ProtagonistInnen. t Hans-Peter: Ein wichtiges waren. Mit der Zeit haElement ist für mich in die»Dokumentarfilme haben ben die Dokumentarfilsem Zusammenhang, dass merInnen sich stärker es sich lange verscherzt, die betroffenen Menschen an den Sehgewohnheieine Stimme haben, ihre ten der ZuschauerIndurch das Belehrende, Innensichten präsentieren nen orientiert, die ja Besserwisserische« können und die nicht von eivom fiktionalen Film nem allwissenden Kommengeprägt sind. Auf der tator übernommen wird. Dass ein Kind z.B. anderen Seite: Die dänische Dogma 95-Beselbst erzählt, wie es Kinderarbeit empfindet, wegung hat im fiktionalen Film Elemente was gut ist, und was es als schlecht empfinübernommen, die vorher als originär dokudet. Ein Film, der von Anfang bis Ende mit mentarisch galten. Dogma 95 hat AuthentiKommentaren zugetextet wird, ist für mich sierungsstrategien wie die spontane Kamera kein Dokumentarfilm im klassischen Sinn.
Was will denn der Dokumentarfilm heute? Unterhalten, aufklären, etwas politisch in Bewegung setzen? t Hans-Peter: Die Dokumentarfilme haben es sich lange verscherzt, durch das Belehrende, Besserwisserische. Es war einfach zu offensichtlich, dass hier Propaganda gemacht wird. Heute geht man subtiler vor: jede Menge Material verschießen und die entscheidenden Szenen zusammenmontieren. Dann hast du auch deine politische Botschaft. Das ist heute angesagter und es fällt nicht so auf. Ein qualitativ guter Film präsentiert allerdings kein eindeutiges Weltbild wieder, sondern gibt Anstöße, die eine Interpretation fordern.
Das Gespräch führten Martina Backes und Sigrid Weber, beide Mitarbeiterinnen im iz3w .
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»Keine Probleme mehr am Abend« Interview mit dem Filmemacher Peter Ohlendorf über den Verlust filmischer Freiheit iz3w : Sie haben explizit einen politischen Anspruch an das Dokumentarfilmen. Wo hört für Sie das Dokumentarische auf? t Peter Ohlendorf: Ich möchte die Realität so einfangen, wie sie für mich in dem Moment ist, in dem ich sie wahrnehme. Natürlich ist sie damit subjektiv gefiltert, denn ich schwenke irgendwohin und setze damit einen Fokus. Das wird immer so sein, denn ich bin in meiner politischen Wahrnehmung eben ein subjektiver Mensch. Nur muss meine Haltung dann auch durch meine Filme klar werden, damit der Zuschauer mich erkennt.
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Und das funktioniert auch bei Fernsehfilmen so? t Der persönliche Ansatz eines Filmemachers wird dadurch, dass es beim Fernsehen Formatierungen gibt, zunehmend verwässert. Das ist der Grund, warum ich nicht mehr primär fürs Fernsehen arbeite und versuche, einen anderen Weg zum Publikum zu finden. Ich recherchiere nicht, erstelle dann ein Drehbuch, gehe drei oder vier Wochen zum Drehen, fertig. Nein, ich folge dem Thema sukzessive. Die Geschichte mäandriert, ich setze mich mit der Kamera auf den breiten Fluss der Ereignisse und versuche, die Strömung zu nehmen, die sie nimmt. Der Film generiert sich zum Teil aus sich selber heraus. Das heißt, ich bin eigentlich nicht, wie man so schön sagt, der Regisseur – was ja ohnehin ein großes Wort für einen Dokumeniz3w
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tarfilmer ist -, sondern ich versuche einfach zu hat und alle in die Hände klatschen. Klar, jeverstehen und zu begleiten. Ich bin eben der Redakteur wäre an diesem Punkt glücknicht derjenige, der das Heft in der Hand hat. lich und würde sagen, wunderbar, wir haben Im Schnitt, klar, da muss ich das Material wieder mal gezeigt, wie es sein kann. Aber komprimieren und habe nein, die Realität geht weidann das Heft in der Hand, ter. Man sieht dann ein»Ich setze mich mit der doch vorher bin ich Teil der deutig, trotz dieser ChanKamera auf den breiten Ereignisse. Begleiten heißt ce für viele, bei Domiziel für mich nicht punktuell filmitzuarbeiten, fallen auch Fluss der Ereignisse« men, sondern über lange viele wieder raus. Es paStrecken dabei sein. Meine cken eben nicht alle, auch Projekte ziehen sich über Jahre. Wann der das zeigt der Film, es gibt die Highlights, aber Film fertig ist, bestimme nicht ich, oder denauch die Abstürze. Erst durch die Palette an ke vorher darüber nach. Ein sinniger EndRealitäten lernt man, was Integration heißt, punkt ergibt sich, und ich kann nicht vorherwas überhaupt »Chance, wieder einzusteisagen, wann das ist. gen« bedeutet. Ich bin natürlich erst einmal enttäuscht, wenn einer wieder abstürzt, aber An welchem Projekt arbeiten Sie gerade? fange an zu begreifen, warum er die Chance t Es geht um eine Baufirma im Schwarznicht nutzt. Dass er trotzdem ein wertvoller wald namens Domiziel, die Häuser renoviert, Mensch ist. Ich mache also nicht nur einen die niemand mehr haben will, weil sich, so Film, ich lerne selber auch enorm viel dabei. wird gesagt, kein Investment mehr lohne. Das ist die Neugierde, die man beim Filmen Und die Menschen ins Team integriert, die haben sollte. auch keiner mehr haben will, vom AlkoholiFilme, die über einen langen Zeitraum entker bis zum Junkie und Knasti. Ein Projekt, das standen sind, haben dann eher im Kino ihren die Menschen nicht an den Rand schiebt, Platz? sondern wieder in die Mitte der Gesellschaft t Zum Kino kann ich nur als Rezipient etwas holt. Am Anfang dachte ich, wenn ein Haus sagen. Meine Erfahrung ist, dass hier nur Dofertig ist, dann war es das. Aber es ging weikumentarfilme laufen, die einen großen Nater. Und es ging nicht nur aufwärts, es gab men haben, wie etwa »Darwins Nightmare«. auch eine Delle. Und die war interessant. Um Tolle Sache, doch hierzu muss man sagen: ein großes Wort in den Mund zu nehmen: es dieser Film hatte Paten z.B. in Form der absogibt so etwas wie eine andere Wahrhaftigkeit. lut außergewöhnlichen WDR-arte-Redaktion, Der Film hört nicht auf, weil die Firma Erfolg
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Peter Ohlendorf begann vor rund 20 Jahren für das öffentlichrechtliche Fernsehen zu arbeiten. Zuletzt wurden von ihm gesendet: »Tödliche Geschäfte. Waffen aus Deutschland« (WDR, 2005 und 2006), »Das Geheimnis der Palmblätter. Laos sucht seine Geschichte« (SWR, 2006). Aktuell in Arbeit ist ein Film über die Folgen der Globalisierung in Neuseeland – dem Land, das einst den Vorreiter bei Privatisierung und Deregulierung spielte (WDR/arte Redaktion). Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt seit einigen Jahren bei vollkommen frei produzierten, dokumentarischen Langzeitbeobachtungen.
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Dokumentarfilm die den Film stark gefördert hat, sonst wäre er nie entstanden. Viele Produktionen schaffen diesen Sprung deshalb nicht, weil sie von den Bildern her nicht so opulent sind, wenngleich genauso interessant. Geld wird mit opulenten Bildern gemacht, Hochglanz ist gefragt.
bild für alles ist, muss dann das Material entsprechend getrimmt werden. Hier findet eine Globalisierung des Produktes Film statt, damit es dann zumindest in Europa über die Grenzen hinweg verkauft werden kann.
Globalisierung könnte doch auch heißen, ganz verschiedene Formen und neue TendenTrifft das nicht für Dokumentarfilme im Kino zen des Dokumentarfilmschaffens, also mehr und im Fernsehen gleichermaßen zu? Collage, mehr Performance, mehr stilistische t Ja, Hochglanz wird auch im Fernsehen zuFreiheit, zuzulassen. Schließlich haben die ZuschauerInnen doch auch ein breites Speknehmend gefordert, wie auch populäre Thetrum an Rezeptionsmustern, interpretieren men. Das Fernsehen will Quote machen. das Gesehene individuell. Manche RedakteurInnen sind willig, aber zu t Das ist die Variante, die auf Festivals ihren schwach, um interessante Dokumentationen Platz hat. Das finde ich extrem befreiend. Amauf einem Platz zu etablieren, der vielleicht sterdam zum Beispiel ist ein Festival, das noch nicht 100-prozentig dafür formatiert ist. Die den Mut hat, verschiedene Handschriften zuPlätze sind so formatiert, dass die Filme da zulassen, Experimentelles, Leute die einen Anzum größten Teil nur noch nach einem vorgespruch haben, der nicht formatierbar ist, die gebenen Strickmuster reinpassen. Das lässt wirklich auch mit keine Freiheit mehr, einen Ideen kommen, bei Film so entstehen zu lassen, »Die Fernsehprogramme denen deutsche Rewie es die Situation erlaubt hat, oder auch ein Thema sind komplett entvisionisiert« dakteurInnen sagen, das ist ja nicht »entstehen« zu lassen. Die programmfähig. Politik der Sender ist unDie Fernsehprogramme sind komplett entviglaublich rigide geworden. Der WDR auf seisionisiert, unglaublich an der ökonomischen nem Auslandsreporterplatz hat klar die DeviRealität orientiert, pragmatisch, aber nicht se ausgeben: keine Probleme mehr am Abend mehr offen für irgendeine Form von Experifür die Zuschauer auf der Couch. Spaß, wir menten. Das ist Verarmung. Früher hatte man wollen die bunte schöne Welt zeigen. die Möglichkeit, mit RedakteurInnen zuWarum ist das Fernsehen so unflexibel, wo sammenzuarbeiten, die für Sendeplätze didoch auch Kritik der Zuschauerschaft an dem rekt verantwortlich waren. Das ist heute in 90 immer flacher werdenden Programm bis in Prozent der Fälle undenkbar. eine große Öffentlichkeit dringt? t Das ist wie beim öffentlichen VerkehrssysWas wäre für Sie ein Nord-Süd-Thema für tem. Wenn es zu wenige Fahrgäste gibt und einen großen Kinofilm? deshalb die Fahrpreise erhöht werden, dann t Die deutsche Rüstungsindustrie, ein Thefahren noch weniger Fahrgäste mit. Das ist eima vor der eigenen Haustüre. Etwa das G3, ne Negativ-Spirale. Genauso ist es beim Fernein Gewehr, ein deutscher Exportschlager, sehen. Viele Themen laufen nicht mehr, weil und für viele Kriege mitverantwortlich. G3, die Zuschauer, die sich früher dafür interesdas ist die Waffe – zusammen mit der Kasiert haben, schon längst ausgestiegen sind. laschnikov sowie britischen und israelischen Die sagen sich, bei dem Angebot wühle ich Fabrikaten –, die über den ganzen afrikanimich erst gar nicht mehr durch dieses unschen Kontinent wandert, völlig unkontrolglaubliche Programm, ich lese lieber gleich lierbar. Solange es diese Waffen gibt, werden ein gutes Buch. alle Wiederaufbaubemühungen zerschossen. Die Herstellerfirma sitzt in Oberndorf. DarüTV-Dokumentationen über ferne Länder werber ein großer Film, ähnlich wie Michael den gerne in der Rubrik »Menschen, Länder Moore das für Amerika gemacht hat. Ein Abenteuer« eingeordnet. Was wollen diese Film, der sich nicht auf das Segment KinderFilme? soldaten beschränkt, sondern auf »unseren« t Die Handschrift der RedakteurInnen in Export in diese Länder. Wenn wir diese Wafden verschiedenen Sendeanstalten spielt da fe nicht loswerden, die auf allen Ebenen geeine große Rolle. Ich bin nie bei »Menschen, handelt, eingesammelt und wieder verteilt Länder, Abenteuer« gelandet, weil mir das zu wird, dann gibt es keinen Frieden. unpolitisch war. Und es steht der Versuch im Ihr Anspruch an den Film wäre also, gegen die Vordergrund, Produkte herzustellen, die Rüstungsindustrie zu mobilisieren? international kompatibel sind. Der Trend ist, t Absolut. Es müsste ein großer Film sein, viel Geld für eine Produktion auszugeben, der eine Reaktion in der Öffentlichkeit ausund diese dann an andere zu verkaufen. Dalöst. Bereits der erste Sudankrieg konnte nur bei muss man schnell hier und da einen Abgeführt werden, weil deutsche Militärhilfe strich machen. Ganz stolz sind RedakteurIngeleistet wurde. Am Beispiel Sudan, einem nen, wenn sie mal mit der ‚großen’ BBC Land, das 50 Jahre Bürgerkrieg mit einer kooperieren können. Weil die BBC das Voriz3w
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Unterbrechung von circa zehn Jahren hinter sich hat, kann man zeigen, dass es auch eine deutsche Verantwortung dafür gibt, dass dort noch heute Krieg geführt wird – eine vielleicht groteske Art und Weise, wie auch in Deutschland Kontinuitäten gelebt worden sind. Der Zweite Weltkrieg war noch gar nicht so lange her, und schon wieder gab es deutsche Interessen und Fantasien schlimmster Art, die in anderen Kontinenten ausgelebt wurden. Wenn man Themen filmen will wie Hunger, Krieg, Elend – ohne die Bildklischees von selbstverschuldeter Armut zu bedienen – wie geht man als FilmemacherIn mit Bildsprache um? t Bei einer Fernsehproduktion im Sudan war die Situation für mich extrem eindrücklich. Ich habe, obwohl ich viele entwicklungspolitische Themen gefilmt habe, noch nie ein Land so zurückgeworfen gesehen, so viele traumatisierte Menschen. In dem Film geht es um das G3, und mir war es wichtig, Bilder im Kontext dieser Waffe zu zeigen. Die Diskussion mit der Redaktion begann bei Bildern von Leichen, von zerschossenen Menschenleibern. Was können wir da noch zeigen? Um wirklich zu zeigen, was da passiert, muss ich die Leute an die Realität heranführen. Bilder von einem komplett zerrissenen Menschenleib würde ich aber nicht mehr zeigen, da sind für mich Grenzen. Ein anderes Bild, das die Redakteurin nicht akzeptierte, war das eines Babys, ein paar Monate alt, abgemagert zu einem Skelett, das ins Grab gelegt wurde. Für mich das allerschlimmste aller Bilder, in seiner Grausamkeit dennoch präsentabel, denn es wirkt wie eine Metapher. Wir kennen ähnliche Bilder aus der eigenen Geschichte. Da sieht man dann plötzlich, was im Sudan stattfindet, bedingt durch das deutsche G3, also auch in deutscher Verantwortung. Weil das Bild so assoziativ war, hätte ich es gerne genommen. Sie bestimmen also aus Ihrem Empfinden heraus, was zeigbar ist und was nicht? Welche Rolle spielen bei dieser Entscheidung die Gefilmten? t Wenn mir jemand beim Dreh sagt, ich solle aufhören, dann wird die entsprechende Situation nicht gezeigt. Auf einer Demo kann ich natürlich nicht jeden fragen, aber ich frage die Leute, sobald ich in einem privaten Bereich bin. Entwickelt sich hier eine Situation und ich konnte erst mal nicht von jedem gleich die Zustimmung einholen, dann hole ich mir im Nachhinein immer die Legitimation der Leute. Wer diese Prämisse nicht einhält, der darf in dem Bereich nicht arbeiten. Jeder hat das Recht auf sein Bild und seinen Ton. Das ist ohne Wenn und Aber zu respektieren.
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Das Gespräch führte Martina Backes.
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Dokumentation des Undenkbaren Politischer Dokumentarfilm zu Lateinamerika Trotz nicht verstummender Unkenrufe aus der marktorientierten Kinowelt hat das politische Dokumentationskino zu Lateinamerika eine Vielzahl interessanter Werke produziert. In den 1960er und 70er Jahren waren Dokumentationen Teil des Widerstandes gegen Unterdrückung im eigenen Land. Lateinamerika ist inzwischen um einige Diktaturen ärmer – und immer noch eine Welt reich vor allem an sozialer Konfrontation. von J o n a s H e n z e
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t Der politische Dokumentarfilm aus und Kinos« (siehe Kasten) nach wie vor präsent. Es über Lateinamerika macht ZuschauerInnen war die Epoche des Widerstandes, in der sich bis heute zu ZeugInnen bitterer Realitäten im Laufe der 1960er und 70er Jahre Kino als und manchmal pathetisch anmutender Hoff»Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und nungen. Er positioniert sich als Medium für Motor politischer Veränderungen« (Bettina Antworten auf die neolibeBremme) äußerte. In dieser rale Globalisierung ständig Zeit forderte etwa der ArEs gibt die europäische neu. Gleichzeitig hat dieses gentinier Fernando »Pino« Sicht auf LateinameriGenre zwei Perspektiven, die Solanas zusammen mit Ocvielleicht als zwei Formen tavio Getino ein »Kino der ka und die lateinamerides gleichen Anliegens gelDekolonisation«: Kino abkanische Eigensicht ten können: Es gibt einerseits von Hollywood, aber seits die europäische oder auch außerhalb der als inUS-amerikanische Sicht auf Lateinamerika dividualistisch gesehenen Tradition des euround andererseits die lateinamerikanische päischen Autorenkinos. Solanas wurde mit Eigensicht. Diese findet in Europa wieder seinem Mammutwerk La hora de los Hornos (Die Stunde der Hochöfen / 1968) bekannt. verstärkt ihren Weg in kommunale Kinos, zu La hora de los Hornos ist »Spiegel gesellschaftalternativen Filmfestivals und neuerdings solicher Verhältnisse«, die von Gewalt und gar auf den europäischen DVD-Markt. Neokolonialismus geprägt sind und insofern Für diese lateinamerikanische Eigensicht auch »Motor politischer Veränderungen«, als ist die Ära des »Neuen lateinamerikanischen
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dass Solanas sich darin deutlich als Peronist zu erkennen gab. Bis heute ist umstritten, ob diese Zeit des polit-aktivistischen Dokumentarfilms in Lateinamerika die Zeit eines Films und einer Ästhetik gewesen ist. So bezeichnet der chilenische Filmemacher Patricio Guzmán (Regisseur von La Batalla de Chile und Salvador Allende) das lateinamerikanische Kino als ein zu einem großen Teil a posteriori erfundenes.
Solanas’ Argentinien t Im Unterschied zur Epoche des »Neuen lateinamerikanischen Films« ist der Filmschaffende heute auch in Lateinamerika nicht mehr automatisch auch Dokumentarfilmer. Während auch Länder Lateinamerikas, in denen bisher kein größeres eigenständiges Kino existierte, das Spielfilm-Genre für sich entdecken, ist der Dokumentarfilm nicht im gleichen Maße davon betroffen. Trotzdem kommt es in den letzten Jahren immer wieder zu bemerkenswerten Dokumentationen aus Lateinamerika – dem Markt zum Trotz: In lateinamerikanischer Eigensicht und ein wenig in der Tradition des »Dritten Kinos« hat sich zuletzt der Regisseur Fernando »Pino« Solanas aus der argentinisch-lateinamerikanischen Filmgeschichte mit zwei Dokumentationen zurückgemeldet.
Filmstill aus: Memoria del Saqueo
Dokumentarfilm Betroffene des Neoliberalismus und der Korruption in Argentinien sei es notwendig gewesen, an das zu erinnern, was Argentinien fähig war, selber herzustellen. »Die großen Projekte des Landes wurden von argentinischen Ingenieuren, Technikern und Physikern konstruiert«, schreibt der Regisseur in deutlich patriotisch veranlagtem Ton über seinen neuen Film, in dem er ein Hohelied vergangener technisch-wirtschaftlicher Errungenschaften in Argentinien singt.
Wie sehen wir uns... t Für mehr Aufmerksamkeit für den lateinamerikanischen Dokumentarfilm steht das in Ecuador seit sieben Jahren stattfindende internationale Dokumentarfilmfestival »Treffen des anderen Kinos« (Ecuentro del otro cine, EDOC). In diesem Jahr erklärte Cinememoria, der Veranstalter des Festivals, EDOC wolle mehr als das jährliche Dokumentarfilmfestival sein. Es solle sich zu einem Ort wandeln, wo Ideen präsentiert werden. Bisher ist dies aber eher Idee denn Realität – auch, weil an diesen Ideen ausgesprochen wenige partizipieren. Einer der augenfälligsten Teile des Festivals ist dennoch die Kategorie ¿Cómo nos ven,
Heute setzt er in La dignidad de los Nadies (Die Würde der Niemande / 2005) und Memoria del Saqueo (Chronik einer Plünderung / 2004) die kritischpolitische Dokumentation im Sinne des »Dritten Kinos« fort. In Memoria del Saqueo zeichnet Solanas eine Chronik von Korruption und Neoliberalismus, die 2001 in der argentinischen Wirtschaftskrise gipfelte und das Land um Jahre zurückwarf. Solanas kombiniert mit einfachen Mitteln aufgenommene Bilder der Massenproteste des Dezember 2001 mit Interview- und Archivaufnahmen. Ähnlich verfährt er in La Dignidad de los Nadies und thematisiert dabei verschiedene Formen des Widerstandes und der Solidarität zwischen den von den katastrophalen sozialökonomischen Zuständen betroffenen Menschen. Sein neuester Film Argentina latente (Verborgenes Argentinien / 2006) zeigt indessen eine Auffassung Solanas deutlicher: Nach seinem kritischen Zyklus über Strukturen und
Einfluss aus, wenn es darum geht, im ecuadorianischen Kino ein vernachlässigtes Genre in einem vernachlässigten Industriezweig zu aktivieren. Die Ölindustrie thematisiert indessen der Deutsche Frederik Klose-Gerlich in seinem Film La Lucha por la Vida (Die Folgen der Ölförderung, Ecuador / Deutschland 2006). Er dokumentiert sowohl die katastrophale Umwelt- und Lebenssituation der Menschen, als auch den Streik vom August 2005, bei dem die gesamte Ölförderung von den Protestierenden stillgelegt wurde und infolgedessen es zu Verhandlungen zwischen Staat und transnationaler Ölindustrie kam. Es geht dem Filmemacher um die Lebenssituation der Menschen, die unter der Ölförderung im ecuadorianischen Regenwald leiden. Im August 2005 kam es in den Provinzen Sucumbíos und Orellana zum Streik. KloseGerlich zeigt das Undenkbare: Wie Menschen sterben, weil die Profite der Ölfirmen nicht mit den Menschen, sondern gegen sie gemacht werden. Die Subjektivität ist die – wohl ursprünglich unbeabsichtigte – Sprache des Films, ein naher Zeuge nicht vorhersehbarer Ereignisse. In dem Film kommen die Betroffenen vor und erzählen über den Streik – aber eigentlich über das Leben, das ihnen so schwer gemacht wird. Die ecuadorianische Regierung unter Präsident Correa versucht, bei internationalen Geldgebern (Regierungen, Konzernen, Privatpersonen) Unterstützung dafür zu finden, ein Erdölfeld im ecuadorianischen Regenwald von der Förderung auszunehmen.1 Dieser Film liefert die nötigen Bilder, um zu verstehen, warum diese Idee, die NichtAusbeutung eines Erdölfeldes zu verkaufen, utopisch aber notwendig ist.
