iz3w Magazin # 338

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Fairer Handel – Kaufend schreiten wir voran

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem: t Filme aus Nord- und Südafrika t Proteste in der Türkei t Vergangenheit in Guatemala t Dritte Welt im Ersten Weltkrieg t Critical Whiteness …

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Sept./Okt. 2013 Ausgabe q 338 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80


I n d ieser A u sga b e

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Titelmotiv: Bansky Foto: Quentin UK (koloriert)

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Schwerpunkt: Fairer Handel 20 Editorial 21 Gekauft

3 Editorial

Der Faire Handel erobert die Mitte der Gesellschaft von Wolfgang Johann und Roland Röder

Politik und Ökonomie 4

Ägypten: Vorwärts in die Vergangenheit Das Militär hat die Macht nun wieder offen übernommen von Juliane Schumacher

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Grenzregime: Kontinuierlich gegen Flüchtlinge Die EU lanciert in Libyen eine Mission für Migrationsabwehr von Stefan Brocza

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Politischer Islam: »Es gibt viel zu viel Naivität«

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Türkei I: Der Spirit von Gezi

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Türkei II: Jenseits der säkular-islamistischen Spaltung

Umwelt: »Inkagold« in Zeiten des Klimawandels

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Guatemala: Völkermörder oder nicht? Das Urteil gegen Ex-Präsidenten Montt ist ein Politikum von Valentin Franck

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Die Schokoladenseite Eine Kakaogenossenschaft veredelt ihren Rohstoff von Knut Henkel

Peru verbraucht seine Wasserreserven für den Spargelexport Interview mit Laureano del Castillo

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Was soll ich nur anziehen? Ethische Mode zwischen Idealismus und Marktprinzip von Sascha Klemz

Genderpolitik in der Türkei von Selin Çag ˘ atay

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Die Macht der Darstellung Die Fair Labor Association entpolitisiert die Handelsbeziehungen der Textilbranche von Patricia Reineck

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Was bleibt von der Protestbewegung von Udo Wolter

Beglaubigung versetzt Berge Was bringen Siegel und Zertifikate? von Sandra Dusch Silva

Interview mit Geneive Abdo über die Wahlen im Iran und den Coup in Ägypten

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Inszenierte Verteilungsgerechtigkeit Zur politischen Ökonomie des Fairen Handels von Hanns Wienold

Erster Weltkrieg: Ohne Rücksicht auf Verluste

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»Come to Mary & Martha!« Ein Porträt des bislang einzigen Fair TradeUnternehmens in der Mongolei von Friederike Enssle »Landwirtschaft 2013 heißt auch Melkroboter« Die faire Milch zum fairen Kaffee Interview mit Gertrud Selzer

Der Erste Weltkrieg in den Kolonien war ein Stellvertreterkrieg der Großmächte von Uwe Schulte-Varendorff

46 Rezensionen 49 Szene / Tagungen 50 Impressum

Kultur und Debatte 38

Critical Whiteness I: Falsche Polarisierung Die Critical Whiteness-Kritik am Globalen Lernen wird ihrem Gegenstand nicht gerecht von Bernd Overwien

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Critical Whiteness II: Finger on the Trigger Eine ethnologisch-autobiographische Zwischenbilanz von Ruben Eberlein

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Film: Post-revolutionär In Köln werden neue Filme aus Nord- und Südafrika gezeigt von Karl Rössel

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Edi t o r ia l

Thank you, Comrade! »Große Männer machen große Geschichte«. Dies ist eine jener gängigen Devisen bürgerlich-patriarchaler Geschichtsschreibung, denen aus herrschaftskritischer Sicht mit größter Skepsis begegnet werden muss. Normalerweise halten wir uns daran – etwa im vorletzten Hefteditorial, in dem wir einen ziemlich bösen Abgesang auf die jüngst verstorbene linke Ikone Hugo Chávez formulierten (in iz3w 336). Doch keine Regel ohne Ausnahme, und deshalb sei uns hier eine gestattet. Es geht um Nelson Mandela. Wie lange er noch lebt, wenn diese Ausgabe erscheint, ist angesichts seines hohen Alters und seiner schweren Erkrankung ungewiss. Gewiss ist nur eines: Selten hat eine einzelne Person eine so herausragende Rolle bei der Überwindung eines Herrschaftssystems gespielt wie Mandela. Und das kann auch zu Lebzeiten schon gewürdigt werden. Sicher, Mandela war kein Einzelkämpfer im Kampf gegen die Apartheid in Südafrika. Er hatte viele (schwarze und auch weiße) MitstreiterInnen, darunter so prominente wie Steve Biko, Ruth First, Denis Goldberg, Miriam Makeba, Alexander Neville oder Desmond Tutu. Der politische und bewaffnete Kampf gegen den institutionalisierten Rassismus des Burenstaates wurde zudem von zigtausenden ‚einfachen’ Mitgliedern des ANC und der südafrikanischen Kommunistischen Partei geführt. Oft gingen sie dasselbe persönliche Risiko ein wie der wohl berühmteste politische Gefangene aller Zeiten und mussten wie Mandela lange Jahre im Gefängnis verbringen. Viele waren gar der Folter ausgesetzt oder wurden ermordet.