... wie sehen sie uns? t Ein Beispiel für die internationale Sicht auf Lateinamerika ist der Dokumentarfilm The Revolution will not be Televised, in dem in spanaus: The Take von Naomi Klein, Foto: A. D'Elia nungsgeladenen Momentaufnahmen Kim Bartley und cómo nos vemos? (Wie sehen sie uns, wie seDonnacha O’Brian den Verlauf des erfolglosen hen wir uns?). In diesem Sinne widmet sich Putschversuches gegen den venezolanischen Isabel Dávalos in Alfaro Vive Carajo, del Sueño Präsidenten Hugo Chávez im Jahr 2002 al Caos (Vom Traum zum Chaos) der Gezeigen. Der Film besitzt großen Wert für die schichte der subversiven Gruppe Alfaro Vive Dokumentation von Momenten des Putsches: Carajo (AVC), die im Ecuador der 1980er JahEr präsentiert die Sicht der UnterstützerInnen re repressiv zerschlagen wurde – die Bewältides damals angeblich abgetretenen Präsigung jüngerer Geschichte wird hier als Thedenten. Aus der Perspektive des Filmes haben ma, der Dokumentarfilm als Medium entdiese erfolgreich versucht, den Putsch zu deckt. Das EDOC übt offensichtlich durchaus beenden und Chávez wieder in sein Amt zu
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Dokumentarfilm befördern. In Venezuela wurde als Kritik an und wieder in Betrieb genommen wurden. The Revolution will not be Televised ein Film Klein/ Lewis berichten aus einer polit-aktivismit dem Namen X-Ray of a Lie produziert. tischen Perspektive und stellen das argentiniDarin wurde Bartley und O’Brian vorgeworsche Vorgehen als Vorbild auch für industriafen, der Film sei eine manipulative Zulisierte Länder dar. Von Seiten der Bewegung sammenstellung von Aufnahmen, mit der der zurückgeholten Fabriken (Movimiento Nacional de Fabricas Recuperadas) wurde The versucht werde, die GegnerInnen von PräsiTake jedoch auch kritisiert. Im Film seien dent Chávez zu diskreditieren. Wie auch imschwere Fehler begangen mer der Aufbau des Films geworden, was die Interpretawertet wird – 2002 war das »Ein Land ohne tion der sozialen Realität in Jahr des im Westen kaum als Dokumentarkino ist Argentinien beträfe: »Wir undemokratisch wahrgenombedauern, dass man die remenen Putschversuches: The wie eine Familie Revolution will not be Televised cuperación von Fabriken für ohne Fotoalbum« ist ein wohl notwendiges internationalistischen politiStück Dokumentarkino. schen Aktivismus im RahAuch die Dokumentation The Take von men eines Antiglobalisierungskampf benutNaomi Klein und Ali Lewis steht für eine Sicht zen möchte«, heißt es in einer Erklärung des von US-AmerikanerInnen auf die EntwicklunMNFR. Klein/ Lewis würden nicht die argengen in Lateinamerika. Klein und Lewis wentinische Realität, sondern eine eigene Interden sich – wie übrigens auch Solanas in La pretation derselben in ihrem Film kommuniDignidad de los Nadies – den empresas recupezieren. radas in Argentinien zu. Die empresas recupeDer Unterschied beider Perspektiven auf radas sind Fabriken, die zumeist während der Lateinamerika ist – bei allen Überschneidunargentinischen Wirtschaftskrise von 2001 von gen und bei allem Einfluss, den sie aufeinanihren BesitzerInnen geschlossen und in der der ausüben –, dass die lateinamerikanischen Folge von ehemaligen Angestellten besetzt Produktionen immer auch ein Stück nationa-
le Souveränität für Lateinamerika bedeuten. So betitelt der Chilene Guzmán ein Essay mit der lebhaften Metapher »Ein Land ohne Dokumentarkino ist wie eine Familie ohne Fotoalbum«. Auch wenn Guzmán die Gemeinsamkeiten des lateinamerikanischen Dokumentarfilms eher als gering einstuft, spricht er sie damit an: Und stellt gleichzeitig die Frage, welche Lebensumstände es gestatten, ein Fotoalbum zu führen. Den filmischen Perspektiven auf die lateinamerikanische Realität – von innen und von außen – ist dennoch gemeinsam, dass sie das Undenkbare sichtbar machen, mit dem die Menschen und Gesellschaften in Lateinamerika konfrontiert sind.
Anmerkung: 1 Das so genannte Erdölfeld ITT im Nationalpark Yasuní soll gegen internationale Ausgleichszahlungen etwa in Höhe der Hälfte der jährlich erwarteten Einnahmen von der Förderung ausgenommen werden. Siehe: www.amazoniaporlavida.org.
t Jonas Henze ist freier Journalist und lebte ein Jahr in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito. Dort war er u.a. bei dem alternativen Radiosender La Luna tätig.
Lateinamerikanisches Kino der Dekolonisation
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t Etwa zeitgleich zum Cinéma Vérité (s. S.18) hat sich seit Mitte der 1950er Jahre in Lateinamerika vor dem gesellschaftlichen Hintergrund der Massenarmut und der pseudo-diktatorischen Regime eine Filmbewegung heraus gebildet, die die sozialkritischen Aspekte des Dokumentarfilms in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellte. Aufgrund der mangelnden kinematogaphischen Infrastruktur und sehr geringer finanzieller Mittel konnten die FilmemacherInnen jedoch nicht von den technischen Neuerungen in Europa und den USA profitieren. Sie waren entweder darauf angewiesen, schwere 35mm-Kameras oder aber 16mm-Kameras zu nutzen, ohne die Möglichkeit, Synchronton aufnehmen zu können. Der Vater des »Neuen lateinamerikanischen Films« ist der Argentinier Fernando Birri (*1925). Gemeinsam mit einer Gruppe von 120 Frauen und Männern produzierte er 1955 Tire dié (Wirf einen Groschen), der als erster Film dieser Filmbewegung in die Geschichte eingegangen ist. Über zwei Jahre hinweg befragten, filmten, fotografierten die TeilnehmerInnen dieses Projekts die EinwohnerInnen Santa Fés in Argentinien und lieferten damit das Rohmaterial, aus dem der spätere Film entstand. Das Neue an Wirf einen Groschen war, dass er die unterprivilegierten und marginalisierten Bevölkerungsschichten in den Mittelpunkt seiner Handlung stellte
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und ihre Probleme des Hungers und der Armut thematisierte. Entsprechend der kinematographischen Ausbildung Birris – er hatte am Centro Sperimentale di Cinematografia in Rom studiert – ist er ganz im neorealistischen Stil gehalten. Begleitend zum Film formulierte Birri ein Manifest mit dem Titel Für ein nationales, realistisches und kritisches Kino. National, weil es in einem ehemals kolonisierten Land wie Argentinien von enormer Bedeutung war, einen Prozess der visuellen Identifikation und Entkolonisierung einzuleiten, realistisch, um den stark von Hollywood geprägten Mythen und Mustern des damaligen argentinischen und lateinamerikanischen Kinos eigene, sozialkritische Themen und der Lebenswelt in Argentinien entsprechende Stilmittel entgegenzusetzen; kritisch als Gegen-Bewegung zum als dogmatisch und populistisch empfundenen sozialistischen Realismus.1 Beeinflusst von den Ideen Birris gründeten die argentinischen Filmemacher Fernando E. Solanas (*1936) und Octavio Getino (*1935) 1966 die Gruppe Cine Liberación (»Kino Befreiung«). Auch sie setzten sich intensiv für eine Entkolonialisierung des lateinamerikanischen Kinos ein und formulierten ein Manifest mit dem Titel Tercer Cinema (das Dritte Kino) mit dem Ziel, für den lateinamerikanischen Film einen dritten kinematographischen Weg zwischen kommerzieller Filmin-
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dustrie und künstlerischem Autorenkino zu finden. Wie Bettina Bremme in ihrem Buch Movie-mientos schreibt, ging es Solanas und Getino um ein »Kino der Revolution, das heißt ein Kino der Zerstörung und des Aufbaus; der Zerstörung des Bildes, das der Neokolonialismus sich von sich selbst und von uns gemacht hat, des Aufbaus einer pulsierenden lebendigen Wirklichkeit, Wiedergabe einer Realität in allen Ausdrucksformen.« 2 Mit La hora de los hornos (Die Stunde der Hochöfen/ 1968) drehten Solanas und Getino auch das zentrale Werk des so genannten »revolutionären lateinamerikanischen Kinos«. Der über vier Stunden lange Film skizziert in einem teilweise stark polemischen und polarisierenden, dann aber stellenweise auch sehr offenen Stil die neokoloniale Abhängigkeit der Wirtschaft und Politik Argentiniens sowie die Unterdrückung der Bevölkerung. Er ist mittlerweile zu einem Klassiker der KinematoVolker Kull graphie avanciert. Quelle: Poeten, Rebellen, Chronisten (s. S.18)
Anmerkungen: 1 Fernando Birri: Erinnerung und Zukunft. Fragmente einer Reise durch Österreich. In: Helmut Groschup, Renate Wurm (Hrsg.): Fernando Birri – Kino der Befreiung. Innsbruck 2001, S.79
2 Bettina Bremme: Movie-mientos. Der lateinamerikanische Film: Streiflichter von unterwegs. Stuttgart 2000, S. 27
Filmstills aus: Women see lot of things
Nicht nur Chronik des Geschehens Filme über Kindersoldatinnen und den Genozid in Ruanda Gewalt und Verbrechen, Genozid und Krieg – bei diesen Themen nehmen Dokumentarfilmschaffende eine machtvolle Rolle ein. Wie können Leid und Schrecken – und das, was das Grauen bei TäterInnen und bei Opfern anrichtet, gefilmt und vermittelt werden? von M a r t i n a B a c k e s t Ein Abfilmen von Gemetzel, ein Aneinanderreihen von Bildern menschlicher Grausamkeiten, die längst nicht immer von der fiktionalen Bilderflut in den BlockbusterSendungen unterschieden werden, ist brisant und zu Recht umstritten. Doch wie kann ein Dokumentarfilm über Bürgerkrieg sein Publikum an die Realität heranführen, wo er doch an Gewalt und Barbarei nicht vorbeikommt? Und wessen Realität stellt er dar? Zweifellos ist es immer eine Gratwanderung, sich mit Recht und Unrecht und mit der Wirkung der gewählten Bilder auseinanderzusetzen. Fast zwangsläufig stößt man als FilmemacherIn auf die Frage, wie das Zusammenleben von Opfern und TäterInnen in Zukunft möglich sein soll und wie eine Wiederholung des Grauens vermieden werden kann. Zugleich stellt sich auch das ganz persönliche Problem vom Umgang mit TäterInnen und Opfern: Die Dreharbeiten selbst können für die Beteiligten womöglich zu einem Erinnerungsprozess an das Geschehene werden. Und doch wird nur selten der Anspruch gestellt, durch den Film die Vergangenheit aufarbeiten zu wollen.
Drei Mädchen im Krieg t Eine Live-Performance, aufgeführt von einer jungen Frau in einem zerfallenen Gebäude, mit einer Stoffpuppe und einem Messer in der Hand; Strichzeichnungen, die skizzenartig den Hergang der Gewalttat verbildlichen, dazu instrumentaler Sound, der unrhythmischhektisch den Schrecken und das Unbegreifli-
selbst überlassen. Viele leiden, wie die mittlerweile über 20 Jahre alten Protagonistinnen des Films, unter sozialer Ausgrenzung, weil sie für oder mit den Rebellen gekämpft haben, sie als Kleinkind entführt und vergewaltigt wurden oder heute selbst ein »Rebellenbaby« haben. Nur indem sie sich von ihrer eigenen Gesellschaft emanzipieren, haben sie eine che akustisch unter die Haut fahren lässt: dank Chance, zu überleben. dieser künstlerischen Stilmittel werden die Nicht allein der Überfall auf die Dörfer, das Erzählungen von drei jungen Frauen, die als Töten und Misshandeln der Familie, die VerKindersoldatinnen im Bürgerkrieg in Sierra schleppung von Kindern und das jahrelange Leone und Liberia kämpfUmherirren ohne Ziel und ten, zu einem einzigartigen Hoffnung sind Thema der Ihnen wurde Gewalt dokumentarischen Zeugeindrücklich zusammengeangetan – und sie taten stellten Erzählungen. Meira nis. Ihnen wurde Gewalt angetan – und sie taten anAsher geht, indem sie zur anderen Gewalt an deren Gewalt an. Als SexPerformance greift, weit über sklavinnen und Arbeiterinein Nacherzählen der Genen gehalten, vergewaltigt oder gefoltert, haschehnisse hinaus. Sie konstruiert im Film ein ben auch sie selbst Frauen und Männer missungeheures Maß an emotionaler Tiefe und handelt und getötet. Bruchstückhaft trägt Nähe zu den traumatischen Erlebnissen der Meira Asher, die Regisseurin des Films Women Frauen. see lot of things (2007), die Erinnerungen und Traumata von Anita Jackson, Mahade Pako Trotz fehlender Worte und Chris Conteh zusammen, bis sich ein vat Die Protagonistinnen sind nicht einfach ges Bild formt, das nichts fertig erklärt und Mittelpunkt von Szenen, die aufgrund einer nichts entschuldigt. Meira Asher erlaubt dabei Entscheidung der Regie gefilmt oder beim sehr tiefe und reale Einblicke in die Gräuel der Schnitt ausgewählt wurden. Sie sind KünstleBürgerkriege und in die psychischen Wunden, rinnen, die als solche bezahlt wurden, die ihohne schockierende Bilder, ohne Archivaufre eigene Geschichte choreographieren und nahmen realer Szenen der Gewaltausübung. schauspielerisch darstellen. Tanz, Gesang, verVon den 250.000 Frauen, die während der schiedene Sprachen, verschiedene Requisiten Bürgerkriege in den beiden Ländern vergewurden ausprobiert, viele Orte bereist und die waltigt oder gefoltert wurden, bleibt die drei sehr unterschiedlichen Geschichten und überwiegende Mehrheit stumm – als Tote Charaktere dann in Etappen zusammengeoder als stigmatisierte Opfer. Nur in neun Fälbaut. Performance und Realität werden dichlen gab es eine Gerichtsverhandlung mit ter und dichter, legen sich wie Folien aus Bild Strafen für die Peiniger. Einen gesellschaftund Klang, aus Damals und Heute übereinanlichen Prozess der Erinnerung, einen Versuch der. Trotz der so offensichtlich inszenierten von Wahrheitsfindung oder gar Aussöhnung Darstellung und künstlerischen Arbeitsweise mit sich und ihren Familien gibt es für die Exder Filmemacherin ist das Ergebnis in einem Kindersoldatinnen nicht. Die Frauen sind sich iz3w
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dokumentarischen Sinne sehr real und auauch die ZuschauerInnen mit hineingezogen thentisch. werden. Zugleich wird eine Form der TrauDamit versetzt der alltägliche Umgang der maarbeit vorgestellt, die – auch das bezeugt Protagonistinnen mit ihrem Erbe als Täterinder Film – offensichtlich Wirkung zeitigt. Es ist nen wie auch als Opfer vor allem die mutige Dardieser Gewalttaten, die stellung der Frauen gegen Performance und Realität ZuschauerInnen schodas Wegsehen, dieses Dokulegen sich wie Folien nungslos direkt in die mentieren gegen das AusJetztzeit und erzeugt so blenden der geschlechtsaus Damals und Heute ein ambivalentes Gefühl: spezifischen Folgen der jahrübereinander Nein, es ist nicht vorbei, zehntelangen Kriege, das auch wenn der Bürgerdie Besonderheit des Films krieg als beendet erklärt wurde. Und: Ja, die ausmacht. Schade nur, dass er weder in SierFrauen verdrängen nichts, es gibt kein Schweira Leone noch in Liberia ausgestrahlt wird. gen und kein Ungeschehen machen, doch eben damit nehmen sie dem Schrecken die Gegen das Vergessen Macht und ihrer fatalen Situation das Resignat Ein weiteres Beispiele für Filme, die sich tive. Wenngleich die Wege von Anita, Mahades Themas Gewalt und Verbrechen annehde und Chris sehr verschieden sind, zeigt sich men, ist die im Original fünfeinhalbstündige doch bei allen der beeindruckende Wille zur Auseinandersetzung mit dem Genozid in individuellen Bewältigung des Geschehenen. Ruanda (Rwanda 94 / 2006) von Marie-France Der Film zeugt von einer besonderen InCollard und Patrick Gaplinski. Es ist »der Vertensität der Auseinandersetzung der Filmesuch einer symbolischen Wiedergutmachung macherin mit den Protagonistinnen, in die
für die Toten durch die Überlebenden«, die auf einer Theaterbühne von ihrem Trauma erzählen. Die tatsächlichen Opfer und TäterInnen stellen eine Geschichte vor, die eine ungewöhnliche zeitliche Dimension erhält. Nicht nur vor mehr als einem Jahrzehnt, sondern unmittelbar in der Gegenwart durchleben die AkteurInnen – und viele ZuschauerInnen nicht minder – die tiefen psychischen Verletzungen, die der Genozid hinterlassen hat. Reue und die Bitte um Entschuldigung werden nicht schauspielerisch inszeniert, sondern im Moment der Aufführung empfunden. Mit akustischen Instrumenten untermalt, verdichten sich die Erzählungen zu einem Dokument gegen das Vergessen. Als Kinoversion ist der Film von Marie-France Collard auf einhundert Minuten verdichtet (Rwanda, a travers nous, l’humanité Rwanda. Through us, humanity, 2006). Er wechselt zwischen Bühnenaufzeichnung und Gesprächen mit Überlebenden auf den Hügeln in Ruanda, die am Ort des Verbrechens und auf den Gräbern der Toten zunächst zögernd an das
»Warum soll ich da hin gehen?« Interview mit dem belgischen Filmemacher Bernard Bellefroid iz3w : Es gibt in Ihrem Film keine brutalen
barschaft, aber es wird nicht über die Verbrechen gesprochen. Wie also können diese Menschen eine Lösung finden, mit dem Verbrechen zu leben? Auf dem Land sind die Leute sehr arm, viele Kinder gehen nicht einmal zu Schule, also erfahren sie auch dort nichts über den Genozid. Ich wollte wissen, wie und ob auf dem Land die Dorfgerichte eine Lösung für den gesellschaftlichen Umgang mit dem Genozid sein können, und wie das möglicherweise funktioniert. Für viele könnten die Dorfgerichte die erste oder gar einzige Gelegenheit sein, in einem öffentlichen Rahmen über die Verbrechen zu hören.
und von Prominenten besucht, von den Vertretern der Weltbank, von Frau Blair. Es gibt viel Publicity darum. Alle ausländische Hilfe und Unterstützung, so scheint es, konzentriert sich auf diese Stadt. Die Gacaca in Kigali werden oft als erfolgreich oder zumindest hilfreich für den Versöhnungsprozess dargestellt. Aber das bezweifele ich. Auf den Hügeln in Ruanda sieht die Situation ganz anders aus. Auf dem Land gehören die Richter oft zu der gleichen Familie wie die Opfer, damit fängt die Schwierigkeit schon an. Kigali ist nicht repräsentativ für das, was die meisten Ruander erleben. Ich bin ein Filmemacher, also warum soll ich da hin gehen?
Aber das Radio berichtet doch »Mich interessierte die häufig über die Verfahren beim Wie kam es zu der Auswahl der drei im Film geIdeologie der Erinnerung Internationalen Gerichtshof in Arusha... zeigten Fälle? und die Frage nach t Ich wollte Fälle zeit Während der Verhandeiner Lösung« gen, in denen engste lungen im Internationalen Familienmitglieder oder Gerichtshof in Arusha sind NachbarInnen betroffen waren. Menschen, viele Zeuginnen von den Richtern respektlos die sozusagen täglich miteinander konfronbehandelt worden. Einige Zeugen, Männer tiert sind, im gleichen Dorf leben, einander wie Frauen, sind später ermordet worden, nicht ausweichen können. Fälle, in denen nachdem sie nach Ruanda zurückgekehrt innerhalb der Familie getötet wurde, der eigesind. Ruanda wirft dem Internationalen Gene Vater oder der eigene Sohn, oder eine Frau, richtshof vor, die Zeugen nicht zu schützen. die ihren Mann tötet. Genau das war ja das Die Dorfbevölkerung fühlt sich nicht gut inCharakteristische dieses Genozids. Die Angst formiert, und sie fühlt sich von diesen Prozesund das Trauma sind allgegenwärtig, denn sen ausgeschlossen. Auch in der Hauptstadt TäterInnen und Opfer leben in engster NachKigali werden ständig Gacaca abgehalten
Dennoch haben die Gacaca in Kigali und auf den Hügeln teilweise die gleichen Probleme, nämlich die Wahrheit herauszufinden... t Wahrheitsfindung, Gerechtigkeit und Versöhnung sind drei verschiedene Ebenen, die in den Gacaca behandelt werden. Von Wahrheit spricht man dann, wenn zwei Menschen die gleiche Version erzählen, dann wird das als Wahrheit genommen. Das ist ganz anders als in Europa, wo man schließlich nach einem Prozedere der Beweisführung und Zeugenaussagen eine objektive Wahrheit definiert. Die Funktion der Gacaca ist eben auch eine andere, es geht um einen geschützten Raum für eine freie Äußerung der eigenen Sichtweise oder Wahrnehmung und darum, das Schweigen zu brechen.
Szenen, keine Bilder vom Morden oder von Leichen. t Bernard Bellefroid: Solche Darstellungen helfen auch nicht, die Situation in Ruanda zu verstehen – warum der Genozid passiert ist. Mich interessierte vielmehr die Ideologie der Erinnerung und die Frage nach einer Lösung. Es gibt viele Museen, es gibt Zeugnisse, aber die sind nicht an einer Zukunft orientiert. Ich stieß auf die Gacaca, die traditionellen Dorfgerichte. Früher waren diese Gerichte in Ruanda üblich, um Probleme in den Dorfgemeinschaften selbst zu lösen. Jetzt werden sie für den Prozess der Wahrheitsfindung und Versöhnung eingesetzt.
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Dokumentarfilm Erlebte erinnern. Einblendungen über das Exhumieren von Leichen zeigen dem Publikum, wie sich RuanderInnen immer wieder der schwierigen und doch unausweichlichen Aufgabe stellen, über ihre Geschichte hinaus das Zusammenleben zu ermöglichen. Ganz ähnlich wie auf der Bühne Öffentlichkeit hergestellt wird, ist auch das Filmen ein öffentlicher Akt der Suche nach Wahrheit und rehabilitiert die Opfer. Elf Jahre nach dem Genozid in Ruanda drehte Bernard Bellefroid (siehe Interview) den Dokumentarfilm Rwanda, les collines par-
lant (Rwanda, the hills speak). Auch dieser Film widmet sich dem Thema Traumaarbeit und Versöhnung. Dokumentiert werden drei Gerichtsverhandlungen zur Wahrheitsfindung über die Verbrechen in Ruanda. Eine besondere Art der Gerichtsbarkeit, die Gacaca-Gerichte, geben Raum für einen Prozess zwischen Geständnis und Reue, Wahrheitsfindung und Entschuldigung. Doch wann kann eine Bitte um Vergebung zur Versöhnung führen? Wann wird Entschuldigung zur zynischen Strategie, um Straffreiheit zu erlangen? Bernard Bellefroid verzichtet in seinem Film auf die während
des Genozids ausgestrahlten Bilder des Entsetzens und vermittelt dennoch einen tiefen psychologischen Einblick in den Schrecken, der die universelle Frage nach Vergebung und Versöhnung stellt.
Wie können die Leute über den Genozid sprechen, ohne die ethnische Klassifizierung Hutu und Tutsi zu benutzen, die es ja offiziell in Ruanda nicht mehr gibt? t Ja, es ist absolut verboten, über Hutu oder Tutsi zu sprechen – im Gegensatz zu Burundi, dort ist es nach wie vor üblich. Diejenigen, die sich als Tutsi sehen, sagen, sie sind Opfer des Genozids an den Tutsi. Auch wenn diese sprachliche Unterscheidung zwischen Tutsi und Hutu nicht mehr zulässig ist, wird das so gesehen. Die Hutu können in dieser Sprachlogik also nicht Opfer des »Genozids an den Tutsi« sein, das ist ein Problem, ein Hindernis für die Wahrheitsfindung.
die Anwesenden die ganze Crew bereits zehn Minuten nach Drehbeginn vergessen.
drei ÜbersetzerInnen, zwei Frauen und einen Mann, die von der Regierung bestimmt wurden. Dass es zwei Frauen waren, hat sehr viel Vertrauen geschaffen. Da ich die Sprache ja nicht beherrsche, konnte ich mich ganz auf die Leute konzentrieren, auf die Stimmung.
Teilweise sind die Situationen im Film sehr intim, sehr privat. Gab es da Vorbehalte, hat die Kamera den Prozess beeinflusst? Gab es Situationen, in denen die Kamera gestört hat oder ungebeten war? t Nein. Die Täter und die Hinterbliebenen der Opfer leben zusammen in den gleichen Dörfern, sie treffen sich auf dem Markt, teilen Zucker und Bohnen. Sie begegnen sich, aber sie sprechen nicht miteinander. In dieser Situation des Schweigens waren die Dorfgerichte eine plötzlich gewonnene Möglichkeit, sich zu äußern. Es war eine Atmosphäre, in der die Menschen das Bedürfnis hatten, endlich zu sprechen. Trotz des Equipments, das aus zwei Kameras und sieben Mikrophonen, Beleuchtung, drei Übersetzern usw. bestand, hatten
Was war die größte Schwierigkeit bei der Realisation des Films? t Die Genehmigung haben wir von höchster Stelle bekommen. Eine absolute Ausnahme, denn normalerweise dürfen Gerichtsverhandlungen nicht gefilmt werden. Es war schwierig, die Drehgenehmigung zu erhalten, aber das Filmen selbst war dann recht unkompliziert. Es wurde auch akzeptiert, dass ich nicht in Kigali filmen wollte. Man gab mir iz3w
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Martina Backes ist Mitarbeiterin im iz3w .
Der Film wurde gezeigt, aber eine Lösung ist damit nicht gefunden... t Der Gacaca-Prozess soll Anfang 2008 abgeschlossen werden. Deshalb werden nun die großen Kollektivprozesse abgehalten, in denen 30 oder 40 Angeklagte, die zu einer Killerbande gehört haben, gemeinsam vor Gericht geladen werden. Damit soll vermieden werden, dass sie die Wahrheit verfälschen, dass sie lügen. Denn in den Gefängnissen von Ruanda herrscht ein regelrechter Markt für Schuldgeständnisse. Um zu vermeiden, zu hohe Strafen zu kassieren, wird mit Schuldgeständnissen gehandelt, insbesondere wenn es keine Überlebenden mehr gibt, die aussagen können oder Fragen stellen. Vor allem die Alten riskieren da mehr, weil sie davon ausgehen, freigelassen zu werden. Die sagen dann: »d’accord, gib mir 45 von deinen Verbrechen«. Das soll nun mit den Kollektivprozessen verhindert werden. Ich will einen weiteren Film fürs Kinopublikum über diese abschließenden Prozesse machen.
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Das Gespräch führte Martina Backes. q
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Filmstill aus: Rwanda, a travers nous, l’humanité
Wie war ihre Reaktion auf den Film? t Zuerst wurde er der Behörde und dem Präsidenten vorgeführt. Ich hatte zwar Bedenken, dass man mir vorwirft, ich zeige eine Tutsidiktatur, oder ich würde alles einseitig darstellen. Aber es gab keinerlei Zensur, und der Film wurde dann im Fernsehen gezeigt. Die Teilnehmenden, die den Film gesehen haben, waren sehr zufrieden, es hat sie sehr berührt. Sie waren einfach froh darüber, die Wahrheit, ihre Wahrheit, so festgehalten und dokumentiert zu sehen. Viele haben geweint. ‚Nun sind wir uns sicher, dass nicht vergessen wird, dass es passiert ist.’ Doch es gibt keine Vergebung. Der Mann, der seinen Bruder getötet hat, versucht immer wieder, mit seiner Schwägerin zu sprechen. Aber sie weigert sich. Sie kann einfach nicht. Da gibt es keine Versöhnung.
Infos zu »Drei Mädchen im Krieg« unter www.womanseelotofthings.com/ und www.meiraasher.net/projects.html
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Foto: photocase.de
Das Dokumentarische, das Filmische und die Menschenrechte Zur ethischen Relevanz des Dokumentarfilms Was wir seit den 1990er Jahren erleben, ist beinahe ein Paradox: Dokumentarfilme werden zu »Kultfilmen«. Unter anderem, weil wir nur zu genau wissen: Jede halbwegs verlässliche, humane und reflektierte Annäherung an die Wirklichkeit mit den Mitteln des Films ist im Zeitalter der Medienmultiplikationen ein rares Gut. Ein Kunstwerk.
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von G e o r g S e e ß l e n t Kein Zweifel: Der Dokumentarfilm als Kino-Genre (in denkbar großer Entfernung zu dem, was man als Dokumentation im ewig laufenden Fernsehfilm gewohnt ist) hat in den letzen Jahren eine enorme Renaissance erlebt. Die »Wahrheit«, so scheint es, oder wenigstens ein audiovisueller Widerschein davon, ist »frei Haus« nur schwer zu erhalten, man muss sie sich holen. Man muss die Konzentration und den langen Atem eines etwa eineinhalbstündigen Dokumentarfilms im verdunkelten Kinosaal aufbringen, und man muss sie teilen können, mit anderen Menschen, die diese Form einer wenn auch be-
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allfälligen Gefühl an, »overnewsed & underinformed« zu sein, also mit Nachrichten und Bildern aus der Welt zugeschüttet zu werden, ohne dass die Bilder einer diskursiven und ethischen Struktur folgen. Sie gehorchen viel eher den Gesetzen des Marktes, konstruieren Zyklen von Erregung, Hysterie, Abkühlung und sind, wie uns scheint, genau in dem Augenblick vom Markt und aus den Augen wiescheidenen und begrenzten Öffentlichkeit der verschwunden, wo sie die Möglichkeit ernutzen und sich dabei ihrer Kritikfähigkeit öffnen würden, in ihnen und mit ihnen zu versichern. Man darf, ohne sich dessen zu denken. Den medialen Bildern auf dem gloschämen, von einem aufklärerischen Ritual balen Markt fehlt die Nachhaltigkeit, sie brensprechen: Gemeinschaft, Konnen sich traumatisierend ein zentration, Reflexion, Kom(wie die Endlos-Schleifenbilder Die Wahrheit munikation. der Katastrophen und Terroreines Films ist die Die Form, in der wir Dokuanschläge), ohne ein wirkliches mentarfilme in Kinos oder anGedächtnis zu haben. Konzentration ... deren Abspielorten sehen, Der Dokumentarfilm, egal scheint uns von vornherein auf welchem technischen und »politischer« als die Massenprivatheit eines ästhetischen Niveau, verspricht dagegen die Fernsehabends. So bietet sich der DokumenNachhaltigkeit eines traditionellen Kunstwertarfilm im Kino als Erlösung gegenüber dem kes. Er ist lesbar sowohl nach den Gesetzen
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der Hermeneutik als auch nach der Idee eines »Autorenfilms«, während das Dokumentarische in den Endlos-Medien ihren inneren Gehalt in aller Regel, abgesehen von rein journalistischen Kriterien, erst in den Analysen der Konnotationen, der scheinbaren »Nebenbedeutungen« und der versteckten »Bilder zwischen den Bildern«, und der »Hypertexte«, des Flusses von Moden, Interessen und Konventionen offenbaren. Der Dokumentarfilm ist ein ästhetisches und politisches »Gegenüber«; der Film und sein Publikum begegnen sich (im Idealfall) auf Augenhöhe und gestehen sich gegenseitig gewisse Rechte zu (das Recht auf den Irrtum eingeschlossen, das Recht auf Lüge indes nicht).
Strom der Bilder t Der Dokumentarfilm und die Frage nach seiner ethischen Relevanz sind mittlerweile nicht allein für ein spezielles Publikum, sondern für den kulturellen Mainstream in den Industrieländern von Bedeutung. Dokumentarfilme erreichen ein Publikum, das sogar für kommerzielle Kinobetriebe wieder ökonomisch attraktiv wird. Dokumentarfilme werden in den Feuilletons rezensiert, und was das Beste scheint: Dokumentarfilme sind offenbar kraftvoll genug, direkte Wirkungen zu erzielen, weit über die Fälle der Skandale (wie Michael Moores Anti-Bush-Auftritt bei der Oscar-Verleihung) oder die mediale Verlängerung politischer Kampagnen (wie »Eine unbequeme Wahrheit« über die Vortragsreisen von Al Gore) hinausgehend. Und die Hoffnung besteht, dass populäre Themen und eher spektakuläre Aufbereitungen zu Türöffnern auch für die subtileren und sperrigeren Arbeiten werden. (Man kann, die ökonomische Entwicklung des Dokumentarfilms in einem Land wie Deutschland in den letzten zehn Jahren vor Augen, diese Hoffnung indes nur mit erheblichen Einschränkungen formulieren: Auch auf dem Dokumentarfilmsektor gibt es durchaus zweifelhafte Erfolgsrezepte und noch »unbequemere Wahrheiten«, denen auch das aufgeschlossene Publikum nicht mehr folgen will.) Die Bedingungen für die Renaissance des Dokumentarischen in der Welt des Audiovisuellen sind einigermaßen leicht zu beschreiben: ein genereller Verlust des Vertrauens in Leitmedien wie Zeitungen, Fernsehen oder Internet mit ihrem komplexen, oft maskierten und sogar korrupten Zusammenhang von Information und Interesse. Nicht dass man auf dem globalisierten Meinungsmarkt so etwas behaupten würde wie »Die Presse lügt« oder »Das Fernsehen manipuliert uns« (man findet solche Pauschalisierungen eher auf
der Seite der Rechten). Vielmehr machen uns wir uns, seit Hans Magnus Enzensbergers meAussagen wie »Ein Fernsehbild ist nicht eher dientheoretischen Pioniertaten 1 als Blick auf nachzuprüfen als die Nachricht, die es illuseinen »Scherbenhaufen« vorstellen können). triert, keine mehr ist« deutlich, dass »unsere« Die Wahrheit eines Films ist die KonzentraMedien zugleich ein Apparat zur Erzeugung tion, die Wahrheit eines Programms ist die von Fremdheit geworden sind. Ihnen ist nicht Fragmentierung. Mittlerweile haben wohl zu trauen, auch (ja vielleicht gerade) dort, wo beide Strategien des »Weltbildes« eine dialeksie weit davon entfernt sind, eine staatlich tische Beziehung miteinander gefunden: die gelenkte Propagandamaschine zu bedienen. Konzentration der AutorInnen-DokumentaDie »besseren« Medien, also jene, die sich eition und die Fragmentierung der Informanen Hauch von Selbstaufklärung leisten, sind tionsflüsse verhalten sich als widersprüchliche immerhin so weit, die Skepsis zu reflektieren; Einheit. Benötigt wird beides für Demokratie selbst unser Leitmedium Fernsehen benutzt und Menschenrechte sieht man einmal ganz Bilder mittlerweile des öfteren unter Vorbevon der unterschiedlichen Geschwindigkeit halt. ab, mit der beides produziert und verbreitet Im Gegensatz zu den »flüssigen« und endwird, und zugleich hat beides seine eigenen losen Medien wie Presse und Fernsehen hat Probleme in der Herstellung eines emotionader Dokumentarfilm eine moralische Instanz: len Wissens um die Welt. die AutorInnen. Sie verantworten, was sie uns Denn genau darum geht es in jedem auanbieten, nämlich ein geschlossenes System diovisuellen Vorgang der Repräsentation: von Bildern über einen Aspekt des realen LeDie Montagen von Bildern und Tönen funkbens, während man zum Beispiel im Fernsetionieren auf besondere Weise widersprüchhen diese Instanz im Strom der lich. Sie verhalten sich zum Bilder erst konstruieren muss: begrifflichen Wissen dop... die Wahrheit eines Die AutorInnen drohen im Fluss pelt: Einerseits sind sie »BeProgramms ist die des Programms zu verschwinglaubigungen« (erst wenn den; die Dramaturgie der Prowir etwas sehen und hören, Fragmentierung grammabläufe ist stärker. Die scheint es uns »wirklich« Wahrheit über unsere Gesellund »konkret«), andererschaft und ihr Verhältnis zu anderen Gesellseits aber sind sie in gewisser Weise auch kindschaften kommt in unseren Leitmedien vor lich in ihrer naiven Empfindsamkeit: Bilder allem als versteckte vor; sie äußert sich subund Töne schleudern uns automatisch einige versiv in »Tatort«-Krimis, in ZeichentrickfilStufen in Prozessen des Erwachsenwerdens men oder nächtlichen Comedy-Shows. Man und der Zivilisation zurück. Kritische Distanz könnte sagen: Eine gut versteckte Wahrheit gegenüber Bildern ist erheblich schwieriger ist besser als gar keine. Aber auf der anderen als kritische Distanz gegenüber einem Text Seite gewöhnen wir uns sehr an ein audiovioder einer Idee. Die schwierige Beziehung suelles Versteckspiel, dass uns jede direkte Abzwischen Idee und Anschauung ist auch in bildung suspekt erscheint. Die aufklärerische unserer Philosophie allenfalls jeweils vorläufig Geste des Dokumentarischen muss in gewisgelöst, und augenblicklich befinden wir uns sem Maße gegen die postmoderne Geste der offensichtlich in einer Phase, in der schlicht Subversion wieder gewonnen werden. die ökonomische und politische Praxis einen vergleichsweise fundamentalen Primat der Anschauung über die Idee bestimmt. Auch Die Wahrheit eines Films hier liegt eine Verpflichtung des Dokumentat Im Kino konstruiert das Dokumentarische rischen zur Selbstreflexion. Eine der primären möglicherweise ein Weltbild (oder doch Aufgaben des zeitgenössischen Dokumentarimmerhin ein Bild eines Konfliktfeldes); im films ist es, die zerbrochene Beziehung Fernsehen, unabhängig von den Fähigkeiten von Idee und und den guten Absichten der AutorInnen, löst sich das Dokumentarische in einem Weltbild auf (das
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Dokumentarfilm
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Dokumentarfilm Anschauung wieder – nein: auf neue Weise – zu gewinnen. Eine Voraussetzung dafür ist: Skepsis gegenüber beiden Seiten. Der Begriff des Dokumentarischen hat sich in den 1990er Jahren aus einem allzu rigiden ethischen und formalen Definitionsrahmen befreit. So wie er entdeckt, dass in der so genannten Wirklichkeit ein erheblicher Anteil an Inszenierung steckt, entdeckt der neue Dokumentarfilm, dass es »Annäherungen an die Wirklichkeit« gibt, die sich nicht als »Wiedergabe« sondern als »Nachinszenierung« ergeben. Die Illusion, eine Kamera als eine »objektive«, als eine gleichsam naturwissenschaftliche Maschine zur Beschreibung der Wirklichkeit einzusetzen, ist ebenso verschwunden wie der Glaube an eine ein für allemal gültige Perspektive für eine »richtige« Parteilichkeit. Jeder Dokumentarfilm setzt sich aus fast unendlich vielen künstlerischen und moralischen Entscheidungen zusammen, die möglicherweise »Traditionen«, aber viel weniger »Regeln« erzeugen (im schlimmsten Fall erzeugen sie, und damit sind wir wieder bei der Konkurrenz des dokumentarischen Strangs im ewig laufenden Fernsehfilm, »Gewohnheiten«). Die erste Aufgabe jeden Dokumentarfilms ist es, die »Gewohnheit« zu überwinden, und die »Tradition« zu befragen.