Das Herausragende an Mandela war, dass er die ihm

angetragene Rolle als personifiziertes Symbol gegen die Apartheid überzeugend ausfüllte. Wenn es angebracht war, gab er sich offensiv und verteidigte beispielsweise die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes. Als es darauf ankam, versöhnliche Worte zu finden und der weißen Minderheit die Angst vor der Zeit nach dem Ende des Apartheidsystems zu nehmen, fand er diese Worte. Seine ebenso sanfte wie beharrliche Weise beeindruckte nicht nur seine AnhängerInnen, sondern zunehmend auch viele (einstige) GegnerInnen. Bis heute gehören die großen Reden von Mandela nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis im Januar 1990 zu den bewegendsten Momenten der jüngeren Geschichte. Mandela war nicht nur politisch weitsichtig, er hatte auch mehr Appeal als so mancher Popstar. Man sehe sich beispielsweise auf YouTube den Mitschnitt seines Auftrittes im britischen Wembley-Stadion an, als zigtausende Apart-

heid-GegnerInnen ihn minutenlang mit Ovationen bejubelten. »Thank you that you chose to care«, sagt er da in unprätentiösen Worten. Er wusste, wem er seine Freilassung zu verdanken hat: Nicht den westlichen PolitikerInnen, die sich erst mit ihm schmückten, als er auf der Gewinner­seite angelangt war. Sondern der Unterstützung durch die antirassistische Bewegung der 1980er Jahre, die vor allem in Großbritannien stark war. »Free Nelson Mandela« war einer ihrer wichtigsten Slogans gewesen und zugleich der Titel eines Songs von The Special A.K.A., der seinerzeit auf jeder guten Party gespielt wurde. Mandela konnte ganz schön gewitzt sein. So entgegnete er beispielsweise in seiner Biographie »The long walk to freedom« jenen KritikerInnen, die bemängelten, der ANC habe sich im Ost-West-Konflikt von den Kommunisten instrumentalisieren lassen: »Wer sagt denn, dass nicht wir sie benutzt haben?« Wie alle, die sich in die Niederungen der Politik begeben, war auch Mandela nicht gefeit vor Irrtümern. Als er die palästinensischen Autonomiegebiete mit »Bantustans« verglich und vom »israelischen Apartheidsystem« sprach, mag das aufrichtiger Empörung über die schlechte Lage der PalästinenserInnen geschuldet sein. Von einer differenzierten Analyse des Nahostkonflikts und seinen vielschichtigen Ursachen zeugen derartige Schuldzuweisungen nicht. Es wäre jedoch falsch, Mandela in die Reihe fanatischer IsraelhasserInnen zu stellen. Bei einem Besuch in Israel 1999 stellte er unmissverständlich fest, Israel habe ein Recht auf Anerkennung durch die arabischen Länder und auf gesicherte Grenzen. Damit unterscheidet er sich deutlich von jenen, die sich auf ihn berufen, wenn sie heute mit dem Apartheidvorwurf herumfuchteln, um Israel die Existenzberechtigung abzusprechen.

Es gibt vieles, was schief läuft im Neuen Südafrika. Der

neoliberale Kurs des ANC zählt ebenso dazu wie die xenophoben Ausschreitungen gegen ArbeitsmigrantInnen oder das unwürdige Verhalten einiger Verwandter von Mandela. Aber all das ist nicht ihm persönlich anzulasten. Sein Verdienst, maßgeblich zur friedlichen Überwindung der Apartheid beigetragen zu haben, strahlt umso mehr, je klein­ karierter sich seine (politischen) Nachfahren gerieren. Das politische Erbe von Mandela ist uns jedenfalls ein Ansporn, seinen Kampf gegen den Rassismus in der Gegen­ wart weiter zu führen. Thank you that you chose to care, comrade! die redaktion

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Ägypten

Vorwärts in die Vergangenheit In Ägypten hat das Militär die Macht nun wieder offen übernommen von Juliane Schumacher Die Kampagne hatte einen solch durchterstützen, Millionen schlossen sich an. Polizei schlagenden Erfolg, dass die fragile politische und Militär schossen auf eine GegenkundgeLandschaft Ägyptens mit einem Knall zerbarst. bung der Muslimbrüder, mindestens 80 MenAm 1. Mai startete die Tamarod-Kampagne schen starben. (»Rebellen«), 15 Millionen Unterschriften Die 2011 aufgelöste Staatssicherheit, unter wollten sie gegen Präsident Mohamed Mursi Mubarak bekannt für willkürliche Verhaftunsammeln, der ein Jahr zuvor sein Amt angegen und Folter, soll wieder arbeiten dürfen. treten hatte. Bis Ende Juni unterschrieben 22 Die Notstandsgesetze würden »bei Bedarf« Millionen Menschen. Am 30. Juni gingen wieder eingesetzt, das Militär soll das Recht Millionen auf die Straße, selbst die Initia­torIn­ zu Verhaftungen bekommen. Die Muslimbrünen waren davon überrumpelt. der werden bald wieder sein, was sie vor der Die Kampagne forderte Mursis Rücktritt Revolution waren: Eine gut vernetzte, aber und baldige Neuwahlen. Doch dann ging verfolgte Gruppe, von der Masse der Bevölkerung misstrauisch beäugt. alles viel schneller. Am 1. Juli stellte Armeechef Abd El-Fatah Al-Sisi ein Ultimatum. 48 Stunden Die letzten zwei Monate haben klar gehatte Mursi Zeit, um sich mit der Opposition macht, dass das Militär die Macht nie abgezu einigen. Mursi, offenbar ebenso überrascht geben hatte. Das Militär herrscht seit dem von dem Ausmaß des Protests gegen ihn wie Putsch der Freien Offiziere um Gamal Abdel Nasser 1952. Es kontrolliert über 40 Prozent vom Eingreifen der Armee, hielt eine wirre der Wirtschaft. Mursi war nicht nur der erste Rede: Er werde nicht zurücktreten, eher werde er sein Blut opfern. »Bei Gott«, polterte frei gewählte Präsident, er war auch der erste, General Al-Sisi ähnlich pathetisch auf der der nicht aus dem Militär stammte. Er war ein Facebook-Seite der Armee, »auch wir werden unfähiger Präsident, da sind sich Muslim­ unser Blut opfern für brüder wie ihre GegnerInnen Ägypten und sein Volk, einig. Von seiner Amtszeit Wird Al-Sisi ein um es gegen Terroristen, bleibt den meisten nur in ErRadikale und Narren zu neuer Nasser – oder ein innerung, dass die Schlangen verteidigen«. Und er teilvor den Tankstellen immer ägyptischer Chávez? te mit, dass Mursi abgelänger wurden und permasetzt sei. nent der Strom ausfiel. Einen Tag später wurde Adli Mansour, der Und er war naiv. Kurz nach Amtsantritt sandVorsitzende des Verfassungsgerichts, als Überte er die alten Generäle des Militärrates in den gangspräsident vereidigt. Ein Putsch? Eine Ruhestand. Er ernannte Al-Sisi zum Verteidierneute Revolution? Darüber wurde in Ägypgungsminister und glaubte, in dem streng ten viel diskutiert. »Millionen Menschen auf gläubigen, nicht einmal 60-jährigen General der Straße – das ist mehr Demokratie als bei einen loyalen Verbündeten zu haben. MitWahlen!«, argumentierte die Mehrheit und nichten, die strategische Allianz zwischen Islamisten und Militär, die sich nach der Revofeierte Al-Sisi als den Retter des Volkes. Selbst lution 2011 herausgebildet hatte, hielt keine jene, die bisher gegen den Militärrat gekämpft hatten, schlossen sich den Rufen an: »Armee zwei Jahre. Muslimbrüder und Armee verbinund Volk – eine Hand«. det seit Jahrzehnten ein tiefer Hass aufeinander, seit Mitglieder der Muslimbrüder 1954 Der Schock der Muslimbrüder hingegen einen Anschlag auf Nasser verübten. war so groß, dass es einige Tage dauerte, bis sie in Massen auf die Straßen gingen, um die Dass Al-Sisi und staatlich kontrollierte MeWiedereinsetzung des gewählten Präsidenten dien nun nur noch von »Terroristen« sprechen, zu fordern. Es begannen blutige Konfronta­ knüpft an eine lange Tradition an. Der Krieg tionen zwischen GegnerInnen und Anhän­ gegen den islamistischen Terror ist keine amegerInnen Mursis. Noch blutiger sind die Zurikanische Erfindung. In Ägypten wurde er seit sammenstöße der Muslimbrüder mit Polizei Jahrzehnten als Vorwand für Verhaftungen und Militär: Über 50 Anhänger starben Mitte von Oppositionellen, Folter und AusnahmeJuli vor dem Präsidentenpalast, die Muslimgesetzgebung genutzt. Das mag ein Grund sein, warum die ÄgypterInnen nun so bereitbrüder sprachen von einem Massaker. Für den 26. Juli rief Armeechef Al-Sisi die Bevölkerung willig das harte Vorgehen der Sicherheitskräfauf, in Massen auf die Straße zu gehen, um te gegen die Muslimbrüder mittragen. Der ihn im »Kampf gegen die Terroristen« zu unandere ist, dass mit Al-Sisi eine neue Generatt