Filme mit Menschen machen
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t Wir haben in der Geschichte ihres Missbrauchs die Kamera als Waffe kennen gelernt. Sie richtet sich gegen ihr Objekt (sie macht den Menschen vor ihr zum »Ding«, zum »Opfer«, zur Projektion eigener Vorstellungen, zum Engel oder Dämon, zum Mythos oder Kind); sie richtet sich gegen den Zuschauer (gegen eine bestimmte Bildfolge, einen bestimmten alarmierenden oder schmeichelnden Ton, gegen bestimmte Verknüpfungen von Bildern und Musik, gegen dramaturgische Fallen kann sich letzten Endes auch der kritischste Zuschauer oder die kritischste Zuschauerin nicht wehren, geschweige denn jemand – und das sind wir alle in bestimmten Fällen –, der die Bilder auf der Leinwand sieht, um die Bilder, die bereits in ihm sind, zu bestätigen); und sie richtet sich am Ende gegen den, der sie »führt« (aus den verschiedensten Gründen, nur ein paar davon: auch die Kamera ist ein Produktionsmittel, das einer politischen Ökonomie gehorcht, sie gehorcht den AutorInnen ebenso wie sie Zensur, Manipulation oder Korruption gehorcht). Dreifache Gefahr also, der man vielleicht mit einer Charta der Menschenrechte für alle drei Bereiche, Herstellung, Projektion und Vertrieb eines Films, begegnen könnte: Jeder Mensch vor der Kamera hat das unverlierbare Recht auf körperliche und seelische Unverletztheit; der Vorgang einer Aufnahme setzt das Recht auf Selbstbestimmung, Würde und Unversehrtheit nicht außer Kraft. Was sich so
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naler Zusammenschluss – auch in Form einer leicht sagt als eine humanistische GrundforOrganisation wie »Dokumentarfilmer ohne derung (die übrigens nicht nur insbesondere Grenzen« – Verstöße zumindest benennen für »Andersdenkende« gilt, wie nach Rosa Luund öffentlich machen. xemburg alle Freiheit, sondern sogar für die Wie für die Sphäre der Gefilmten und die Person – nicht für die Funktion! – eines TyranSphäre der Filmenden müssten nun auch nen oder eines Verbrechers) macht im Grunfür die Verbreitung eines Dokumentarfilms de bereits eine Grund-Hoffnung des Dokugrundlegende Rechte gelten, einschließlich mentarischen zunichte, nämlich die Wirklicheines Rechts auf Unversehrtheit (die weltweikeit »einfangen« zu können, »so wie sie ist«. te Ächtung von Verbot und Zensur gegenDen Ausweg aus dem Dilemma weist ein über nach der Charta der Menschenrechte schöner Satz von Rainer Werner Fassbinder: hergestellten Filme), der Freiheit (bis hin zur Man muss nicht Filme über etwas machen, Schaffung unabhängiger Abspielplätze jensondern Filme mit etwas. Und analog heißt seits der Marktzwänge, bis hin zur technolodas: Man muss nicht Filme über Menschen gischen Grundversorgung dort, wo sie fehlt). machen, sondern Filme mit Menschen. Nur Diese drei Schritte sind zwar kein Allheilim Extremfall bedeutet das auch, dass die mittel in einer Welt, in der BilKamera auch die Seiten der zur Waffe geworden sind, wechselt, der filmende Dokumentarfilme aber ein wichtiger und notMensch und der gefilmsollten die »Gewohnheit« wendiger Ansatz: die Erarbeite Mensch die Rollen tung einer Charta für Mentauschen. überwinden und die schenrechte und Film, die die Bedeutender ist, die »Tradition« befragen Gegebenheiten eines globagefilmten Menschen zu len aber differenzierten Bilbewussten DarstellerIndermarktes berücksichtigt; ein internationaler nen ihrer selbst werden zu lassen, zu MitZusammenschluss der FilmemacherInnen im AutorInnen. Die gefilmten und die filmenden Zeichen der Menschenrechte, und schließlich Menschen begegnen sich in einem Film, der die Gewährleistung eines offenen und freien am Ende beiden so sehr »gehört« wie er ein Austauschs der unter diesen Bedingungen eigenes Leben entfaltet (und am anderen Enentstandenen Filme. Ein Staat, der sich zu den de eben niemandem mehr gehört). Die sorgMenschenrechten bekannt hat, darf sich der fältig inszenierten Filme von Ulrich Seidel 2, dem man häufig genug vorgeworfen hat, Verbreitung eines unter menschenrechtlichen nicht mehr »dokumentarisch« zu sein, komBedingungen entstandenen Films nicht men diesen Forderungen näher als ein Guewidersetzen. (Gerade der letzte Satz mag zeirilla-Shooting im sozialen und historischen gen, welche Brisanz in einem auf den ersten Brennpunkt. Blick vielleicht naiv klingenden Vorschlag Das »entlarvende«, »demaskierende« Bild steckt.) des Dokumentarfilms, das sich gegen die ZuDas Menschenrecht ist, nach dem, was sammenhänge von Macht und Ausbeutung man ein wenig pathetisch »das Ende der richtet, ist aufgrund einer solchen Charta großen Erzählungen« genannt hat, und nach nicht einfach »verboten«. Aber es hat definieiner durchaus berechtigten Phase des Zweitiv den Charakter einer medialen Notwehr fels an der Wiedergabe der Wirklichkeit durch und muss seinen Ausnahmecharakter reflekdas technologische Medium Film, zu einer tieren. Das Spiel der versteckten Kamera, des möglichen neuen Leitlinie für eine filmische Eindringens und der Würdelosigkeit ist ansonEthik des Dokumentarischen geworden. Der sten längst schon so sehr Teil des EntertainRekurs auf die formulierten Menschenrechte ment und zur gleichen Zeit des staatlichen gibt möglicherweise zugleich einen AbbilEingriffs in die Privatsphäre der Bürger gewordungs- und Verhaltenskodex der Filmemaden, dass seine bloße Imitation oder UmkehcherInnen, engt aber den künstlerischen, disrung (wie es Michael Moore und einige seiner kursiven und politischen Spielraum nicht in SchülerInnen vielleicht allzu bewusstlos tun) dem Maße ein, wie es im schlimmsten Fall eiallein kein hinreichender Grund sein kann. ne »Ideologie«, im besten Fall eine »Methode« tun kann. Die Welt am Leitfaden der Menschenrechte mit der Kamera sehen ist Recht auf Verbreitung eine Aufgabe von Weite und Vielfalt. t FilmemacherInnen, die die MenschenAnmerkungen: rechte in der Sphäre der Gefilmten achten, können ihrerseits bei ihrer Arbeit alle Men1 vgl. Hans Magnus Enzensberger: Baukasten zu schenrechte in Anspruch nehmen, unbeheleiner Theorie der Medien (1970). ligt und frei in ihren Entscheidungen. Dieses 2 Filme wie u.a. »Zur Lage (Situation Report)« wechselseitige Recht muss durch eine Char(2001), »Jesus, Du weißt« (2003) oder »Import Export« (2006) ta versichert werden, zu deren Einhaltung sich Staaten und gesellschaftliche Institutionen, die es mit den Menschenrechten ernst t Georg Seeßlen ist freier Autor und meinen, verpflichten sollten. Auf der Seite Dozent. der FilmemacherInnen könnte ein internatio-
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»Die Neugier kommt vor der Moral« Interview mit Filmemacher Michael Glawogger
Der österreichische Filmemacher Michael Glawogger wurde 1959 in Graz geboren. Er studierte am San Francisco Art Institute und an der Filmakademie Wien. Sein Dokumentarfilm »Megacities« von 1998 wurde als erster österreichischer Film beim Sundance Film Festival 1999 gezeigt und mit dem Wiener Filmpreis, dem Golden Spin Award sowie dem NFB-Award for Best Documentary ausgezeichnet. »Workingman’s Death« aus dem Jahr 2005 zeigt körperliche Schwerstarbeit im 21. Jahrhundert und wurde mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet.
Yann Tonnar : In Megacities haben Sie sich
Kunden verkaufen will, bleibt natürlich nieeinen sehr freien Umgang mit den Stilmitteln mand stehen, weil da die Kamera ist. Das des Genres erlaubt. In Workingman’s Death heißt, ich muss zu anderen Mitteln greifen. In werden die Grenzen zwischen Dokumentaridiesem Fall mache ich ein Casting für Kunden, schem und Inszeniertem weniger verwischt. und dann kann ich mich an die Wirklichkeit Es ist in diesem Sinn ein klassischerer Dokuannähern. (...) mentarfilm: mehr Interviews, weniger InszeDas geht natürlich sehr weit in der Methonierungen, weniger Querverweise, weniger de, das ist fast ein re-enactment. Aber wenn dramaturgische Tricks ... ich mich entschließe, t Michael Glawogger: so etwas zu filmen, »Eigentlich sollte der Grundsätzlich kommen muss ich es so machen, Filmemacher oder Künstler denn dokumentarisch diese Elemente schon in beiden Filmen vor. In Megageht es nicht. Bei den mit aufgekrempelten cities gibt es eine Sequenz, Schwefelarbeitern von Ärmeln gestalten« in der ein street hustler »air Indonesien in Workingman’s Death zum Beipussy« verkauft (also nicht spiel, da sehe ich die Arbeiter auf ihrem Weg existierende Prostituierte, Anm. d. Red.). Das von A nach B, die schwere Arbeit, das Wiegen reicht weit in den fiktionalen Bereich hinein, der Lasten auf ihren Schultern, und dann seweil man das mit normalen dokumentarihe ich, dass sie Pausen machen, miteinander schen Mitteln nicht mehr darstellen kann. sprechen, und ich sehe, dass die Touristen Wenn man sich auf der Straße mit der Kamekommen. Dort bilde ich dann Gruppen und ra zu jemandem hinstellt, der so etwas an iz3w
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lasse sie miteinander sprechen. Das ist dann auch noch ziemlich inszeniert, aber ganz klar aus der Wirklichkeit generiert. Es stellt für mich diesen Ort am Besten dar. Beim Schlachthof in Nigeria, ebenfalls in Workingman’s Death, kann ich in den Ort fast überhaupt nicht eingreifen, sondern filme wie in einem Strudel. Da kommen die Ziegen und die Kühe, sie werden geschlachtet, geröstet, gewaschen. Dann geht es vorbei an einem Platz, wo die Kühe gerade gehäutet, zerschnitten und in Teile zerlegt werden, und dann werden sie zu den Taxis getragen. In diesen Strudel lasse ich mich mit der Kamera Tag um Tag hineinziehen. Eigentlich schlage ich viele verschiedene Tonfälle an, orientiere mich dabei aber immer an dem, was der einzelne Ort, der einzelne Mensch, der einzelne Moment von mir verlangt. Workingman’s Death ist untertitelt mit »5 Bilder zur Arbeit im 21. Jahrhundert«. Der Film funktioniert ja zuerst auf einer visuellen Ebene, bevor er auf einer narrativen, dramaturgischen oder pädagogischen Ebene wirkt. Können Sie das erläutern? t Ich bin der Meinung, dass das Bild das Hauptstilmittel und Haupterzählmittel des Filmes ist. Wo ich nur kann, versuche ich al-
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Dokumentarfilm les mit Bildern, Schnitten und Rhythmen zu erzählen. Sprache ist für mich eigentlich fast das letzte Mittel, wenn es gar nicht mehr anders geht. Wenn ich bei Filmvorführungen anwesend war, sagten ganz viele Leute zu mir: Sie haben den Kommentar weggelassen. Ich sage dazu immer: Nein, ich habe keinen dazu gegeben. Das ist ein ganz anderer Ansatz. Der Dokumentarfilm hat viele Traditionen, und nicht alle setzen das Stilmittel Kommentar ein. Ich sprach anfangs bewusst von »Bildern«, weil es von vorneherein den Blick in diese Richtung lenkt, dass ich nämlich etwas erzählt bekomme, was sich über Bilder vermittelt und nicht über Worte. (...)
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In Megacities gibt es diese Szene von den geschlachteten, blutenden und zuckenden Hühnern im Topf. Der Blick der Kamera bleibt sehr lange an diesem blutbeschmierten Bild hängen. Es wurde Ihnen vorgeworfen, diese Einstellung sei zu lang und schwer erträglich. Im Vergleich mit der Sequenz in Workingman’s Death auf dem Schlachthof in Nigeria, was ein wahres 20-minütiges Blutbad ist, war die Szene mit den Hühnern ja nur Kinderprogramm.
Die Leute können sich bei beiden Sequenzen bei meinen jeweiligen Cuttern bedanken. Wenn es nach mir ginge, wären beide ungefähr doppelt so lange. Ich geh’ da imIn der Sequenz am Schwefelberg in Indonesien mer nach meinem eigenen Schauen. Für in Workingman’s Death – die ja den Untertimich ist Megacities vielleicht weniger ein Film tel »Geister« trägt – wird sehr viel mit der Tonüber Großstädte als ein Film über das Schaukulisse gearbeitet: das Quietschen der Körbe en, über Spazierengehen und Schauen. Wie beim Tragen wird verstärkt, der Ton des Rauich das erste Mal diese Tonne auf einem ches scheint verfremdet, Markt in Indien gesehen hakleine unauffällige Glockenbe, stand ich eine halbe »Ich arbeite nur mit spiele, alles wirkt zusamStunde davor und schaute Dingen, die ich aus der mir das an. Ich fragte mich men, um etwas Gespenstisches heraufzubeschwören. dann selbst: wieso willst du Realität hole« Ein bisschen mehr Effekte, das so lang sehen? Für mich und man wäre komplett ins ist es ein Bild, das mich soSurreale gefallen. Aber diesen Schritt machen zusagen über den Ekel hinaus anregt, einfach Sie nicht. Trotz aller Effekte behalten Sie imüber den Film nachzudenken. Es geht um etmer einen starken Bezug zur Realität. Wie was Ähnliches wie auf dem Schlachthof in handeln Sie diese Dialektik zwischen Realität Nigeria: Das ist Ästhetik des Todes, das und künstlerischer Gestaltung für sich aus? schaut aus wie ein Kunstwerk. Da assoziiert t Na ja, ich denke schon, dass alle Stilmittel man plötzlich sehr viel, über das eigene Es– Bild, Ton, Schnitt, auch die Wahl der Schausen, über das eigene Sterben. (...) plätze und sogar Dinge, die fast von selber Was fasziniert Sie letztendlich am gefilmten kommen, wie z.B. der ständige Rauch im Film Tod? oder dass es eine gewisse Farblichkeit gibt – t Ich finde nicht, dass jeder sich ständig mit Teil der Gestaltung sind. Wie man eine Kameseinem Tod auseinandersetzen muss. Am ra aufstellt, wie man genau ein Bild macht, allerliebsten möchten wir ihn in unserm Hirn wie man es aneinander schneidet und wie wegsperren, was ja ganz klar ist, weil es ein der Ton dazu verwendet wird, das ist in jeder schrecklicher Gedanke ist. Ich denke auch eiHinsicht gestaltet. Aber gerade im Dokumengentlich selten ans Sterben. Aber in Momentarfilm kann man nur mit den Dingen wirkten, wenn ich solche Orte sehe, kann es sein, lich gut gestalten, die in der Realität sowieso dass ich plötzlich innerlich einfriere, mir denvorhanden sind. (...) ke, aha, es ist alles fragil, es ist alles lebendig, Ich würde nie etwas nachinszenieren oder schleimig, so sind wir, solche Wesen. (...) etwas verstärken, herausheben oder klarer machen, was nicht sowieso in der WirklichEin Teil des Publikums fühlt sich gestört bei Ihkeit vorhanden ist. Ich glaube, das ist der ren Bildern und wirft Ihnen vor, Ihr Blick auf Unterschied zum klassischen Surrealismus. das Elend der Welt sei zu ästhetisch. Warum Da kann ich ja sozusagen alles machen. Da finden diese Menschen, dass man die Welt so kann ich Zeichnungen ins Bild stellen..., was nicht zeigen darf? ja alles auch legitim wäre, wenn man das will. t Sie flüchten sich in den Vorwurf der ÄsAber ich arbeite eigentlich nur mit Dingen, thetisierung, weil sie nicht wahrhaben woldie ich aus der Realität hole. len, dass die Bilder wahr sind. Anders kann Letztendlich geht es ja im Kino darum, ich mir das nicht erklären. Meine Bilder sind dass man etwas hergibt, dem Zuschauer ein so weit weg von jeder Form von ÄsthetisieAngebot macht, wie man die Welt auch anrung, sie sind ganz einfach, tun nichts andeschauen kann. Und das ist schon sehr oft eires als hinschauen. Bei einer Ästhetisierung ne Gestaltungsfrage und nicht immer nur eimüsste man ja etwas dazu geben. Diese Bilne kunstideologische nach dem Motto: was der sind unangenehm, und wenn etwas undarf ich und was darf ich nicht? Eigentlich angenehm ist, kann man es nicht mehr in sollte der Filmemacher oder Künstler mit aufsein eigenes Wertesystem einordnen und gekrempelten Ärmeln gestalten. Und er solldann schlägt man drauf los. te sich das auch trauen. iz3w
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Sie haben einmal in einem Gespräch gesagt: »Die Neugier kommt vor der Moral«. t Das gilt für den Filmemacher und das muss auch so sein. Die Moral muss er natürlich auch haben, insbesondere am Schneidetisch. Es ist oft so, dass man, um den richtigen Moment des Zeigens zu treffen, gewisse Grenzen überschreiten muss. Im Kunstwerk selbst muss man dann aber wissen, wo man aufhört. Sehen Sie in diesem Kontext Ihre Rolle als eine aufklärerische? Sozusagen dem Publikum beizubringen, wie man auch die Welt sehen kann, und wie man sie zeigen kann? t Weiß ich nicht. Ich fühle mich ganz oft nicht wie ein Filmemacher im klassischen Sinn, sondern eher einem bildenden Künstler oder einem Literaten verwandt. Die sehen sich ja auch nicht unbedingt als aufklärerisch. Ich merke, wenn Kollegen über ihre Filme reden, dass mir das oft nicht so nahe ist, als wenn ich einen Maler oder einen Schriftsteller reden höre. Nur weil ich z.B. darüber spreche, wie man schaut oder wie man Bilder wahrnimmt, bin ich kein preacher. Ich habe überhaupt keine Mission in dem Sinn. Ich fühle mich da ganz einfach als Künstler. Ihre Bilder finden oft an der Grenze dessen statt, was für den Menschen oder das Tier möglich ist auf dieser Erde. Oft sind es brutale Bilder. Würde es Sie interessieren, eine Kriegssituation zu filmen? t Mich würde es auch interessieren, in einer Bürosituation zu filmen. Mir geht es grundsätzlich darum, dass ich Orte filme, die sich zum Filmen und zum Darstellen vom menschlichen Leben insofern eignen, als dass sich die Dinge dort verdichten. Wenn ich Arbeit filmen will, dann muss so vieles zusammen stimmen, dass ich begreifen kann, was Arbeit ist. Dann muss die Landschaft, der Mensch, die Farben, der Moment, das Geräusch, alles muss stimmen. (...) Ihre Frage zielt ja darauf ab, ob ich immer extremer werden will. Darum geht es mir überhaupt nicht, deswegen hab ich sie auch mit dem Büro beantwortet. Wenn meine Aufgabenstellung eine solche ist, dass sie mich in ein Büro führt, dann werde ich das Büro finden müssen, in dem sich auf dokumentarische Weise das verdichtet, was ich zeigen will. Ich habe aber auch keine Angst davor, in einem Krieg zu filmen, ich habe auch keine Angst davor, dass was passiert, dass jemand erschossen wird, während ich filme. Aber das heißt nicht, dass es mir um das Extreme geht. Es geht mir um das Richtige, um den richtigen Moment.
Das leicht bearbeitete Interview führte Yann Tonnar. Es ist in ungekürzter Originalfassung auf www.workingmansdeath.com nachzulesen.
Der Kontext, in dem dokumentarische Zeugnisse präsentiert und rezipiert werden, bestimmt oft ihre politische und künstlerische Kraft. Die Auswahl der »Dokumente«, ihre Zusammenstellung und die Collage von Bild, Ton und Kommentar sind auf jeden Fall machtvolle Mittel. Innerhalb des Kunstbetriebs ist darüber eine vielschichtige Debatte entbrannt.
Foto : ph otoc ase. de
Die Ehre der Wirklichkeit Wann ist das Dokumentarische wahr, wann ist es politisch, wann ist es Kunst? von H i t o S t e y e r l t Die wichtigste Entwicklung der Gegenwartskunst des letzten Jahrzehnts lässt sich in einem Begriff zusammenfassen: dem »documentary turn«. Vor allem in den 1990er Jahren kam es zur Wiederbelebung von Arbeitsweisen wie Recherche, Archivarbeit und journalistischen Dokumentationstechniken. Begriffe wie Kontext, Archiv und Wissensproduktion spielen in dieser Entwicklung eine bedeutende Rolle. Zunächst als stark sozialkritisch ausgerichtete und eher marginale Praxen angelegt, wurden dokumentarische Arbeitsweisen durch Großausstellungen wie die documenta 10 und 11 auch in den Mainstream des Kunstbetriebs integriert. Parallel dazu wurde der Bereich des dokumentarischen Essayfilms ins Kunstfeld eingemeindet. Somit entstand ein Experimentierfeld, in dem sich verschiedene dokumentarische Techniken und Rhetoriken durchdrangen und überkreuzten. Es entstand eine Zone der Überlappung von Videokunst, Dokumentar-
film, Reportage, Essay und anderen Formen. In ihnen überschneiden sich verschiedene Genres und Formate in Form audiovisueller Film-, Video- und Installationsarbeiten. Ihre Stilmittel verändern sich fortwährend.
blematik im Kunstfeld noch kaum erkannt worden. Im Gegensatz dazu wird diese philosophische Dimension auf dem Gebiet der Dokumentarfilmtheorie seit Jahrzehnten diskutiert. Bei jeder Diskussion um dokumentarische Formen werde »die Philosophie auf den Plan« gerufen, so der DokumentarfilmAbgrenzung von der Fiktion theoriker Noel Caroll. Der Bereich des Dokut Im Bereich der Kunstkritik entbrannte mentarischen sei sogar – so deklamiert mit eine – meist kulturkonservativ inspirierte – Brian Wilson ein anderer Theoretiker in draDebatte darüber, ob Dokumentarismus übermatischer Überspitzung – das »Schlachtfeld haupt Kunst sei. Doch der Epistemologie«, ausgerechnet dokumenauf dem grundsätzWie beziehen sich tarische Formen, die allzu liche Debatten über dokumentarische Arbeiten auf die Produktion und häufig als simpler und kunstloser Abklatsch des den Status von WisWirklichkeit oder Wahrheit? Bestehenden geringgesen ausgefochten schätzt und missverstanwürden. den werden, werfen die fundamentalsten An der Frage: »Was ist DokumentaFragen über Begriffe wie Wirklichkeit, Wahrrismus?« sind jedoch schon Generationen heit und Ethik auf. Es scheint, als seien die von TheoretikerInnen gescheitert. Alle DefiniAusmaße dieser genuin philosophischen Protionen – etwa durch die Abgrenzung von der iz3w
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Fiktion, durch ein privilegiertes Verhältnis zur Realität, durch bestimmte Verhaltensweisen der DokumentaristInnen oder Rezeptionsweisen des Publikums – erwiesen sich letztendlich als der aussichtslose Versuch, eine Praxis zu fixieren, die fast ebenso beweglich und veränderlich ist wie das Leben selbst. Statt Antworten gab es nur noch mehr Fragen. Was garantiert eigentlich den anscheinend so privilegierten Zugang des Dokumentarischen zur Welt? Auf welche Weise beziehen sich dokumentarische Arbeiten auf Wirklichkeit oder Wahrheit? Was verstehen sie darunter? Wie wird ihr Verständnis von gesellschaftlichen Konventionen beeinflusst? Welche Technologien und Rhetoriken der Wahrheit werden in dokumentarischen Praxen entwickelt?
Denn gerade der Versuch, einen als »politisch« definierten Inhalt – oder gar die »Wirklichkeit selbst« – in den Mittelpunkt zu stellen, erzeugte umgekehrt eine Vielzahl neuer formaler Fragen. Schließlich vermitteln dokumentarische Formen keineswegs eine allgemeine Wahrheit des Politischen, sondern im Gegenteil eine jeweils ganz besondere Politik der Wahrheit. Dieser von Michel Foucault entlehnte Begriff bezeichnet den fast schon banal zu nennenden Umstand, dass dokumentarische Formen kein transparentes Fenster zur Realität darstellen, sondern ganz im Gegenteil komplexe Machtverhältnisse artikulieren: das Dokument ist eine traditionelle historische Schaltstelle von Wissen und Macht. Wenn Walter Benjamin schreibt, dass jedes Dokument der Kultur zugleich ein Dokument der Barbarei sei, bedeutet das auch, dass jedes kulturelle Dokument die Spur von Unterdrückung und Herrschaft in sich trägt. Dies gilt auch für die Art und Weise, auf die diese Dokumente erzeugt, verbreitet und weitergegeben werden. Benjamins Verdikt über die Komplizität von Dokument und Herrschaft trifft nicht nur auf einzelne Dokumente, sondern auch auf jene komplexeren dokumentarischen Artikulationen zu, durch die Dokumente organisiert und interpretiert werden. Die dokumentarische Form, die in der Perspektive des Inhalts als Instrument der Herrschaftskritik verstanden wurde, verwandelte sich somit aus der Perspektive der Form in ein von Machtwissen saturiertes Instrument der Herrschaft. Wissenschaft, Ökonomie, Politik, Bildung usw., deren Verwandtschaft zu dokumentarischen Formen deren Nahverhältnis zur sozialen Realität garantieren sollten, begannen nun durch ihre Verbreitung im Kunstbereich auch dort jene verwaltenden, reglementierenden und regulierenden Funktionen des Machtwissens auszuüben, die in anderen gesellschaftlichen Bereichen wirksam sind.