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tion im Militär an der Macht ist, die (noch) als sauber gilt. Tatsächlich ist die Situation eine andere als vor zwei Jahren. Damals herrschte der Militärrat, eine Runde greiser Generäle, die in einer vollkommen anderen Welt lebten als die junge Bewegung auf der Straße. Entscheidungen wurden im Geheimen getroffen. Zwar war klar, dass das Militär seine Privilegien behalten und weiter im Hintergrund die Strippen ziehen würde, ansonsten aber wollten die Generäle so schnell wie möglich wieder aus dem Rampenlicht treten. Die unliebsame Aufgabe, ein Land mit einer hochpolitisierten Bevölkerung zu führen, wollten sie an eine zivile Regierung abgeben. Ob Al-Sisi nun dasselbe will, ist fraglich. Er hält momentan in Ägypten alle Fäden in seinen Händen – und er scheint anders als seine Vorgänger politische Ambitionen zu hegen. Er hat vor und nach Mursis Sturz geschickt taktiert und mit Mohamed Al-Baradei einen Liberalen zum Vizepräsidenten ernannt, der auch im Westen Vertrauen genießt. Schon fordern im Internet die Ersten Al-Sisi als Präsidenten, und Demonstrierende tragen Plakate mit seinem Bild: »Der einzige, dem wir trauen können«. Es scheint, als könne Ägypten einen neuen Nasser bekommen, wenn auch einen, der die säkularen Ideale seines Idols nicht teilt. AlSisi gilt als streng gläubiger Muslim mit einem sehr konservativen Frauenbild. Mitte Juli setzte er durch, dass in der Übergangsverfassung der umstrittene Bezug auf das islamische Recht als Quelle der Gesetzgebung erhalten bleibt. Die Muslimbrüder lässt er verfolgen, mit den salafistischen Gruppen jedoch ist er in Verhandlungen. Al-Sisi ein neuer Nasser – oder ein ägyptischer Chávez? Über die wirtschaftspolitische Ausrichtung eines möglichen Präsidenten Al-Sisi ist noch nichts bekannt. Diese dürfte jedoch entscheidend sein. Die Muslimbrüder sind nicht an ihrer islamistischen Agenda gescheitert. Die Wut der Menschen entzündete sich daran, dass es ihnen nach der Revolution nicht besser, sondern schlechter ging.

Juliane Schumacher ist Journalistin und Autorin des Buches »Tahrir und kein Zurück« über die Jugendbewegungen nach der Revolution. Eine längere Fassung dieses Beitrags steht auf www.iz3w.org tt