Politik der Wahrheit
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t Ein Grund für die mangelnde theoretische Reflexion dokumentarischer Praxen im Kunstfeld ist möglicherweise in dem Umstand zu suchen, dass sie sich von einer Lösung in ein Problem verwandelten. Zunächst schienen dokumentarische Arbeitsweisen eine praktische Lösung für ein institutionelles Problem darzustellen, das wiederum mit der Eingrenzung und Abgrenzung des Kunstbereichs zu tun hat. Anfang der 1990er grassierte ein Realitätsverlust im Kunstbetrieb, der sich von jeder anderen Außenwelt als dem Kunstmarkt abschottete. Der Bezug auf soziale und politische Wirklichkeit – in den 1970ern noch grundlegender Bestandteil vieler Kunstpraxen – war in den marktfixierten 1980ern weitgehend von einer obsessiven Beschäftigung mit der zynischen und oftmals läppischen Ornamentkultur der Postmoderne verdrängt worden. Im Gegensatz dazu verhieß die dokumentarische Geste eine neue Transparenz gegen eine sich in atemberaubendem Tempo erweiternde Welt. Möglichst realistische dokumentarische Praxen erschienen als Ausweg aus dem verwertungs- und subjektfixierten Denken des Kunstmarkts, als aufklärerische Rebellion gegen alles Privatistische, Formalistische, provinziell Verquaste und verkrampft Ironische. Vor allem in der ersten Hälfte der 1990er Jahre erwachte ein neues Interesse an sozialrealistischen Formen. Verfahren der Institutionskritik traten in Form von Selbstreflexionen der eigenen künstlerischen Arbeitsbedingungen oder der Beschäftigung mit sozialen Randgruppen in den Vordergrund. Aus der Kombination von Konzept-, Recherche-, Archiv-, Dokumentations- und Interventionsarbeit entstand ein Kunstbegriff, der mitunter stark, um nicht zu sagen penetrant, auf didaktische Aufklärungseffekte setzte. Die dokumentarische Darstellung wurde als herrschaftskritisches Instrument
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Neutral vereinnahmt Schwarz auf Weiß (Video von Klub Zwei, 5 Min, 2003)
begriffen, als Protest gegen die internen Machtverhältnisse des Kunstfelds. Durch ihren Gebrauch sollten die Grenzen zwischen Kunst und Welt, zwischen sozialer Realität und elitärem Elfenbeinturm eingerissen werden. So wurde das Feld des Politischen zum großen Anderen des Kunstbereichs stilisiert, das auf dokumentarischem Wege gewissermaßen zurückerobert werden sollte. Die vermeintliche Lösung des Problems stellte sich jedoch selbst als Problem heraus.
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t Ein Problem, das auf der Ebene der Bewusstmachung eines politischen Inhalts bekämpft werden sollte, kehrte somit als Problem einer unbewussten Politik der Form zurück. Und der Versuch, die Grenzen des Kunstfelds einzureißen und dessen Machtverhältnisse zu ändern, sah sich nun mit zwei überraschenden Resultaten konfrontiert: Einerseits dem Import neuer Formen von Machtwissen ins Kunstfeld, auf der anderen Seite einer generellen Ästhetisierung gesellschaftlicher Diskurse. Damit nicht genug, ging dieser Austausch von Funktionen zwischen Kunstfeld und ande-
Dokumentarfilm ren gesellschaftlichen Bereichen mit einer fast schon tragikomischen Entwicklung einher. Der Kunstbereich wanderte nicht, wie erhofft, ein für alle Mal aus dem elitären Bereich des White Cube aus, um sich fest als Bestandteil der Welt politischer Aushandlung und Partizipation zu verankern. Ausgerechnet jener White Cube verwandelte sich in einen der letzten Räume, in dem eine genuin kritische politische Praxis dem Ansturm eines neoliberalen konservativen Abbaus politischer Öffentlichkeit noch standhalten kann. Die »politische Wirklichkeit« mitsamt ihren Vorstellungen von partizipativer Öffentlichkeit und Kritik scheint somit so gründlich in den Kunstbereich integriert worden zu sein, dass außerhalb davon kaum etwas davon übrig geblieben ist. Natürlich sind das Schwinden der politischen Öffentlichkeit und ihr Rückzug ins Reservat des Kunstbereichs keine Folge des Aufkommens dokumentarischer Praxen. Die Wiederkehr dokumentarischer Formen ist eher als Symptom dieser Entwicklung zu betrachten. Sie ist aber auch verortet in einem Kontext, in dem Kunst und Gesellschaft sich zunehmend durchdringen und somit sowohl der Bereich der Autonomie des Ästhetischen in Frage gestellt wird, als auch umgekehrt der gesamte Bereich des Gesellschaftlichen ästhetisiert wird.
Eingriff ins soziale Feld t Dokumentarische Formen im Kunstbereich übernehmen somit gegenwärtig vor allem zwei gegenläufige Funktionen. Erstens stellen sie eine Authentizitätsstrategie dar, die den Anspruch künstlerischer Arbeiten auf Kontakt mit einem auratisierten Feld des Sozialen bzw. Politischen gewährleisten soll. Die formalen Mittel, die hier eingesetzt werden, sind oft sozialrealistisch und versuchen, möglichst transparent zu bleiben. Beispiele sind etwa Kunstdokumentationen, in denen Performances oder Interventionen abgebildet werden und die bestimmte Effekte im sozialen Feld veranschaulichen. Hier wird das dokumentarische Moment als Beweismittel sozialer Relevanz und als Beleg eines »organischen« Verhältnisses zum sozialen Feld eingesetzt. In dieser Perspektive stellen einige Formen von Kunstdokumentation eine der derzeit verbreitetsten Authentisierungsstrategien im Kunstfeld dar, indem sie den rousseauistischen Mythos nähren, es gäbe eine in lokalen Praxen und Communities aktiv eingebettete Kunst, die absolut unkorrumpiert von jenem Kunstmarkt sei, der sie durch seine Nachfrage erst hervorbringt. In ihrer Funktion als Strukturierung und Eingriff ins soziale Feld übernehmen diese Dokumentarformen biopolitische Aufgaben. Authentizität wird dabei zur vitalistischen Ideologie, die gerade auch im Kontext von Globalisierung zum begehrten Rohstoff der
betreiben – ohne jedoch jegliche RepräsentaDifferenz erkoren wird. Sie zehrt vom Mythos tion in Bausch und Bogen als reine soziale jenes echten und differenten Lokalen, der oder mediale Konstruktion ohne Wahrheitsgegenwärtig in postethnographischen und gehalt zu verwerfen. Anders als in vielen meneokulturalistischen Ausstellungen reprodudienkritischen Ansätzen der letzten Jahre führt ziert wird. Hier soll das Dokumentarische diese Reflexion daher keineswegs zu endloser, eine bestimmte Wahrheit des Politischen abzirkulärer und narzisstischer Selbstreflexivität, bilden, einen authentischen und »echten« sondern zu einer ethisch-politischen Haltung. Kern des Sozialen. Dieser Stil bildet eine SchaEbenso wie dokumentarische Praxen als blone, mit der gegebene lokale Situationen in Knotenpunkte von Machtwissen wirken könden globalen Kunstbetrieb eingespeist wernen, können sie aber auch Momente eines den können: durch ein ambivalentes VerfahUmschlags darstellen, in dem dieses Machtren, das Authentizität zur globalen Serienwissen ins Wanken gerät. Dokumentarische reife bringt. Hier erweist sich jener Mythos Praxen können auch dasjedes Authentischen als ausnige in den Mittelpunkt stelgeklügeltes, hybrides und Im Dokumentarischen len, was innerhalb herrartifizielles Produkt aus gewerden Debatten über schender Machtverhältnisse nießbarer Differenz und Wiederholung. Produktion von Wissen unvorhergesehen ist – das Unvorstellbare, VerschwieDemgegenüber steht ausgefochten gene, Unbekannte, Retteneine andere, reflektiertere de und sogar UngeheuerliStrömung des Dokumentache – und somit die Möglichkeit zur Veränderischen, die ihre eigenen Mittel als sozial konrung schaffen. Denn, so Jean Luc Godard: struierte Werkzeuge wahrnimmt. In diesen »Selbst tödlich zerkratzt vermag ein kleines Arbeiten soll mitnichten die authentische Rechteck von 35 Millimetern die Ehre der Wahrheit des Politischen abgebildet, sondern gesamten Wirklichkeit zu retten.« Dokumenumgekehrt die Politik der Wahrheit verändert tarische Praxen eignen sich als Medien der werden, die ihrer Darstellung zugrunde liegt. Herrschaft ebenso wie als Werkzeuge ihrer Ein Beispiel für die Problematisierung des Aushöhlung – im Extremfall sogar ihrer AusStatus historischer Dokumente ist das kurze setzung. Sie bilden Politik nicht ab, sondern Video »Schwarz auf Weiß« der Künstlerinnenstellen an sich politische Handlungen dar. gruppe Klub Zwei. »Schwarz auf Weiß« konzentriert sich auf die Frage des fotografischen Dokuments – und zwar mittels eines radikaLiteratur: len Entzugs jener Bilder der Shoah, von de– Walter Benjamin (1966): Das Kunstwerk im Zeitnen im Off die Rede ist. Während die Leiterin alter seiner technischen Reproduzierbarkeit. eines Fotoarchivs Fragen zu Gedächtnis, Bild Frankfurt, Suhrkamp und Geschichte aufwirft, sehen wir nur – Walter Benjamin (1978): GeschichtsphilosophiTexttafeln auf Schwarz und Weiß. Trotz ihrer sche Thesen. Zur Kritik der Gewalt und andere prinzipiellen technischen Reproduzierbarkeit Aufsätze. Frankfurt, Suhrkamp ändern sich Bilder, so die These. Mit jeder – Noel Carroll (1998): Der nicht-fiktionale Film und Generation des fotografischen Abzugs verpostmoderner Skeptizismus. Bilder des Wirkschwinden Grautöne – was letztlich bleibt, lichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms. sind die harten Kontraste von Schwarz und Ed. Eva Hohenberger. Berlin, Vorwerk Verlag: 3569 Weiß. (vgl. Abbildung Seite 36) – Georges Didi-Huberman (2003): Bilder trotz allem. Über ein Stück Film, das der Hölle entrissen wurde. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, gehalten an der Akademie der Bildenden Künste Wien, 14.12.02. Wien
Machtwissen im Wanken t Gerade durch den Entzug der Bilder, von denen die Rede ist, wird jedoch die Reflektion über das, was ihren Status als historische Dokumente ausmacht, in Gang gesetzt. Es sei nicht ausschließlich die Vorderseite der Bilder der Vernichtung, die oftmals rein symbolisch eingesetzt werde, sondern die unscheinbare Rückseite mit ihren Stempeln und Vermerken, die Bildern erst ihren historischen Kontext verschaffe und somit auch ihre Bedeutung, argumentiert Klub Zwei. Die Verwendung von Bildern als Ikonen führe hingegen oft genug dazu, sie als bloße Illustrationen der Authentizität zu verwenden. »Schwarz auf Weiß« insistiert demgegenüber darauf, Fotografien als etwas, was zu lesen aufgegeben sei (Walter Benjamin), wahrzunehmen. Das Video positioniert sich innerhalb einer Debatte, die versucht, eine kritische Lektüre von Bildern zu
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– Eva Hohenberger (1998): Dokumentarfilmtheorie. Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms. Eva Hohenberger. Berlin, Verlag Vorwerk.: S 8-35.
– Bill Nichols (1991): Representing Reality. Bloomington and Indianapolis, Indiana University Press
– Hito Steyerl (2004a): Dokumentarismus als Politik der Wahrheit. In: Raumbilder und Bildräume. Ed. Gerald Raunig. Wien, Turia und Kant
– Winston Brian (1995) Claiming the real. London, British Film Institute
Hito Steyerl ist Künstlerin und Kunsttheoretikerin. Auf der documenta ist sie mit den Videoinstallationen Journal No. 1 und Lovely Andrea vertreten. t
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Romuald Hazoumé, Dream, 2007: Fotografie auf Holz kaschiert; Boot aus Plastikkanistern, Glasflaschen, Korken, Kordeln, Briefen; Bodenbeschriftung mit Asphaltfarbe; Ausstellungsansicht © Romuald Hazoumé / VG-Bild-Kunst; Foto: Hans Nevidal / documenta GmbH, Courtesy the artist
100 Tage Räume für Kunst Betrachtungen zur »documenta 12« Gut dreieinhalb Jahre wurde an der 12. Auflage der »documenta« in Kassel gebastelt, rund 500 Kunstwerke stellten die KuratorInnen zusammen. Schwer zu sagen, wie die »documenta 2007« geworden ist. Am besten, man sieht sich ein paar Bilder an. von W i n f r i e d R u s t
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t Am Beginn steht ein Gedicht über Gespenster. Die Bilder an der Wand hängen hoch und haben genügend Raum, um zu wirken. In der kleinen documenta-Halle stehen Installationen und weiße Quader, durch die man hindurch sehen kann. Ein luftig gestalteter Raum. Von der Decke hängen pastell-bunte Leinwände mit wolkigen Gebilden. Vom Image der documenta als Akademikerschwitzbude ist kaum eine Spur zu sehen. Auf der documenta 12 können die BesucherInnen Gegenwartskunst entweder einfach nur genießen, oder sie können sich bilden, sich verzaubern oder irritieren lassen, eigene Geschichten zu den gezeigten erfinden. Wer nicht hin geht, ist selbst schuld.
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Das KuratorInnenteam Ruth Noack und Roger M. Buergel wollte eine Ausstellung machen, »die den Kern der Zeit trifft«. Dies sei der Grund, warum auf der documenta sehr viele KünstlerInnen aus Südamerika, Afrika und Asien eingeladen sind. Für Buergel gibt es »dort eine Menge regionale Mächte, mit denen wir viel zu tun haben, mit denen wir noch mehr zu tun haben werden und von deren Kultur wir keine Ahnung haben. Deshalb geht es auf der documenta um komplexe Zusammenhänge.« Die Arbeiten sind aber nicht einfach Ausdruck einer »regionalen Macht«, sondern der jeweils individuellen Künstlerpersönlichkeit. Kunst ist keine Länderkunde – sie zeigt viel mehr. Entsprechend sind die
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Betrachtungsweisen der hier ausgewählten, beispielhaften Arbeiten und ihre Interpretation sehr unterschiedlich. In den Arbeiten aus dem Bereich des Konzeptuellen steht die Aussage im Mittelpunkt, wie beispielsweise bei Dream von Romuald Hazoumé. Die schönen Künste hingegen stellen den ästhetischen Genuss und die Form in den Mittelpunkt. Ein ausgeprägtes Beispiel hierfür ist die Kalligraphie. Als Mischform entpuppt sich in dieser Betrachtung die Videoinstallation Who´s listening?, in der die ProtagonistInnen im Mittelpunkt stehen. Der Maler Juan Davila und die Videoinstallation Funk Staden stehen für den Aspekt der Archäologie in der Kunst. Also dafür, verborgene – gerne verdrängte und unterbewusste – Realitäten sichtbar zu machen.
Konzeptuelle Irrung Romuald Hazoumé haut mit Dream auf den Tisch: Im Hintergrund ein Motiv schöner Strände, vorne ein Boot voll mit Löchern und
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documenta 12
Dias & Riedweg, Videostill: Funk Staden, 2007 Medieninstallation, © Dias & Riedweg, 2007 Courtesy Galeria Vermelho, São Paulo; Galeria Filomena Soares, Lissabon
Tseng Yu-Chin, Who’s Listening?, 2003–2004 Videostill © Tseng Yu-Chin
vor den Augen des informierten Betrachters die Bilder von Hoffnungslosen an den Pforten Europas. Hazoumé hat ein Boot aus durchgesägten Benzinkanistern gebaut. Die Einfülllöcher der Blechkanister zeigen offen nach außen. Es wirkt wie ein gepanzertes, aber eben völlig untaugliches Boot. Löchrig, wie die Hoffnung der AfrikanerInnen, die versuchen, Europa zu erreichen. Wie wehrlos Kunst sein kann, zeigte sich beim Eröffnungsbesuch von Bundespräsident Horst Köhler. Er konnte Hazoumés Dream unwidersprochen mit dem Satz würdigen: »Wir müssen begreifen, dass wir alle in einem Boot sitzen.« Die großzügigen Interpretationsspielräume von Kunst ermöglichen ungewöhnliche Koalitionen. Aber Köhler sitzt im Polizeiboot.
Ästhetische Raffinesse t Konzeptuelle Kunst spricht den Intellekt an und möchte eine neue Sichtweise erreichen. Intelligenz, die in den Künsten eingezogen ist, sollte nicht mit Appellen an mehr Schönheit und Gemütlichkeit ausgetrieben werden. Sicher hat konzeptuelle Kunst etwas Didaktisches. Letztlich ist der Widerspruch unauflöslich: Der Überhang wie das Fehlen von Intellektualität banalisieren Kunst. Ist Kalligraphie im Vergleich mit der intellektuellen Kunst banal? Eine Abschrift von
schen Zierblattes weist über die Banalität des heiligen Texten aus dem 16. Jahrhundert gefeudalreligiösen, aber auch des zweckrationahört normalerweise ins Völkerkundemuseum. len Warenregimes der Gegenwart in einem Abseits des Inhaltes lässt die Betrachtung der Aspekt hinaus. Hier scheint ein besonderer formalen Ausführung eigene Entdeckungen Ausdruck von Selbstverzu: Kalligraphisches Zierblatt mit arabischem Text ist die wirklichung auf. Weniger Konzeptuelle Kunst schlichte Beschreibung einer in dem, was Kunstwerke Arbeit des persischen Kallispricht den Intellekt an aussprechen, schrieb Theographen Haddschi Maqsud dor W. Adorno in der »MiAt-Tabrizi. In vier aufwändig nima Moralia« zu dieser gearbeiteten Umrahmungen aus bunten Frage, liege das Tröstliche von Kunst, »als darQuadraten, Blüten und Blättern liegt ein Feld in, dass es ihnen gelang, dem Dasein sich abvon Blumen mit roten Blüten, die scheinbar zutrotzen«. einer Bewegung zur rechten oberen Seite des Ein anderes Betrachtungsfeld schlägt die documenta mit dem Motto »Migration der Bildes folgen. In der Mitte des Bildes eröffnen Form« vor. So war der persische Kalligraph drei weitere Umrahmungen ein Feld mit vier Haddschi Maqsud At-Tabrizi im 16. JahrhunZeilen für die Schrift. Die Buchstaben sind für dert nach Indien gereist und sein Stil wurde viele BetrachterInnen nicht entzifferbar, aber im Mogulreich weiter verbreitet. Mit einer sie sind schön und die Linienführung ist ein beispielhaften Wiederholung dieser MigraZeichen von besonderem ästhetischem Raffitionsgeschichte von Kunst in wechselnden nement. An wenigen Stellen tritt die Schrift Ländern und Zeiten vertieft die Ausstellung über die akkurat gezogene Linie, was wie eiden Eindruck, dass die Welt schon viele Glone Geste besonderer Freiheit erscheint. Das balisierungsrunden hinter sich hat. Blatt erweist sich somit als ein Terrain kühner Aktion. Und die BetrachterInnen können sich in der wechselseitigen Reflexion der ungeSituationen zählten kleinen Ornamente und der gesamt Einen ganz anderen Zugang eröffnet die ten Komposition in Kontemplation verlieren Videoinstallation Who´s listening? No. 5 (2004) – oder in der Enträtselung der Komposition. von Tsen Yu-Chin. Der Plot ist einfach: Ein So steht man vielleicht den Möglichkeiten Kind nach dem nächsten steht jeweils vor eieiner verpönten l’art pour l’art gegenüber. ner Wand und wird mit Joghurt bespritzt. Im Die Feinheit und Ästhetik des kalligraphiiz3w
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documenta 12 Gesicht jedes Kindes spiegelt sich zuerst die Erwartung. Verschiedene Erwartungshaltungen zwischen Skepsis und Vorfreude widersprechen sich zum Teil fast unmerklich im Spiel der Mimik. Irgendwann trifft das Joghurt, die Spannung löst sich auf und das Kind reagiert. Die einen lachen, andere verziehen den Mund, wieder andere Kinder zeigen kaum eine Regung. Das Spiel mit den Kindern, deren Erwartung und Fähigkeit, vollends in einer solchen Situation aufzugehen, aber auch die Komplexität der Gefühlsanteile, die hier zu ahnen sind – die Furcht, die Panzerung gegen das Zeigen von Emotion oder Offenheit –, geben der Installation ihre Faszination. Albern, ernst, melancholisch, reglos, flippig – es ist eindrucksvoll, welche Vielfalt an Gesichtsausdrücken sich in den Kindergesichtern zeigt. Dies frappiert, weil die Situation extrem standardisiert ist, und es öffnet den Blick auf die Einmaligkeit jedes Menschen.
Irritierende Heldenbilder
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feiert der antiimperialistische Unverstand in einem Bild mit Hakenkreuz auf USA-Fahne fröhliche Urstände. Davila zeigt einen wichtigen Energietransfer gegen die herrschenden Verhältnisse in seiner ganzen Widersprüchlichkeit und schreckt nicht vor der Abbildung der Hässlichkeit aller Beteiligten zurück: Ein »Junger Wilder« mit globaler Süd-Perspektive. Davila ist einer der meistgezeigten Künstler der documenta. Manche seiner Bilder sind überladen, schlecht gemacht, und man kann darüber rätseln, was er auf der documenta soll. Doch er lässt Gespenster aus einem Abgrund aufscheinen, die sonst bequem ignoriert werden: Unterdrückte sexuelle Wünsche, Gewaltgeschichte, Abstumpfung, Sehnsucht. Vielleicht macht Davila eher die Kunst, die diese Zeit verdient, als eine, die über sie hinaus weist. Immerhin ist es eine, die, wenn auch nicht hinter, so doch unter die Oberfläche sieht. Das Unbewusste scheint der Konzeptkunst genauso wie der l’art pour l’art vergleichsweise verschlossen zu sein. Es ist eher diese »junge, wilde« Malerei, die hier einen Zugang besitzt.
t Juan Davila ist in Chile geboren und lebt seit 1974 in Melbourne. Sein Ansatz ist, vorherrschende Erzählungen mit den Mitteln Kolonialismuskritisches Ritual der Malerei zu irritieren. In seinem Bild The t Oder, wie ein weiteres Beispiel zeigt, auch Liberator Simón Bolívar (1994) wählt er das Motiv des Reiterbildes eines Volkshelden. Im mal eine Videoinstallation: Funk Staden von Dias & Riedweg (2007) ist eine krude und Gegensatz zur starren Normiertheit solcher doch faszinierende Spurensuche in historiBilder, in denen die immer gleichen Insignien schen, kolonialen und entsprechenden akvon Männlichkeit und Heldentum erscheituellen Abgründen. nen, lässt Davila hier die Geister, die unter Ein kleines Feuer brennt auf einer Dachterdieser Oberfläche schlummern, aufsteigen. rasse eines Hochhauses über Rio de Janeiro. Während sich das Vorderteil des Pferdes in Angehörige der Baile-Funk-Szene aus der eine bunte Karussellfigur verwandelt, ist der Favela treffen sich hier zu einem Fest. Ein hisVolksheld ein glatzköpfiger Transsexueller, torischer Kontext wird eingeblendet: Ein Reiauf dessen bunter Uniform ein Dekolletee sebericht des 1525 bei Kassel geborenen den Blick auf die Brüste freigibt und der zu Hans Staden. Seine »Wahrhaftige Historia« den Reiterstiefeln Strapse trägt. Symbole der beschrieb seine GefanArbeiterklasse und des Mestigenschaft bei den kannizentums irritieren das ReiterSoll Barbarei, sobald balistischen Tupinambá bild zusätzlich. Mit der linken Hand zeigt er dem Betrachter sie im Süden stattfindet im heutigen Brasilien. Die »Wahrhaftige Historia« einen Stinkefinger. oder kulturell deutbar geriet zu einer illustrierDavila spielt nicht mit den ist, relativiert werden? ten Darstellung koloniaexistierenden Blickmustern – ler Klischees, die Motive er tritt ihnen kräftig in den der Unzivilisiertheit abbilArsch. Er malt seinen Protagodete, welche letztlich auf die Kolonien per se nisten etwa die Gewalt der lateinamerikaniübertragen wurden und ein Motiv zu deren schen Militärdiktaturen mit VerstümmelunBeherrschung lieferten. gen auf die Körper. Davila bringt in seinen BilDie Dreikanal-Videoinstallation wechselt dern über die Gewalt, die den Körpern seiner zwischen der Feier und kurzen Einblendungen ProtagonistInnen eingeschrieben ist, etwas aus der »Wahrhaften Historia«. Die Funkeiros weiteres auf den Punkt. Es ist die wilde Refeiern mit ihrer Musik ein Fest, in dem sie das gung von Subalternen, die LebensäußerunMotiv des »Ibirapema« nachstellen, des Kultgen produzieren, die selten an die Oberfläfestes bei der Tötung und Verspeisung von che dringen, nicht gelebt werden und in kein Gefangenen. Bad taste? Kunst kann schon Gut-Böse-Schema passen. Davila verleiht eimal Ausprobieren, was aus abwegigen Aktioner massenhaften Wut Bilder. Eine Wut, die nen geschieht. Die Gäste stehen sich in zwei normalerweise keinen Platz findet, im UnterReihen links und rechts des Feuers gegenüber grund vagabundiert. Einer Wut, die oft einund beginnen zu tanzen. Sie tanzen auch fach gegen westliche Kultur, gegen Cocaüber das Feuer und dem Ganzen mischt sich Cola und Hollywood gerichtet ist. Bei Davila
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etwas Rituelles bei. Einblendungen zeigen wieder die kolonialistischen Darstellungen der Indigenen in Stadens Reisebericht. Die alte Gewalt gegen die Indigenen wird darin in Erinnerung gerufen und wie das Bild des Wilden entworfen wurde. Die Party dreht die Gewalt wieder rituell um und zurück. Weiße Puppen werden herumgereicht und betanzt. Über einen weißen Frauentorso mit brennender Vagina wird pop-rituell getanzt, und er wird symbolisch koitiert. Ebenso eine weiße Sexpuppe, die herumgereicht wird. Das Event oszilliert zwischen Rache und Spiel, Party und Ritus. Die Bässe wummern, die Stimmung ist prächtig. Drei Kameras werden an der Spitze eines hölzernen Stabes befestigt – gleich dem rituellen, geschmückten Objekt, mit dem den Feinden bei den historischen TupinambáParties der Kopf eingeschlagen wurde. Die technisierte Keule wird beim Tanzen auf dem Hochdach von Hand zu Hand gereicht. Schließlich, auf dem Höhepunkt der Party, dreht sich der Stock um sich selbst und die Kameras kreisen über der Party und den Lichtern Rio de Janeiros, bis in einem rauschhaften Bilderreigen nur noch kreisende Farben zu sehen sind. Kriegsmusik wird zu elektronischem Sound, Kannibalenkult zur Baile-FunkParty, Krieger zu Funkeiros, Menschenfleisch zu Schweinesteak. Zumindest an Abgründigkeit mangelt es nicht. Es werden Bilder nach oben geschwemmt, auf die man normalerweise nicht gekommen wäre. Zugleich ist die Performance ein Coming-Out betrunkener, sexistischer Grillspießer, wie es sie überall gibt. Die historischen Einblendungen erweisen sich als Vorgeschichte eben jenes spezifischen Grillspießertums. Im documenta-Katalog schlägt die Stunde der Ethnologie: »Der Anthropologe weiß heute, dass die anthropophage Praxis der Tupinambá mit der Vorstellung verbunden ist, sich Teile des Anders-Seins des Feindes einzuverleiben. Staden kam mit dem Leben davon, weil er nicht mutig schien und deswegen kein Begehren auf sich zog. Diese Tradition widerspricht dem Klischee von den Wilden, da sie eine kulturelle Beziehung zu dem Feind erkennen lässt.« Soll Barbarei, sobald sie im Süden stattfindet oder kulturell deutbar ist, relativiert werden? Der Kannibalismus war eine Spielart der magischen Barbarei – in Europa herrschte zu dieser Zeit eine andere vor. Die vorliegende Kulturkritik ist sicher ausbaufähig, schön groovig ist die Installation schon jetzt. Wie gesagt, es gibt einiges zu sehen. Wer nicht hin geht, ist selbst schuld. Die documenta 12 ist noch bis zum 23. September in Kassel zu sehen. www.documenta12.de
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Hypen und Bashen Neue deutsche Heimatkunst im Jahre 2007
Deutscher HipHop und Rap kam mit seinen sexistischen und rassistischen Texten in letzter Zeit vermehrt in die Schlagzeilen. Gleichzeitig boomen Filme, die die multikulturelle Identität deutscher Großstädte betonen. Was das Eine mit dem Anderen zu tun hat, ist nicht nur die Aufregung über »sexistische Kackscheiße«.
von T i l m a n Vo g t
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t Wenn man Anfang Mai durch die Straßen des Berliner Stadtteils Kreuzberg schlenderte, blieb manches Mal der Blick an zwei Plakaten hängen: Das eine bewarb mit schwarzen Lettern auf knallgelbem Grund und der Sentenz »Ich komm’ aus Kreuzberg, Du Muschi« Bettina Blümners Dokumentarfilm Prinzessinnenbad. Das andere zeigte, massiv ins Bild gerückt, den finster drein blickenden Rapper Bushido, der sein neues Album Von der Skyline zum Bordstein zurück anzukündigen hatte. Während sich die erstgenannten Plakate großer Beliebtheit erfreuen – mittlerweile sind sogar T-Shirts mit dem Spruch erhältlich – , prangten auf der Musikwerbung manches Mal Überkleber mit der Warnung: »Sexistische Kackscheiße«. Auch wenn diese Denunziation durchaus ihre Berechtigung hat, greift die bloße Tabuisierung der Liedtexte, die auch der Kulturstaatsminister Neumann jüngst forderte, zu kurz. Entgegen der Schreie nach Verbot und Anstand liegt die eigentliche Problematik eben weniger in dem kulturindustriellen Clown, der sich mittels Sexismus und Homophobie als größtmöglicher Macker inszeniert, sondern darin, dass es nicht wenige Jugendliche in den forciert beworbenen Stadtteilen gibt, die sich ihn als role model auserkoren haben.
Alltag und Ideal t Ganz offensichtlich taugt die Musik nicht wenig zur Repräsentation ihrer Lebenswelt, beziehungsweise den Wunschbildern, die diese Welt hervorbringt. Wer tatsächlich verstehen will, welche soziale Wirklichkeit die Affinität der Kids für Bushido und Konsorten hervorbringt und vor allem wie jene von ihnen verarbeitet wird, kommt an einer Betrachtung der Texte nicht vorbei (vgl. iz3w 288). Mit einer oberflächlichen Kampagne, die nicht über den Sexismusvorwurf hinausgeht, gerät erst gar nicht in den Blick, dass jene,
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der bekannten Sparkassenwerbung »mein Haus, mein Auto, mein Boot« (bei Bushido heißt es: »Sonnenbank Flavour, BMW Eigentum, meine Clique, meine Gang, meine Jungs, meine Crew«), bekommt das GroßFoto aus: Prinzessinnenbad sprecherische einen parodistischen Anstrich. Das Auftrumpwelche in ihrem Auftreten so gerne die Pupfen wird auf die Spitze getrieben und damit pen tanzen lassen, erstaunlich deckungsgleich gleichsam hintertrieben. mit denen sind, die zwischen Rütlischule und Auch das Beschwören der »Realness«, das Arbeitsagentur alles mit sich machen lassen dem Song den Titel verleiht, wirkt gebrochen: müssen. Solch eine Herangehensweise Die anderen Rapper werden von dem macht die Texte keinen Deutsch-Tunesier der »künstDeut besser, trotzdem lichen Bräune« bezichtigt, sie lässt sich nur durch ein gehätten allenfalls »Solarium »Ich komm’ aus wisses Einlassen auf diese Flow«, was auch als AnspieKreuzberg, Du Muschi« lung auf die Identitätsproble»innere« Perspektive eine Kommunikation mit den matik vieler migrantischer AdressatInnen herstellen, Jungendlicher zu verstehen derer es bis dato komplett ermangelt, und ist. Die hohe Sonnenstudiodichte in Neukölln von der eine effektive Änderung der Zustänund Kreuzberg erklärt sich nämlich nicht etde letzten Endes abhängen wird. wa durch die ausgiebige Nutzung quarkhäuAuf dem neuen Bushido-Album lässt sich tiger Schulzes, sondern vor allem durch die nun solch eine besonders gelungene DarstelJugendlichen mit arabisch-türkischem Migralung von Alltagserfahrung und Idealbildern tionshintergrund, welche die Sonnentempel finden. Der Song »Sonnenbank Flavour« biefrequentieren, um auch unter dem grauen tet ein atmosphärisches Stimmungsbild der Himmel Berlins, trotz aller Diskriminierung, vermeintlichen deutschen Ghettos Neukölln, ihre scheinbar »ursprüngliche« gesunde BräuKreuzberg oder Tempelhof. Das Lied besteht ne zu behalten. Spätestens in der Hinteraus einer Kaskade von Schlagwörtern und Asgrundmusik des Refrains wird die Härte der soziationen der Berliner Straße und der RapTexte – ohnehin die ganze Zeit durch eine Szene. Als einzelne unterscheiden sie sich melancholische Grundierung unterhöhlt – nicht großartig von dem im Rap-Battle so durch puren Kitsch verfremdet. »Sonnenbank landläufigen Gestus der Kraftmeierei. In der Flavour« wird so zum perfekten machisticollagenhaften Aneinanderreihung, ähnlich schen Soundtrack für eine Promenade, den
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Kreuzberg Kottbusser Damm in Kreuzberg hinunter zum Neuköllner Hermannplatz, wo das nach Eigenwerbung größte Sonnenstudio Berlins liegt.
Kreuzberger Inszenierung t An einer anderen Dokumentation Kreuzbergs durch das Medium Film versucht sich die Regisseurin Bettina Blümner mit Prinzessinnenbad. Der Titel spielt auf das große Freibad »Prinzenbad« in dem alternativ geprägten Stadtteil an, in dem sich die Protagonistinnen, die drei 15-jährigen Mädchen Klara, Mina und Tanutscha, im Sommer nach der Schule vergnügen. Das Schwimmbad, welches ansonsten dadurch auffällt, dass in ihm Sicherheitspersonal mit den BademeisterInnen für Hechtsprung und Ordnung sorgt, symbolisiert den Raum zwischen Kindheit und Erwachsensein. Die Mädchen kommen allesamt aus Patchwork-Familien, zwei von ihnen haben keinen deutschen Vater. Die Regisseurin begleitete die Protagonistinnen über zwei Jahre hinweg und zeichnet ein unterhaltsames psychologisches Panorama, in dessen Zentrum die Lebenswelt und die Hoffnungen der durch die zerklüfteten Familien zur Reife gezwungenen Mädchen stehen. Gleichwohl ist der Film keine blitzsaubere Dokumentation, da die Regisseurin sich für eine reichlich martialische Inszenierung von Kreuzberg entschieden hat und so die Rauheit der Mädchen noch mehr akzentuiert. Auch wenn die Fünfzehnjährigen teilweise bedrückend abgeklärt mit Drogen und Sexualität umgehen, ist dies kein Grund zur Aufregung: Im Grunde betreiben sie, entgegen aller Außenprojektionen auf das gefährliche Kreuzberg, nichts, was nicht auch andere Teenager mitgemacht hätten. Blümner versucht sich beständig an dem Spagat, einerseits die Hindernisse des harten Lebens ihrer Protagonistinnen in einer monströsen Großstadtumgebung zur schieren Unbezwingbarkeit anwachsen zu lassen, andererseits die sich ihnen stellenden Probleme auch immer wieder zu erden und zu profanisieren. So bringt Klaras Mutter ihre Erziehungsdevise für die Tochter auf dem heißen Pflaster auf den Punkt: »Kein Heroin und nicht schwanger werden«, was diese mit verdrehten Augen und dem Wunsch beantwortet, »morgens aufzustehen, und die Eltern sitzen am Frühstückstisch.« Auch wenn Prinzessinnenbad den harmoniesüchtigen ZuschauerInnen oftmals gefällig suggeriert, die Mädchen sehnten sich hinter der harten Schale nur nach der Geborgenheit der Familie, und so ein bekanntes psychologisches Klischee strapaziert, tauchen auch Konflikte auf, welche weniger leicht auf-
zulösen sind. Hier, wo der Film sich einer lenverteilung vieler Jungs einzunehmen hätstrengeren Dokumentation annähert, liegen ten (»Jungs haben mich abgehärtet«) und die wirklichen Stärken des Streifens. Die Realnutzen den wenigen damit verbundenen schülerinnen sind gezwungen, sich schon mit Komfort geschickt aus, während sie den 15 Jahren über ihren zukünftigen Job den Herabsetzungen, unter anderem durch deKopf zu zerbrechen und wissen alle, dass mit monstrative sexuelle Aggressivität, rabiat den dem Abschluss nicht viel zu holen sein wird. Riegel vorschieben. Betonung findet ein Immer wieder scheint der soziale Hinterselbstbewusstes Bild als Frau, das als postgrund der Mädchen durch. feministische Anleitung Die soziale Spaltung wirkt in herhalten könnte und sich »Sonnenbank Flavour, einer Szene besonders bitter: in der Werbeparole »Ich BMW Eigentum, Während sich Mina gerade komm’ aus Kreuzberg, Du noch mit Klara über den zuMuschi« zuspitzt. meine Clique, meine künftigen Beruf beraten hat, Dass der gesamte KinoGang, meine Jungs« genießt ihr Freund die ihm saal in Kreuzberg jubelt, als Abiturient gestattete Mowenn dieser Satz auf der bilität und verlässt sie für ein Jahr, um vor Leinwand fällt, sollte aber nicht über die tiedem Studium zur Welterkundung nach Südfe Spaltung in dem Stadtteil hinwegtäuamerika zu fliegen. Was er der völlig geknickschen. Vieles, was das grüne alternative ten Mina mit der Chuzpe eines Verkäufers Kreuzberg prägt, wird von den drei Mädchen schmackhaft zu machen versucht: »Das ist als Schimpfwort benutzt. Sie zeigen ein sehr doch auch für Dich eine Chance, neue Leute feines Gespür für die Erstarrung des alternakennen zu lernen.« tiven Lebensentwurfs in einer privatistischen Auch der Umgang mit den ausschließlich Wohlfühlspießigkeit: »therapiert« werden ist »türkischen« männlichen Freunden ist interder Ausdruck für harmonisierendes Einlullen und: »Ich will erstmal erst mit 30 Kinder, wenn überhaupt, ich will so frei leben, Partys machen, ich will schon so meinen Job haben, mein Geld verdienen,... und ich werde mir nix im Ökoladen kaufen... weil ich Öko scheiße finde.« Die lokalpatriotische Begeisterung für den Film, die vor allem von denen getragen wird, welche von den Mädchen am weitesten entfernt sind, muss skeptisch stimmen. Gerade weil kaum VerbindunFoto: iz3w-Archiv gen zu den NachbarInnen bestehen, findet eiessant. So nennt Klara die männlichen Begleine gewisse Exotisierung statt. Diese Spaltung ter konsequent »Kanake«, macht aber genaukennt auch Tanutscha, die dem Filmdreh eiso schnell klar, dass sie mit deutschen Jugendgentlich nur zustimmte, weil sie davon auslichen nicht zurecht kommt. Sie, die von ging, dass das Ergebnis von ihren Bekannten vielen der Jungs nicht besonders respektvoll ohnehin niemand zu Gesicht bekommen behandelt wird, kokettiert mit dem Raswürde: »Erst dachte ich, das wird irgendsismus, der eigentlich gar nicht der ihre ist, wann auf arte laufen, ist egal, sieht sowieso keiner.« um immer wieder einen SouveränitätsgeMit den vermuteten ZuschauerInnen wird winn zu verbuchen. Dies erlaubt ihr, ihre hersie wahrscheinlich sowieso kaum ein Wort ablassende Art, die sie allerdings gegen jedersprechen: Sie sind damit beschäftigt, eine mann pflegt, weiter zu kultivieren und so an Reise nach Südamerika zu planen, oder entihrem Image der abgeklärten Großstadtprinwerfen gerade ein Plakat, auf dem »Sexiszessin zu feilen. Die Jungs werden tatsächlich tische Kackscheiße« steht. so verunsichert, wie Klara es sich wünscht.
Jubelnde KiezlerInnen
Tilman Vogt ist Sänger in den Bands Hackflaysh und Das Singende Mineral und schrieb in iz3w 299 über Herfried Münklers »Imperien«.
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Prinzipiell lassen sich die jungen Frauen von den Männern nichts sagen. Sie scheinen um die Position zu wissen, die sie in der Rolt
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kurz belichtet ... Internationaler Aktionstag gegen EPAs t Am 27. September findet ein internationaler Aktionstag gegen die EPAs (Economic Partnership Agreements) statt. Die Europäische Union verhandelt diese mit den 78 assoziierten AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik) seit fünf Jahren und will sie vor Ende dieses Jahres abschließen. Nach der Unterzeichnung von EPAs dürften diese Länder keine Zölle mehr auf importierte Waren erheben und müssten ihre Märkte nicht nur für Industrie- und Agrarprodukte aus der EU, sondern auch für Investitionen, Dienstleistungen und das öffentliche Beschaffungswesen öffnen. Diese umfassende Marktliberalisierung wird katastrophale Auswirkungen auf die Bevölkerung und die Staatshaushalte haben. Der Staatssekretär für Handelsfragen in Gambia betonte kürzlich, dass sein Land am meisten unter einem Freihandelsabkommen leiden würde. Laut einer CommonwealthStudie würden sich die EU-Importe um 64,5 Millionen US-Dollar erhöhen, was einer Steigerung um 45 Prozent gleich kommt. Gleichzeitig wird der Einkommensverlust für Gambia durch den Ausfall der Importzölle
mit 40,71 Mio. US-Dollar beziffert, was einen realen Verlust von 91 Prozent bedeutet. Auch die Teilnehmenden einer Tagung in Kamerun im Juli wiesen auf die negativen Auswirkungen der EPAs hin. Ein Vertreter der sozialen Bewegungen betonte, dass Frauen von einer Marktöffnung des Agrarsektors am meisten betroffen seien, und forderte besondere Schutzinstrumente für diejenigen Sektoren, in denen vorwiegend Frauen beschäftigt sind. »Frauen sind in Afrika für das tägliche Brot verantwortlich. Wenn ihre Einkommen wegbrechen, leidet die ganze Familie.« Einige Tage nach dieser Tagung der zivilgesellschaftlichen VertreterInnen verhandelten die EU-Kommissare Louis Michel und Peter Mandelson mit den RegierungsvertreterInnen der zentralafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft CEMAC über den konkreten EPA-Vertragstext. Dabei wurde so viel Protest gegen die EPAs geäußert, dass die Verhandlungen abgebrochen wurden und die EUKommissare verärgert nach Hause flogen. Für alle EPA-BeobachterInnen war diese Auseinandersetzung eine große Überraschung, weil die CEMAC als »leichte Beute« der EU galt.