Der Spirit von Gezi Was bleibt von der Protestbewegung in der Türkei? von Udo Wolter die AKP-Regierung seit langem die DurchsetDie türkische Polizei geht nach der Räumung des Gezi-Parks und dem relativen Abzung ihres neoliberalen Wirtschaftsmodells mit flauen der großen Protestbewegung vom Juni den politischen Herrschaftsinstrumenten eines weiterhin brutal gegen Protest vor. Das zeigte »anhaltenden Ausnahmezustands« betreibt.1 sich, als Mitte Juli im unter Polizeibewachung So ist das in einer Nachtsitzung des Parlaments wiedereröffneten Gezi-Park ein Paar öffentlich durchgepeitschte Gesetz, mit dem die wegen Hochzeit feierte. Es hatte sich bei den Protesihrer regierungskritischen Haltung ungeliebte ten kennen gelernt. Kaum wurden von den Architektenkammer TMMOB von städtischen Planungsprozessen ausgeschlossen wird, nur zahlreichen Gästen Parolen gerufen, löste die Polizei die Feier gewaltsam auf. das jüngste Glied einer Kette ähnlicher Gesetze. Die Regierung Erdoğan fährt fort, gegen Als sozialer Kitt für die unter dem Druck die Bewegung genau jene Repression noch der forcierten Kapitalisierung auseinander zu steigern, welche die Protestwelle erst mit fallende Gesellschaft wurde von der AKP eine ausgelöst hatte: VertreterInnen von Berufsverislamische Gemeinschaftsideologie verordnet. bänden, GewerkschafterInnen und KünstleSie verbreitet ein Klima autoritärer TugendrInnen, die in der Taksim-Solidaritätsplattform wächterei. Die Beschränkungen des Alkoholaktiv sind, werden der Aufwiegelung bezichverkaufs, die Ermahnungen zu »tugendhaftem tigt und verhaftet. ÄrztInnen werden mit BeVerhalten« und ähnliche Gängeleien haben rufsverfahren überzogen, weil sie verletzten schon vor den großen Demonstrationen im DemonstrantInnen halfen. Juni zu Protest geführt. Berichten zufolge sind Unter dem von Erdoğan derzeit 64 JournalistInnen propagierten Schlagwort »Was die Türkei im Juni inhaftiert, gegen 123 werder »religiösen Jugend« durchlaufen hat, war eine den Anti-Terrorverfahren wurde politische ebenso Bewusstseinsrevolution« angestrengt und 59 verwie sexuelle Enthaltsamloren wegen ihrer Gezikeit gefördert und zur persönlichen ErtüchtiBerichterstattung den Job. Mit den Anti-Terrorgesetzen werden auch gung im Konkurrenzkampf ermuntert. zahlreiche SchülerInnen und Studierende verGegen diesen autoritären Gesamtkomplex folgt, teils nur wegen Protest-Botschaften, die richtet sich die Protestbewegung. Die Auseisie über Social Media verschickten. nandersetzung um den Gezi-Park war nur der Der türkische Sicherheitsstaat erschafft sich Auslöser. Der antiautoritäre Impetus der Bewegung trifft jedoch nicht nur die Politik der sozusagen selbst die »Realität« zu den verschwörungstheoretischen und antisemitischen AKP, sondern eine autoritäre GrundkonstellaHetztiraden von Erdoğan und anderen AKPtion, welche die gesamte Geschichte der türkischen Republik durchzieht. Das gilt für die Politikern. Laut ihnen ist die Protestbewegung ein Komplott von ausländischen Regierungen lange Zeit vorherrschende Staatsideologie des oder ominösen Finanzlobbys, der »jüdischen Kemalismus und die militaristisch-nationalisDiaspora« (so der stellvertretende Ministertischen Traditionen. Sie trugen der Türkei präsident Besir Atalay) und natürlich terroris1961, 1971 und 1980 drei offene Militärputsche ein und 1997 einen verdeckten gegen tischen Gruppen. Seit dem Sturz von Mohammed Mursi in Ägypten ist eine weitere die Regierung der islamistischen Refah-Partei, rhetorische Figur Erdoğans hinzugekommen: der Vorgängerin der heutigen RegierungsparDie Massenproteste dienten der Vorbereitung tei AKP. Diese militarisierten Strukturen vereines Putsches gegen die legitime Regierung sprach Erdoğans Regierung mit den Reformen der AKP. ihrer ersten Amtszeit aufzubrechen. Die AKP hat jedoch lediglich die kemalistischen durch islamische Vorzeichen ersetzt, ohne aus dem Gegen die Tugendwächterei staatsautoritären und nationalistischen Staatstt Die in der Vergangenheit für ihre Demokraverständnis auszubrechen. Mit der gegenwärtisierungsreformen gelobte Regierung Erdoğan tigen Protestbewegung hat nun vielleicht zeigt nun offen ihre autoritären und islamistierstmals in der türkischen Geschichte eine schen Züge. Dieses Lob konnte allerdings auch offene, partizipatorische Gesellschaft machtvoll die Bühne betreten. bisher nur unter geflissentlichem Übergehen des repressiven Klimas gegen alle kritischen Denn auch die meisten linken Kräfte in der Stimmen in der Türkei erfolgen. Die SozialwisTürkei waren bisher autoritär strukturiert. Ansenschaftlerin Aslı Iğsız weist darauf hin, dass ders als in den USA oder den meisten westtt