Von ihr wurde erwartet, die EPAs als erste Region zu unterzeichnen. Das dürfte erst einmal vorbei sein. Ganz neue Töne gibt es auch aus dem Pazifik. Anfang August kündigten die pazifischen Handelsminister an, die Verhandlungen mit der EU zu beenden, wenn diese weiterhin die Auszahlung der EU-Entwicklungsgelder von einer Unterzeichnung der EPAs abhängig mache. Die EU hatte angekündigt, die Entwicklungshilfegelder um mehr als 25 Prozent zu kürzen, falls sich die EPA-Abkommen nur auf Waren beschränken und andere Sektoren wie Dienstleistungen und Wettbewerbspolitik davon ausgenommen würden. In dem internationalen Aufruf zum 27.9. werden die Erpressungsversuche der EU streng verurteilt und zu einem breiten Protest gegen die EPAs aufgerufen. Annette Groth t Weitere Informationen: www.stopepa.de, www.epa2007.de, www.attac.de/wto/epas/ sowie: A.Groth/ T. Kneifel: Europa plündert Afrika. Der EU-Freihandel und die EPAs. VSA-Verlag, Hamburg 2007.
Dienstmädchen auf Abruf
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t Sie heißt Mimi, ist 25 Jahre alt und hat bereits in fast allen Ländern der arabischen Halbinsel gearbeitet. In den 1960er und 70er Jahren verließen eher junge muslimische Männer ihre Heimat, um in den Golfstaaten als ungelernte Arbeiter auf Baustellen und in privaten Haushalten zu arbeiten. Mimi gehört zu einer neuen Generation von jungen äthiopischen Frauen, die, auch wenn sie verheiratet sind, ihr Glück seit einigen Jahren in Jobs im arabischen Raum von Syrien bis Oman suchen. Sie hat wie die meisten ihrer Kolleginnen gerade mal die achte Schulklasse in Äthiopien abgeschlossen. Seither hat sie in arabischen Ländern bereits als Kindermädchen, Kochgehilfin und Putzfrau gearbeitet. Bezahlt wurde sie in US-Dollar, meist hundert pro Monat. In Äthiopien würde sie für dieselbe Tätigkeit umgerechnet etwa 23 US-Dollar im Monat verdienen und hätte einen 14- bis 16-stündigen Arbeitstag, bei freier Kost und Logis. Mit den hundert Dollar ist sie gehaltsmäßig besser gestellt als viele HochschulabgängerInnen in Äthiopien. Allerdings beklagt Mimi, dass sie kaum Geld sparen kann, da das Leben in Dubai re-
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lativ teuer ist. Transport und Unterkunft verschlingen den Löwenanteil ihres Gehalts, Nahrungsmittel sind hingegen preiswert. Vor allem aber muss sie zuerst einmal Geld investieren, um in die begehrteren arabischen Länder zu gelangen. Vermittlungsagenturen schießen in Äthiopien wie Pilze aus dem Boden. Dort muss Mimi sich registrieren lassen, um von einem Makler vermittelt zu werden. Sie muss für ihren Pass bezahlen, eine medizinische Untersuchung vorlegen und ihren Flug finanzieren. Bei einer Vermittlung in den Libanon oder nach Syrien finanziert die örtliche Agentur all ihre Unkosten inklusive Flug. Bei ihrer Ankunft im Libanon wird sie von der örtlichen Vermittlungsagentur in Empfang genommen, der Pass wird ihr abgenommen und sie kann nicht wieder ausreisen, bevor nicht alle Unkosten beglichen sind. Ihr Alltag in den meisten arabischen Ländern ist ein full-service-job. Sie steht als Erste im betreffenden Haushalt auf und geht als Letzte ins Bett. Selbstverständlich muss sie sich verschleiern, und wenn der Hausherr kommt, sorgen seine Ehefrauen dafür, dass sie in einem der zahlreichen Zimmer des Hau-
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ses verschwindet. Nicht selten werden die jungen Frauen vom Hausherrn missbraucht, dies gehört quasi zu ihrem Job. Die äthiopischen Frauen gelten bei den arabischen Männern als hübsch und offen, und dies bringt sie wiederum in Konflikt mit den Ehefrauen. Immer wieder gibt es Meldungen aus verschiedenen Ländern des Nahen Osten, wonach die Ehefrauen die äthiopischen Frauen aus Eifersucht schlagen, mit heißem Wasser begießen oder aus dem Balkon stürzen. Das Leben im Haushalt ist darüber hinaus geprägt von Monotonie und Einsamkeit. Die Dienstmädchen kommen selten aus dem Haus und werden im Alltag verbal und körperlich misshandelt. Auch gibt es eine Hierarchie in der Entlohnung: philippinische Frauen bekommen 200 und mehr US-Dollar im Monat, während Äthiopierinnen bis zu 150 US-Dollar verdienen. Frauen aus Sri Lanka kommen nur auf 100 US-Dollar. Kiflemariam Gebrewold
... Rezensionen Der Aufstieg der Hamas t Die Hamas hat sich nach heftigen und brutalen Kämpfen im Gazastreifen an die Macht geputscht. Auslöser des Bruderkrieges zwischen ihr und der säkularen Fatah war der Streit um die Kontrolle der Sicherheitsdienste. Präsident Mahmud Abbas hat mittlerweile die von der Hamas geführte Regierung abgesetzt. Umgekehrt gebietet die Hamas nun über ein eigenes Territorium. Joseph Croitoru, in Haifa geborener Autor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat ein Buch über die Geschichte der Hamas vorgelegt, das zwar die jüngsten Ereignisse nicht mehr erfassen, aber den Weg an die Macht verständlich machen kann. Hamas ist die Abkürzung für harakat almuqawama al-islamiya, zu deutsch »Islamische Widerstandsbewegung«. Gleichzeitig bedeutet das Wort hamas »Eifer«. Die Hamas wurde zu Beginn der ersten Intifada im Dezember 1987 von Scheich Ahmed Jassins Muslimbrüdern gegründet. Sie war von Anfang an militant und verfolgte das Ziel, ein islamisches Palästina vom Mittelmeer bis zum Jordan zu errichten. In sozialer Hinsicht war sie eher konservativ als revolutionär, eine auf religiöse Erziehung und Sozialarbeit konzentrierte Wohlfahrtsorganisation, gleichzeitig aber auch eine einflussreiche Massenprotestpartei. Die Hamas ist, wie Croitoru zeigt, ähnlich wie die libanesische Hizbullah eine spezifische Variante des politischen Islam. Anders als beispielsweise Al-Qaida ist sie nicht auf der Suche nach einer neuen Ummah, einer Weltgemeinschaft der Muslime, obgleich sie sich auch auf eine solche zu berufen weiß. Die Hamas verkörpert vielmehr einen nationalistischen Islamismus, wenn nicht gar einen islamistischen Nationalismus. Jenseits aller Ideologien achtet die Hamas aber wie andere Organisationen auch streng auf ihre partikularistischen Interessen. Die palästinensischen Islamisten sind nicht einfach nur Eiferer, sondern auch erfolgreiche Strategen, die großen Rückhalt in der Gesellschaft genießen. Die Geschichte der Hamas begann nicht erst 1987, sondern ist Teil der Geschichte des islamischen Kampfes um Palästina. Croitoru untersucht, welche Phänomene des heute Sichtbaren in der Vergangenheit bereits angelegt sind. Er analysiert in fünf Kapiteln die langen Linien dieses Kampfes, streng entwicklungsgeschichtlich und an den Ereignissen orientiert. Erstens sieht er die Ursprünge von Hamas bei den ägyptischen Muslimbrüdern
in den 1920er Jahren, wo das flexibel angelegte ideologische Konzept der doppelten Loyalitäten zu Islam und Nation entwickelt wurde. Zweitens schildert er die Etablierung der Muslimbrüder in Palästina nach 1948, vor allem ihren gesellschaftlichen Aufstieg und ihren Weg zur stärksten Kraft im Gazastreifen während der israelischen Besatzung nach 1967. Drittens konzentriert Croitoru sich auf die Geburt der Hamas aus dem Geiste der Intifada, als die Islamisten begannen, eine Parallelwelt zur PLO aufzubauen und in heftige, immer wieder blutige Konkurrenz zu ihr zu treten. Viertens analysiert Croitoru die Zeit nach den israelisch-palästinensischen Verhandlungen von Oslo ab Anfang der 1990er Jahre, in der die Hamas den Friedensprozess zu sabotieren versuchte und mit bewaffnetem Kampf sowie Terror gegen Zivilisten mittels Selbstmordattentaten Aufmerksamkeit erregte. Hier vollzog sich die bis heute fortwährende Trennung zwischen politischer Arbeit und militärischer Aktion und die Anlehnung an die syrisch-iranische Allianz der radikalen Gegner Israels (also lange vor der Ära des heutigen iranischen Präsidenten Ahmadinedschad). Immer mehr rückten das Ziel und die Möglichkeit in den Vordergrund, das palästinensische Autonomieregime der PLO zu stürzen. Hamas baute den Wohltätigkeitssektor aus, erreichte damit Zehntausende und legte den Grundstein für eine Islamisierung der palästinensischen Gesellschaft. Nach dem Tod Arafats begann schließlich das fünfte, in die Gegenwart reichende Kapitel: der demokratische Weg an die Macht mittels Wahlen, der allerdings keineswegs den Verzicht auf Gewalt bedeutete, weshalb die Aktivisten der Hamas sich weigerten, ihre Waffen abzugeben und umgekehrt Anspruch auf den Sicherheitsapparat erhoben. Croitoru hat ein äußerst kenntnisreiches Porträt dieser nationalistisch-islamistischen Bewegung gezeichnet. Es ist jedoch eher politikgeschichtlich und politikwissenschaftlich angelegt; die gesellschaftliche Verankerung der Bewegung wird zwar immer wieder betont, allerdings nur selten beschrieben – wie etwa im Falle des sozialen Netzes, das die Hamas in Nablus zu knüpfen vermochte. Croitorus Schilderung ist unprätentiös, distanziert und akribisch. Der Autor hat beispielsweise sämtliche Flugschriften und Kommuniiz3w
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qués von Hamas und der PLO-nahen Vereinigten Nationalen Führung während der ersten Intifada einer neuen vergleichenden Lektüre im Lichte des jüngsten Konfliktes unterzogen – eine bemerkenswerte und durchaus lohnende Fleißarbeit. Er ist zudem im Urteil vorsichtig und ausgewogen. Gerade diese Nüchternheit bewirkt, dass Croitorus Befund – die völlige Neuausrichtung der palästinensischen Außenpolitik, die Abkehr vom Westen und Hinwendung zu den radikalen Kräften der islamischen Welt wie etwa dem Iran – einer Warnung gleichkommt. Die Hamas scheint in der Verbindung mit der Hizbullah und der potentiellen Atommacht Iran eine wirkliche Bedrohung für Israel und der säkularen Segmente der palästinensischen Gesellschaft geworden zu sein. Mit militärischen Mitteln allein ist ihr allerdings nicht beizukommen. Hätte Croitoru noch ein sechstes Kapitel über den aktuellen Putsch in Gaza und seine Folgen schreiben müssen, hätte er vermutlich gleichwohl nicht die dunkelsten Farben gewählt. Denn im Moment bahnt sich eine Wiederannäherung zwischen der israelischen Regierung und der PLO an. Auf eine Neubelebung des Friedensprozesses darf man vielleicht nicht gleich hoffen. Croitoru hat jedoch darauf hingewiesen, dass vor dem Scheitern des Osloer Friedensprozesses die palästinensische Autonomiebehörde und Israel bei der Terrorbekämpfung eng zusammengearbeitet hatten. Die Hamas konnte in dieser Zeit kaum etwas ausrichten. Ein »Hamastan« in Gaza wäre dann zwar der vorläufige Höhepunkt, aber möglicherweise zugleich ein Wendepunkt in der Geschichte des islamischen Kampfes um Palästina. Jörg Später t Joseph Croitoru: Hamas. Der islamische Kampf um Palästina, C.H. Beck, München 2007. 254 S., 19,90 Euro
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Rezensionen ... Bomben ins Bewusstsein
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t Es scheint schon Normalität geworden zu sein: Jeden Tag vermelden die Nachrichten aus Bagdad einen verheerenden Anschlag mit mehreren Toten. Die Todestechnik, die mal Reservisten, mal Gläubige, mal einfache MarktbesucherInnen in den Tod reißt oder für immer verstümmelt, ist einfach, die Herstellung simpel und im Internet abrufbar. Die Autobombe gehört genauso zu den neuen asymmetrischen Kriegen wie der Begriff »Kollateralschaden«, der andeutet, dass die Herren über die großen, komplizierten Waffensysteme längst den Tod der Zivilbevölkerung einkalkulieren. Die Autobombe ist die »Luftwaffe des kleinen Mannes«. Diese Technik verdient wie jede erfolgreiche moderne Technik eine angemessene Geschichtsschreibung, meint der US-amerikanische Historiker und Soziologe Mike Davis. Auch wenn man es nicht auf den ersten Blick merkt, die Geschichte der Autobombe ist eine Fortführung seiner Bücher über die großen segregierten Städte und die Entwicklung von Slumgegenden meist an der Peripherie von großen Metropolen. Das Buch erforscht einen nicht unwichtigen Strang moderner Stadtentwicklung. Denn in von Bürgerkrieg, Besatzung, Terror und Guerillaaktivitäten betroffenen Städten verändern die Autobomben und die tatsächliche oder vermeintliche Bedrohung die Stadtlandschaft erheblich. Wann begann der ganze Spuk? Davis geht zurück ins Jahr 1920, in dem ein Anarchist namens Buda die Verhaftung seiner Genossen Sacco und Vanzetti mit ein wenig gestohlenem Dynamit, einem Haufen Eisenschrott und einem alten Pferd rächte. Er platzierte eine Dynamitkutsche vor der Wall Street. Das Ergebnis: 40 Tote und das historisch erstmalige Aussetzen der Aktienbörse. Dieser erste Einsatz einer unauffälligen und anonymen Wagenbombe in städtischer Umgebung war noch Kulminationspunkt der anarchistischen direkten Aktion, mittels einer »Höllenmaschine« Könige und Plutokraten in die Luft zu jagen. Und gleichzeitig überschritt der Anschlag in seiner terroristischen Wahllosigkeit und Brutalität auch diese Tradition. In den nächsten Jahrzehnten sollte die Wagen- oder Autobombe nicht mehr zum Einsatz kommen. Erst im Jahr 1947 benutzte die rechtszionistische »Stern-Gruppe« eine solche und steuerte eine Wagenladung Sprengstoff in eine britische Polizeistation im palästinensischen Haifa. Nach Davis’ Darstel-
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lung folgte dem auch eine wechselseitige Bombenkampagne, in der Palästinenser und rechtszionistische Gruppen sich vor der Staatsgründung Israels gegenseitig bekämpften und darauf sinnten, möglichst viele Opfer auf der Gegenseite zu produzieren. Die Autobombe fand dann Einzug in den zweiten Indochinakrieg der USA gegen den Vietcong – aber sie erreichte auch das »ruhige Hinterland«. Zwischen 1963 und 1966 startete der Vietcong eine heftige Bombenkampagne in amerikanischen Quartieren und gegen die US-Botschaft. Die Ted-Offensive, in der die Kämpfer der Nationalen Befreiungsarmee hohe Verluste eigener Menschenleben einkalkulierten, überblendet diese heftige Phase der Autobombenanschläge im historischen Bewusstsein. Die Offensive des Vietcong, aber vor allem der sich zum Vernichtungskrieg steigernde Feldzug der USA gegen die Befreiungsarmee, provozierte schließlich radikale US-AmerikanerInnen aus der Antikriegsbewegung, den Krieg »nach Hause zu holen«. Aus der Madisoner Antikriegsbewegung entstand die »New Year’s Gang«, die im August 1970 eine Ammonium-Nitrat-BenzinLösung benutzte, um das Army Mathemetics Research Center auf dem Campus zu sprengen. Der Anschlag gelang, sorgte für gigantischen Sachschaden und riss einen anwesenden, tragischerweise antikriegsbewegten Physikstudenten in den Tod. Der Terroranschlag isolierte die Gruppe sofort von dem breiten Anti-War-Movement in Madison. Traurige Berühmtheit erlangte die Autobombe im libanesischen Konfessionskrieg. Beirut ist dabei vor allem zu Beginn der 1980er Jahre die Stadt, die wohl am meisten von Autobombenattentaten heimgesucht wurde. Hier bombte der israelische Mossad gegen die im Libanon operierende palästinensische PLO, aber auch Nachrichtendienste anderer Länder, vor allem gegen den syrischen Geheimdienst. Schließlich sprengten sich die aus den Slums kommenden Gotteskrieger der Hizbullah empor und vermochten die säkularen Kräfte im Kampf gegen die Besatzungsmacht Israel in den Hintergrund zu drängen. Die weltweite Vorherrschaft islamistischer Terroristen hätte sich jedoch nicht ohne westliche Hilfe im Kalten Krieg durchsetzen kön-
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nen. Davis beschreibt detailliert, wie durch die CIA und den pakistanischen Geheimdienst ISI Zehntausende von islamistischen Terroristen der Mudschaheddin und anderer Dschihadisten ausgebildet wurden, um gegen das sowjetische »Reich des Bösen« (Ronald Reagan) zu kämpfen – und diese bereits darauf warteten, gegen den »dekadenten Westen« loszuziehen. Davis’ Buch geht hier wohltuend über sein eigentliches Thema hinaus und gerät zu einer lehrreichen Darstellung der Folgen der Systemkonfrontation und der Stellvertreterkämpfe im Kalten Krieg. Ein ebenfalls aufschlussreiches Kapitel widmet Davis den Bombenanschlägen ab 2003 im Irak, hinter denen er eine dreistufige Logik entdeckt: In der ersten Phase Ende 2003/ Anfang 2004 ging es um die Delegitimierung der Besatzung, indem Botschaften und das UN-Hauptquartier angegriffen wurden. In der zweiten Phase sollte der Aufbau von Einheiten eigener Sicherheitskräfte unterbunden werden – mittels Morden an zu rekrutierenden Polizisten. Schließlich zeigen Anschläge auf Schiiten-Moscheen an, dass die Protagonisten des Terrors zum konfessionellen Bürgerkrieg aufhetzen wollen. Der auf technische Raffinesse setzende, ewig sich überflügeln wollende Sicherheitsdiskurs der Herrschenden bekommt durch Davis eine schroffe Abfuhr. Der Historiker setzt auf »soziale und ökonomische Reformen oder erweiterte Selbstbestimmung, die zu einer Abrüstung in den Köpfen führen könnte«. Er zeigt jedoch auch, dass besonders die Politik der USA in eine ganz andere Richtung weist. Davis lässt keinen Zweifel aufkommen, wie er den Einsatz von Autobomben bewertet. Für ihn ist das Töten mittels dieser Technik tendenziell ein faschistischer Akt. Nun mag man erstaunt sein über diese Generalisierung und dem Autoren eine Inflationierung des Faschismus-Begriffs vorwerfen. Doch wer sich die konstitutive Rolle der Gewalt als Mittel und Selbstzweck in der Entwicklung des italienischen Frühfaschismus vor Augen führt, dem erscheint diese Etikettierung als durchaus korrekt. Davis’ Buch sollte nicht nur die antiimperialistischen VerteidigerInnen des ominösen »Widerstands« im Irak, sondern auch die linken UnterstützerInnen von Gruppierungen wie der ETA und der IRA, deren Autobomben-Einsätze Davis detailliert schildert, gehörig irritieren. Gerhard Hanloser t Mike Davis: Eine Geschichte der Autobombe. Aus dem Englischen von Klaus Viehmann, Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2007. 232 S., 20,00 Euro
Private Gewaltunternehmer t Von Papua-Neuguinea über Sierra Leone bis zum Irak ist seit Ende des Ost-West-Konfliktes eine Wiederkehr privater SöldnerInnen zu beobachten, die als private »Sicherheitsunternehmen« unter den unterschiedlichsten Namen auftreten. Weltweit sind mehr als 1,5 Millionen Angestellte für diese Sicherheitsfirmen tätig. Im Irak stellen sie gemeinsam nach den US-Truppen das zweitstärkste Truppenkontingent. So unterschiedlich diese Firmen im Detail agieren, ist ihnen doch eines gemeinsam: Die Auslagerung von staatlichen Kernaufgaben, die das Gewaltmonopol betreffen, führt dazu, dass die politische Verantwortlichkeit für militärisches Handeln verloren geht. Die privaten Gewaltunternehmer lassen sich noch weniger in ihre Karten schauen als staatliche Militärs. Der Ökonom, Psychologe und Publizist Rolf Uesseler hat in seinem Buch Krieg als Dienstleistung diese Entstaatlichung des Krieges untersucht und ihre Gefahren unter die Lupe genommen. Dabei beschreibt er nicht nur die Geschäftspraktiken der unterschiedlichen Firmen von Aegis Defence Services über DynCorp bis zur deutschen EUBSA, sondern untersucht auch die Aushöhlung staatlicher Verantwortung und öffentlicher Kontrolle militärischer Gewalt durch diese Privatisierung von Gewalt. Uesseler vermeidet dabei die Diabolisierung der einzelnen SöldnerInnen, sondern schildert die Prozesse der Gewaltprivatisierung vielmehr als ökonomische Entwicklungen, für die es politische Verantwortlichkeiten gibt. So schildert er etwa den Werdegang des britischen Gewaltunternehmers Tim Spicer, der die britische Regierung über seine Aktivitäten in Papua-Neuguinea