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europäischen Ländern sei die 68er-Bewegung in der Türkei überhaupt erst in Gestalt der stalinistischen und maoistischen Deformationen angekommen, die sie nach ihren anfänglich antiautoritären Impulsen entwickelte, stellte die Politologin und CHP-Abgeordnete Binnaz Toprak bei einer Veranstaltung in Berlin Ende Juni fest. Sie verglich daher die jetzige Protestbewegung in der Türkei etwas euphorisch mit dem Ausbruch der 68er-Revolte in den USA, den sie wohl als junge Studentin miterlebt hat. Tatsächlich waren die meisten radikal linken Gruppen seit den 1970er Jahren in der Türkei streng hierarchische ML-Kaderparteien und huldigten nicht selten einem militaristischen Gewaltfetisch bis hin zum Märtyrerkult, was bis heute das Agieren von Gruppen wie der DHKP-C prägt. Allerdings gibt es auch schon seit längerem in der Türkei eine hochlebendige Szene aus Umwelt- und GenderaktivistInnen, Basisgruppen gegen Gentrifizierung, Stadtteilinitiativen gegen die Vertreibung ärmerer Bevölkerungsgruppen, anarchistischlibertären Netzwerken und nicht zuletzt auch eine breite subkulturelle Musik- und Kunstszene. Diese Basisgruppen kämpfen schon seit langem an den unterschiedlichsten Punkten gegen die brachiale Umstrukturierungs- und Kapitalisierungspolitik der AKP ebenso wie gegen die Zurichtung der Gesellschaft nach islamistischen Moralvorstellungen. Ohne diesen Aktivismus wäre die jetzige Protestwelle gar nicht möglich gewesen.

Spontan, aber geschichtsbewusst tt Bei Umfragen geben 45 Prozent der befragten Protestierenden an, sich nie zuvor an Demonstrationen beteiligt zu haben. Die Protestbewegung ist aber weder eine aus dem Nichts entstandene Revolte bislang unpolitischer urbaner Mittelschichtkids, noch geschichtslos. Das zeigt sich bereits am TaksimPlatz, der seit je ein umkämpftes politisches Symbol der Republik war. Zunächst war er ein Ort verordneter Manifestationen des kemalistischen Staates, ab den 1960er Jahren dann Zentrum von Kundgebungen der Linken. Dann kam das vermutlich von Kräften des »tiefen Staates« verübte Massaker des 1. Mai 1977, bei dem mindestens 34 DemonstrantInnen erschossen wurden. Es folgte ein Demonstrationsverbot für den 1. Mai, das linke Organisationen fast jedes Jahr zu brechen versuchten und das erst unter der AKP-Regierung gelockert wurde.


Tü r k e i Das bisherige Muster Parteifahnen schwingender und säuberlich nach Organisationen und Splittergruppen getrennter Aufmärsche wurde bei den aktuellen Protesten durchbrochen. Erst nach und nach schlossen sich den Protesten traditionelle linke Gruppen und die großen Gewerkschaftsverbände KESK und DISK an. Eine neue Qualität äußerte sich auch in den Protestformen nach der Räumung des Gezi-Camps. Der zunächst von einem einzelnen Künstler ausgehende »Stehende Mann« (Duran Adam) verbreitete sich vom TaksimPlatz aus als Protestform, die auf das Individu­ um statt auf Massenfetischismus setzt. Von historischem Bewusstsein zeugen auch Großdemonstrationen wie die alevitischer Organisationen anlässlich des 20. Jahrestages des Massakers von Sivas, an der sich die Taksim-Plattform beteiligte. Das Gedenken an das Pogrom gegen alevitische KünstlerInnen und Intellektuelle, dem am 2. Juli 1993 35 Menschen zum Opfer fielen, wurde mit heutigen Forderungen nach Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung von Minderheiten verbunden. Die spontane Großdemo der Protestbewegung in Istanbul, nachdem die Erschießung eines kurdischen Jugendlichen bei einer Protestaktion in Lice im fernen Südosten des Landes bekannt wurde, markiert ebenfalls ein neues Bewusstsein jenseits bisheriger Trennlinien. Zwar haben sich auch bisher linke Gruppen mit der kurdischen Sache solidarisiert, aber dass eine breite Bewegung die Polizeigewalt in den kurdischen Gebieten auch auf sich bezieht und entsprechend reagiert, ist neu. Es ist genau diese Überwindung der Spaltungen in ethnische Gruppen, in laizistische und religiöse Strömungen, »weiße« (für westliche, säkulare, urbane) und »schwarze« (für anatolische, provinzielle, religiöse) TürkInnen, die immer wieder als »Spirit of Gezi«2 beschrieben wird. Dieser sei, so wird von AktivistInnen betont, geprägt von gegenseitiger Empathie,

einer Kultur des Teilens und der Achtung unterschiedlicher individueller Subjektivitäten.

Soldaten von Freddy Mercury Beeindruckend ist der Humor, mit dem nicht nur auf die Angriffe der AKP-Regierung und der Polizei reagiert wird, sondern auch Auseinandersetzungen innerhalb der heterogenen Bewegung ausgetragen werden. Wenn etwa Jungkemalisten markig »Wir sind die Soldaten Atatürks« skandierten, wurde ihnen ein vielstimmiges »Wir sind die Soldaten von Niemandem« entgegengehalten. Die LGBTCommunity ergänzte: »Und wir sind die Soldaten von Freddy Mercury«. Die starke Präsenz der LGBT-Community innerhalb der Bewegung ist mit das deutlichste Zeichen für den emanzipatorischen Wandel. So war die diesjährige Gay-Pride in Istanbul mit 100.000 Beteiligten nicht nur die bislang mit Abstand größte, sondern zugleich eine weitere fröhliche Manifestation der Protestbewegung. Dass das eingangs erwähnte Hochzeitspaar im Gezi-Park unter dem Jubel von Tausenden öffentlich verkündete, kein Problem damit zu haben, sollte sich ein künftiges Kind von ihnen für eine homosexuelle Lebensweise entscheiden, dürfte einzigartig in der Geschichte der Türkei sein. Die von Anfang an in der Gezi-Bewegung aktiven »antikapitalistischen Muslime« und das von ihnen organisierte alternative Fastenbrechen in der Istiklalstraße stehen für einen anderen, entspannten Umgang mit Religion seitens der Gläubigen und für eine neue tolerante Säkularität seitens der Weltlichen in der Bewegung. Denn der kemalistische Laizismus war bislang vor allem eine staatsautoritäre Veranstaltung, die statt religionskritischer Aufklärung obrigkeitliche Gängelung und Instrumentalisierung des Religiösen hervorbrachte. Es gibt also viele Gründe, den antiautoritären Charakter der Protestbewegung als tt

deren zentrales emanzipatorisches Moment herauszustellen. Die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Veränderungen kündigten sich indes schon länger an. Das Ausmaß, das die Protestwelle im Juni annahm, überraschte aber nicht zuletzt die AkteurInnen selbst. Die Revolte markiert den Punkt, an dem eine bereits vorhandene neue gesellschaftliche Realität sich ihrer selbst bewusst wird und machtvoll auf der politischen Bühne erscheint. »Was die Türkei im Juni durchlaufen hat, war sicher keine Revolution im klassischen Sinn eines Regierungsumsturzes, aber definitiv eine Bewusstseinsrevolution«, fasst die Soziologin Ayça Alemdaroglu zusammen.3 Nun wird in den Parkforen ebenso wie in zahlreichen Artikeln überlegt, wie sich der »Gezi-Spirit« in weitere politische Aktivitäten umsetzen lässt. Gefordert wird etwa die Abschaffung der 10-Prozent-Klausel bei Parlamentswahlen, die bisher minoritäre Positionen ausschloss (was vor allem KurdInnen und Linke traf). Dabei taucht immer wieder auch die Idee einer Parteigründung auf. Was von der Protestbewegung des Juni 2013 bleiben wird, hängt aber davon ab, inwieweit es gelingt, den »Spirit of Gezi« in der Gesellschaft zu verankern.

Anmerkungen 1 Aslı Iğsız: Brand Turkey and the Gezi Protests. Authoritarianism, Law, and Neoliberalism. Jadaliyya. com, 12.07.2013 2 Siehe etwa İrem İnceoğlu: The Gezi spirit and the forums. opendemocracy.net, 17.07. 2013 3 Ayça Alemdaroglu: From Cynicism to Protest. Reflections on Youth and Politics in Turkey. Jadaliyya. com, 18.07.2013

Udo Wolter ist Dokumentar und freier Journalist in Berlin. Eine längere Fassung dieses Beitrags steht auf www.iz3w.org. tt