gegen die Aufständischen in Bougainville oder bei einem Putschversuch in Sierra Leone vorab informiert hatte. Uesseler schildert die veränderten Rahmenbedingungen für militärische Dienstleistungen nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes als Möglichkeiten für die Globalisierung von Gewaltunternehmen, die in den »neuen Kriegen« eine wichtige Rolle spielen. Nicht alle Unternehmungen sind dabei von vornherein so offensichtlich demokratiefeindlich wie militärische Umstürze mit gemietetem Personal oder Einsätze in der Aufstandbekämpfung. Manch neuer Söldner glaubt eine »saubere Weste« zu besitzen, wenn er für Firmen oder gar humanitäre Hilfe »Sicherheit« anbietet. Auch wenn sich in den letzten Jahren die »seriösen« Sicherheitsfirmen im Hintergrund halten und eher als BeraterInnen, denn als SoldatInnen auftreten, gibt es kaum eine Möglichkeit, diese Tätigkeiten zu kontrollieren. So finanziert etwa die US-Regierung eine ganze Reihe privater Sicherheitsfirmen im Irak, den Abgeordneten des Kongresses wurde jedoch der Einblick in die Verträge mit dem Hinweis untersagt, es handle sich um Privatverträge. Neben einer Fülle an detaillierten Informationen bietet Uesselers Buch vor allem eine grundlegende Kritik an der Unterhöhlung des staatlichen Gewaltmonopols und des internationalen Rechts durch diese Form neoliberaler Auslagerungspolitik. Thomas Schmidinger t Rolf Uesseler: Krieg als Dienstleistung. Private Militärfirmen zerstören die Demokratie. Ch. Links Verlag, Berlin 2006. 14,90 Euro
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Rezensionen ... Verschwörung gegen die Juden t Verschwörungstheorien sind weltweit beliebt, da sie Unzusammenhängendes in einen Zusammenhang bringen, dabei immer die »Anderen« verantwortlich machen und einfache Erklärungen für Unverstandenes bieten. Gerade in der vermeintlich aufgeklärten Welt stoßen Verschwörungstheorien auf offene Türen. Eine der bekanntesten Verschwörungstheorien sind die Ende des 19. Jahrhunderts verfassten Protokolle der Weisen von Zion. Sie werden bis heute von verschiedenen Kreisen als authentisches Dokument angesehen, das die angebliche »Weltherrschaft der Juden« beweise. Unzählige Abwehrversuche und Schriften, die belegen, dass sie gefälscht wurden, ändern nichts an der Popularität der »Protokolle«. Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung und Professor für Geschichte an der TU Berlin, beleuchtet in seinem neuen Buch die Rolle der »Protokolle« in der Ideologie des Antisemitismus und ihren historischen und aktuellen Kontext. Es geht ihm vor allem darum, die »Möglichkeiten des Irrationalen in der modernen Politik und Gesellschaft« zu untersuchen. Benz erklärt anhand von Beispielen aus Geschichte und Gegenwart, wie und warum Verschwörungstheorien funktionieren. Gerne
wurden für sie Juden als Übeltäter herangezogen, da sie durch Religion, Kultur und den daraus resultierenden sozialen Gegebenheiten als »fremd« wahrgenommen wurden. Schon im Mittelalter wurden Legenden über angebliche Hostienschändungen, Brunnenvergiftungen und Ritualmorde durch Juden verbreitet, mit denen Phänomene wie die Pest oder das Verschwinden von Kindern erklärt werden sollten. Wer die »Protokolle« verfasst hat, ist bis heute unklar. Erstmals veröffentlicht wurden sie 1903 in der St. Petersburger Zeitung Znamia. Die »Protokolle« geben vor, insgesamt 24 Sitzungen zu dokumentieren, die von jüdischen Führern der ganzen Welt, den »Weisen von Zion«, besucht wurden. Besprochen wurde dabei angeblich die Beherrschung der Welt. So hätten die Juden hierfür beispielsweise die Presse unterwandert, Kriege und Revolutionen angezettelt, die Demokratie und den Liberalismus erfunden. Die Fälschung der Protokolle ist schnell bewiesen. So taucht in ihnen beispielsweise der indische Gott Wischnu auf, den es im Judentum gar nicht gibt. Fast die Hälfte des Inhalts stammt aus dem 1864 erschienenen Buch »Dialogue aux enfers entre Machiavel et Montesquieu«, mit dem der französische
Revolutionär Maurice Joly Napoleons Politik, die sämtliche öffentlichen Freiheiten einschränkte, angreifen wollte. Die »Protokolle« stießen auch inner- wie außerhalb Europas auf großes Interesse. Heute sind sie bei Rechtsextremen, EsoterikerInnen, katholischen FundamentalistInnen und verschwörungstheoretischen Zirkeln populär, vor allem aber bei IslamistInnen. Von ihnen werden sie hauptsächlich zur Hetze gegen den jüdischen Staat Israel verwendet. In Ägypten wurde eine Telenovela produziert, die die »Protokolle« inszeniert und die in allen arabischen Ländern ausgestrahlt wurde. Und auch durch das Internet ist es ein Leichtes geworden, an die »Protokolle« heranzukommen und mit ihnen antisemitische Propaganda zu betreiben. Benz gibt eine gute Einführung in den gegenwärtigen Wissensstand. Wer sich näher mit der Thematik beschäftigen möchte, muss aber weitere Literatur heranziehen. Insbesondere der Inhalt der »Protokolle« wird von Benz nur kurz zusammengefasst, es fehlen jegliche Erläuterungen oder Zitate. Wer lediglich grob Bescheid wissen will, macht bei diesem Buch sicher keinen Fehlgriff. Franziska Krah t Wolfgang Benz: Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Weltverschwörung, C.H. Beck, München 2007. 128 S., 7,90 Euro
Zeitschriftenschau: Der Dschungel lebt
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t Neulich überraschte die Jungle World mit der auf sich selbst bezogenen Schlagzeile »Zehn Jahre sind genug!«. Wie bitte, hat der notorische Geldmangel linker Publikationen nun auch die Wochenzeitung aus Berlin in den finalen Ruin getrieben? Ist gar die politische Mission der Jungle World vollendet: gegen Deutschland und seinen linken Mief, für Israel und den kosmopolitischen Hedonismus? Nein, die Redaktion hat wieder mal provoziert, wie sie es so gerne tut, und mit der Headline lediglich den Relaunch aus Anlass des zehnjährigen Geburtstages angekündigt. In der letzten Dekade hat sich die »Jungle« verdienstvollerweise mit nahezu jeder Fraktion der Linken angelegt: Mit den antiimperialistischen Bush-Hassern ebenso wie mit dessen antideutschen Apologeten, mit den
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Bewegungsseligen ebenso wie deren Renegaten. Nicht immer hat die Redaktion dabei ein glückliches Händchen bewiesen und auf allzu simple polarisierende Formeln wie etwa das legendäre »Fanta statt Fatwa« gesetzt. Doch hat sie es geschafft, ein ernstzunehmendes Gegengewicht zur poststalinistischen Stromlinienförmigkeit der Tageszeitung junge Welt zu bilden (aus der sie einst als Spaltprodukt hervorgegangen war). Dort werden wirklich kontroverse linke Debatten ausgegrenzt, in der Jungle hingegen mit Hingabe und manchmal auch Messern zwischen den Zäh-
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nen ausgetragen. Und das auf insgesamt hohem journalistischen und redaktionellen Niveau, was angesichts der vorhandenen Ressourcen an ein kleines Wunder grenzt. Über die Notwendigkeit des Relaunchs lässt sich streiten; die einen finden, dass die neue Jungle nun ein bisschen arg wie die Le Monde diplomatique aussieht, die anderen sind froh, dass die erfrischend unorthodoxe Themenwahl und das unkonventionelle Layout modernisiert wurden. Es allen recht zu machen, das wird die Junge World auch in weiteren zehn Jahren nicht fertig bringen. Schon allein deshalb: Merci, dass es dich gibt!
. . . S z e n e / Ta g u n g e n IMI in Gefahr Der Tübinger Verein Informationsstelle Militarisierung (IMI) sieht sich seit Mitte dieses Jahres in Gefahr, von Seiten des Finanzamtes Tübingen den Status der Gemeinnützigkeit aberkannt zu bekommen. Die IMI fungiert seit ihrer Gründung 1996 als Scharnier zwischen Wissenschaft und Friedensbewegung, indem sie zur zunehmenden Militarisierung der Außenpolitik forscht. Der Vorwurf an sie lautet, sich tagespolitisch zu äußern, was mit der Gemeinnützigkeit unvereinbar sei. Da sich die IMI vor allem über Spenden finanziert, käme sie durch die Versagung der Gemeinnützigkeit in existenzielle Nöte. Die IMI versucht nun, unter dem Motto »IMI – gemein aber nützlich« die Öffentlichkeit für sich zu mobilisieren und für ihren Fortbestand zu kämpfen. t IMI e.V., Hechingerstr. 203, 72072 Tübingen, Tel.: 07071– 49154, www.imi-online.de t
Die Gegenwart des Kolonialen t Kunst, Geschichte und Gegenwart im öffentlichen Raum, Kartierung kolonialer Spuren als work-in-progress, Aktion, Intervention und Ausstellung: wandsbektransformance erkundet durch Interventionen in Hamburgs Nordosten von 13. – 16.9. die Gegenwart des Kolonialen. Wie begegnet man in Wandsbek kolonialen Traditionen? Wie geht man um mit kolonialen Monumenten und Symbolen? Wandsbektransformance geht dazu materiellen und mentalen Spuren nach. t www.wandsbektransformance.de
G8-Proteste schreiben Geschichte t GipfelgegnerInnen aus Deutschland und anderen Ländern haben online eine »Aktionskarte« zu den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm im Juni dieses Jahres veröffentlicht. Verschiedene Gruppen haben ihre unterschiedlichen Aktionen gegen die Politik der G8 dort zusammengetragen: »Direkte Aktionen«, Demonstrationen, Blockaden, Barrikaden. Die Karte soll ein Beitrag sein für zukünftige Massenproteste und Mobilisierungen gegen Gipfeltreffen. AktivistInnen können somit rekonstruieren, welche Protestformen in Heiligendamm erfolgreich waren. t www.gipfelsoli.org/rcms_repos/maps/ action.html
Wochen umfasst unter anderem Lesungen, Symposien, Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, Aufführungen von aktuellem Tanz aus Japan und traditioneller koreanischer Musik. Auch werden neue Strömungen in Architektur, Mode- und Produktdesign vorgestellt. t Haus der Kulturen der Welt, John-FosterDulles-Allee 10, 10557 Berlin, www.hkw.de
Repression und Recht auf Protest t »Die Auseinandersetzung mit staatlicher Repression ist Teilstück unseres Widerstands – kein schönes, aber durch die herrschenden Verhältnisse aufgegeben«, heißt es im neu erschienenen Reader bzw. Rechtsratgeber für die politische Praxis des Bündnisses für Politik- und Meinungsfreiheit. Der 180 Seiten umfassende Reader mit dem Titel »Repression und Recht auf Protest« ist das Ergebnis langjähriger Anti-Repressionsarbeit eines bundesweiten AutorInnenkollektivs und setzt sich mit der Einschränkung der Grundrechte auseinander. Behandelt werden unter anderem die (studentischen) Protestbewegungen und deren Kriminalisierung in den letzten Jahren, kreative Protestformen und der Umgang mit Staats- und Polizeigewalt. Ziel des Readers ist es, Ängste zu nehmen und Einschüchterungsversuchen entgegenzuwirken. t AStA der JLU Gießen, www.studis.de/pm, www.stud.uni-giessen.de/asta/, buero@asta-giessen.de
Asyl in Deutschland t 2006 wurden in Deutschland 21.029 Asylanträge gestellt. Das ist der niedrigste Stand seit 1983. Von diesen Anträgen wurden nur 0,8 Prozent als asylberechtigt anerkannt, was nach Ansicht von fünf Berliner Studierenden der Sozialen Arbeit zu wenig ist. Deshalb haben sie einen Leitfaden entwickelt, in dem sie Informationen über das Asylverfahren in Deutschland geben und Asylantragstellenden ihre Rechte aufzeigen. Es werden Informationen über Einreisemöglichkeiten, die rechtliche Situation, den Asylablauf und das Flughafensonderverfahren gegeben. Der Leitfaden, der in acht Sprachen übersetzt wurde, ist nun übers Internet zugänglich. t www.infoasyl.de.vu
Ausleihe an. Weiterhin hält er Vorträge, gibt Zeichenkurse und leitet Workshops – vorrangig für Kinder und Jugendliche. t Gerhard Mauch, Initiative 3. Welt Rottweil, Daimlerstr. 3, 78628 Rottweil, Tel.: 07411 – 757903, www.weltladen-rottweil.de, www.epiz.de
Tagungen: t Wie kann man sich eine herrschaftsfreie Welt vorstellen? Wird es Gefängnisse geben? Oder Eigentum und Gesetze? Wer herausarbeiten möchte, was die Knackpunkte der Kritik am herrschenden System sind und welche Bedingungen eine andere, utopische Welt erfüllen sollte, ist beim Seminar Herrschaftsfreie Welt – Utopien, Grundlagen, Entwicklungsansätze vom 13. – 16.9. in Magdeburg gut aufgehoben. Auf dem Programm stehen ein Impulsreferat »Überblick zu Utopien«, Diskussionen und Präsentationen der Ergebnisse. t Jugend-Umweltbüro, Karl-Schmidt-Str. 4, 39104 Magdeburg, Tel.: 0391 – 5570753, magdeburg@projektwerkstatt.de t In Berlin können dieses Jahr gleich zwei Tagungen zum Thema Feminismus besucht werden. Die Queerfeministischen Tage vom 19. – 21.9. wollen mit Workshops und Vorträgen queeren und feministischen Handlungspraktiken einen Raum geben. Im Anschluss findet vom 21. – 22.9. die Konferenz Queer leben statt. Ziel ist die Auseinandersetzung mit dem aktuellen Stand queerer Theorie und Praktiken speziell im deutschsprachigen Raum. In Workshops, Vorträgen und Diskussionen soll ein Austausch über die
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Kritische Comics Asien-Pazifik-Wochen Vom 10. – 23.9. finden im Haus der Kulturen in Berlin zum sechsten Mal die Asien-Pazifik-Wochen statt. Unter dem Motto »AsienPazifik verändert die Welt« geht es dabei in über 150 Veranstaltungen um die asiatischen Einflüsse auf die Kultur in Europa und Nordamerika. Das Programm der Asien-Pazifikt
t »Sich mit dem Verhältnis Arm-Reich, Nord-Süd zu befassen, muss keine trockene, befremdende Angelegenheit sein«, meint der Karikaturist Gerhard Mauch von der Initiative 3. Welt Rottweil. Er bietet eine Fülle von Comics und Comicausstellungen, die sich mit Themen wie Kolonialismus, NS, Menschenrechten oder Rassismus beschäftigen, zur
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Grenzen des akademischen Feldes hinaus und ein Nachdenken über politische Strategien entstehen. t www.queerfemta.de, www.queerleben.de
im globalen Süden? Bieten Gütesiegel eine Lösung für diese Probleme? t FIAN-Deutschland e.V., Düppelstr. 9 – 11, 50679 Köln, www.fian.de
t Zur Vorbereitung auf die 9. UN-Vertragsstaatenkonferenz (COP9) zur Konvention über Biologische Vielfalt im Mai 2008 in Bonn laden der Deutsche Naturschutzring (DNR) und das Forum Umwelt und Entwicklung am 20. und 21.9. zu einer gemeinsamen Tagung ein, die sich an Nichtregierungsorganisationen im Umwelt- und Entwicklungshilfesektor richtet. Es soll um die Ziele und Aufgaben der »Biodiv-Konvention« gehen sowie um eine möglichst effiziente Medienarbeit im Vorfeld der Vertragsstaatenkonferenz. t Projektbüro zur CBD 2008, Am Michaelshof 8 – 10, 53177 Bonn, Tel.: 0228–92399353, bettina.lange@dnr.de www.biodiv-network.de
t Vom 8. – 9.10. findet in Berlin der 6. Internationale Dialog Bevölkerung und Nachhaltige Entwicklung statt. Es soll diskutiert werden, welche Herausforderungen die zunehmende Urbanisierung in Entwicklungsländern an Frauen und Kinder stellt und welche Chancen sie eröffnet. Es wird weiterhin gefragt, wie eine zukunftsgerichtete Planung den Zugang zu grundlegenden sozialen Diensten und die Verwirklichung des Rechts auf Gesundheit für die BewohnerInnen von Slumgebieten sicherstellen kann. t www.dialogue-population-development.info
Zur komplexen und stets aktuellen Problematik der Blumenproduktion in Entwicklungsländern veranstaltet FIAN vom 5. – 7.10. in Frankfurt / M. das Seminar Blumen global – Probleme lokal: menschenrechtliche und entwicklungspolitische Herausforderungen für die Blumenkampagne. Vor allem Schnittblumen werden zunehmend in Entwicklungsländern für die Märkte in Industrieländern produziert. Dies hat nicht nur menschenrechtliche Auswirkungen auf die ArbeiterInnen, sondern auch auf ihre Familien und Gemeinden. Welche Rolle spielen Menschenrechtsverletzungen bei der Kreditvergabe der Bundesregierung an Blumenplantagen t
t Vom 16. – 18.11. findet in Frankfurt/M. ein Seminar der El-Salvador-Solidarität mit dem Titel Vom neoliberalen Krieg gegen die Armen – El Salvador: Auf dem Weg in den Autoritarismus? statt. Mit dem Wirtschaftswissenschaftler César Villalona und Martín Montoya, Aktivist der Bewegung der StraßenverkäuferInnen von CDs/DVDs (die sich gegen die Abkommen zum geistigen Eigentum organisieren), soll diskutiert werden, wie das herrschende neoliberale Wirtschaftsmodell in El Salvador durch die verstärkte Rückkehr zu Autoritarismus und Repression abgesichert werden soll. t Ökumenisches Buero für Frieden und Gerechtigkeit e.V., Pariser Str.13, 81667 München, Tel: 089 – 4485945, elsal@oeku-buero.de, www.oeku-buero.de
Vorschau: iz3w Nr. 303 Indigenität In vielen Ländern artikulieren sich »Indigene« verstärkt als eigenständige gesellschaftliche Kraft. Inzwischen sind VertreterInnen von ihnen bis in höchste Staatsämter gelangt, wie etwa der bolivianische Präsident Evo Morales. Zugleich ist die rassistische Diskriminierung von »Indigenen« weit verbreitet, und sie zählen fast überall zur Armutsbevölkerung. Doch was heißt eigentlich »indigen«, wer zählt sich selbst dazu oder wird dazu gezählt? Inwieweit wird die Selbstdefinition (selbst-)bewusst als Mittel des Widerstandes gegen Marginalisierung eingesetzt? Diesen Grundfragen wird der Themenschwerpunkt an konkreten Beispielen nachgehen. t
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Herausgeberin:
Impressum
. . . Ta g u n g e n t Aktion Dritte Welt e.V. – informationszen-
trum 3. welt, Postfach 5328, Kronenstr. 16 a (Hinterhaus), D-79020 Freiburg i. Br. Telefon: 07 61/740 03, Fax: 07 61/70 98 66, E-Mail: info@ iz 3 w.org Bürozeiten: Montag bis Freitag 10 bis 16 Uhr.
www.iz3w.org
Redaktion: t Martina
Backes, Iris Erbach, Stephan Günther, Tanja Hausmann, Monika Hoffmann, Sascha Klemz, Sarah Lempp, Georg Lutz, Rosaly Magg, Tine Maier, Christine Parsdorfer, Winfried Rust, Christoph Seidler, Christian Stock, Sigrid Weber, Heiko Wegmann.
Copyright:
t bei der Redaktion und den AutorInnen
Vertrieb für den Buchhandel:
t Prolit Verlagsauslieferung GmbH,
Postfach 9, D-35463 Fernwald (Annerod), Fax: 0641/ 943 93-93, service@prolit.de
Satz und Gestaltung: t Büro MAGENTA. Freiburg.
Herstellung:
t Druckerei schwarz auf weiss. Freiburg.
Jahresabonnement (6 Ausgaben):
t Inland: Q 31,80 (für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und Zivildienstleistende Q 25,80), Förderabonnement ab Q 52,t Ausland: Europa Q 39,- oder Übersee Q 54,t Kündigungen bis zum Erhalt des letzten Heftes. Sonst automatische Verlängerung. t Aboverwaltung: abo@iz3w.org
Konten (Aktion Dritte Welt e.V.): t Postbank Karlsruhe (D)
Konto-Nr. 148 239 755, BLZ 660 100 75 Für Überweisungen aus EU-Ländern: IBAN: DE 44 66010075 0148239755 BIC: PBNKDEFF t PostFinance Basel (CH)
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Konto-Nr. 10 157 109 117, BLZ 58 000
Spenden: t Steuerlich abzugsfähige Spenden bitte mit
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Anzeigenschluss für Ausgabe Nr. 303: t (Druckfertige Vorlagen) 03.10.07
Streifzüge
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Ernst Lohoff: Unser blaues Jobwunder André Gorz: Seid realistisch – verlangt das Unmögliche Maria Wölflingseder: Müßiggang ist aller Tugend Anfang Lorenz Glatz: Ein Leben in einer Welt Ulrich Weiß: Macht und Ohnmacht theoretischen Denkens Franz Schandl: Unpopuläres zum Populismus – 1.Teil Ulrich Enderwitz: Aus der Begriffswerksatt Erich Ribolits: Vom ewigen Flirt der Pädagogik mit der Emanzipation Andreas Exner und Lothar Galow-Bergemann: Kapitaler Klimawandel Nr. 1.07 · Juni 2007 · 56. Jhg.
Peter Samol: Ein Perry-Rhodan-Heftchen für Kammerjäger Erscheint 3 x jährlich. PROBEHEFT GRATIS! Margaretenstraße 71-73/23 A-1050 Wien E-Mail: bestellung@streifzuege.org www.streifzuege.org
Frankfurter Student_innen Zeitschrift Bis OF gratis, auswärts 2,5 Euro
++ Hidden Heroes The Queer Quest of the Superfigures
++ When Peter met Donna Versuch einer Lesart – Superheldinnen als Cyborgs
++ Queering (dis)abled body politics ++ Cansei de ser sexy Queere Räume zwischen Ereignis und Alltag im Film Shortbus u. a.
SÜPER
Norbert Trenkle: Feuer und Flamme für Demokratie und Freiheit – Zum Fundamentalismus der „westlichen Werte“
www.copyriot.com/diskus · diskus@copyriot.com
ISSN 1614-0095
t iz3w • Postfach 5328 • D-79020 Freiburg PVSt, Deutsche Post AG, »Entgelt bezahlt« E 3 4 7 7