Am Rande des Taksim-Platzes: »Beug dich nicht« Foto: T. Neukum

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Editor i a l

Kaufend schreiten wir voran Als der Discounter Lidl 2006 faire Produkte einführte, war dies eine Lachnummer. Schon bald kursierten Witze wie: Wie ist es möglich, dass Lidl Produkte aus fairer Herstellung verkauft? Antwort: Die eigenen Angestellten dürfen die Waren nicht berühren. Lidl war seinerzeit Inbegriff für schlechte Arbeitsbedingungen: Schikanen gegen die Angestellten oder Unterdrückung gewerkschaftlicher Organisierung sorgten zunehmend für schlechte Presse. So wurde eine Imagekampagne fällig, zu der auch gehörte, einige vom Label Fairtrade zertifizierte Produkte in die Regale zu stellen. Und schon konnte Lidl werben (wenn auch nicht mit Blick auf die eigenen Angestellten, die zu dieser Zeit im Visier geheimer Videoüberwachung waren): »Fair genießen«. 2012 reichte Transfair an Lidl den »Fairtrade-Award« nach. Die Organisation Femnet kritisierte das: »Wir finden es wichtig, dass man nicht Schönfärberei betreiben kann, indem man vielleicht 12 Produkte sozialverträglich herstellt und die restlichen 800 oder 1.000 Produkte sind es eben nicht.«

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n den Lidl-Witz mussten wir denken, als kurz vor Redaktionsschluss die Werbebeilage »ALDI informiert…« ins Haus flatterte. Da wurde verkündet: »FAIRTRADE – Ehrlich. Menschlich. Kauf ich!« Aldi? Als Marktführer für Lebensmittel kommt Aldi in Deutschland regelmäßig die Aufgabe zu, die Milchpreise informell festzulegen. In der Vergangenheit sorgten die niedrigen Festlegungen stets für Existenzsorgen bei den Milchbauern. Ein fairer Milchpreis ist laut dem Bund Deutscher Milchviehhalter weit vom Aldipreis entfernt. Nichtsdestotrotz bebildert Aldi mit einem Bruchteil seines Sortiments sechs Seiten seiner Werbebroschüre. Gezeigt werden glückliche ProduzentInnen und KonsumentInnen von Fairtrade-zertifizierten Produkten der Aldi-Süd-Eigenmarke »One World«. Man kann sich den Aufschrei lebhaft vorstellen, den Aldi damit hervorruft: »Heuchelei! Mit dem ursprünglichen Fairen Handel hat das nichts mehr zu tun! Das ist Entpolitisierung!« Sogar viele Eine-Welt-Läden, die ursprünglich als einzige faire Produkte vertrieben, üben Selbstkritik – nicht zuletzt an der eigenen Entpolitisierung. »Früher« standen auch Bücher über den Welthandel in den Schaufenstern, heute nur noch Waren, heißt es da.

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ie grundlegende Kritik an der mangelnden Reichweite des Fair Trade begleitet ihn seit seiner Entstehung. Kann Handel in der Konkurrenzgesellschaft überhaupt fair

sein?, so die Gretchenfrage. Der Fokus auf kleinbäuerliche Produktion und die Freiwilligkeit des Preisaufschlages sorgen dafür, dass nur eine kleine Nische der Arbeitswelt berücksichtigt wird. Die Hinwendung zu Lidl und Aldi ist immerhin ein entgegen gesetzter Schritt hin zum Massenmarkt, wenn auch kein überzeugender. Ebenfalls neu in der Welt des Fairen Handels ist die zunehmende Zertifizierung von Produkten aus der kapitalistischen Plantagenproduktion. Indem sie den Bereich der Kleinproduktion verlässt, ignoriert sie immerhin nicht weiter, dass Landwirtschaft heute technisiert und arbeitsteilig ist. Der Verbleib des Fairen Handels in der wohltätigen Nische ist sicher keine dauerhafte Alternative. Bei aller Kritik am Fairen Handel muss eingeräumt werden, dass ihm einiges zu verdanken ist. Viele ProduzentInnen im globalen Süden, die es in diese Struktur hinein geschafft haben, leben in besseren Verhältnissen. Und die Kritik an der Ausbeutungsstruktur des Welthandels hat gerade durch den Fairen Handel einige Verbreitung erfahren. Der Aufklärungsarbeit ungezählter AktivistInnen in den Eine-Welt-Läden gebührt höchste Achtung. Außerdem findet man im uns nächstgelegenen Weltladen durchaus Literatur zur Welthandelskritik. Im Schaufenster steht die Ausgabe »Fair Trade« der Zeitschrift Peripherie: Kein Wohlfühlmagazin, sondern eine theoretisch-kritische Untersuchung des Ansatzes. Bei Veranstaltungen etwa über die katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie wird schnell die Frage nach dem eigenen Konsumverhalten laut. Als ob irgendein/e Konsument/in ArbeiterInnen selbst ausbeuten würde... Die Sache ist doch deutlich komplizierter und viel vermittelter. Dennoch wird der Faire Handel und die Kaufentscheidung des Einzelnen oft als die Möglichkeit pro­ klamiert, um die Welt besser zu machen. Hier ist der Faire Handel eine gängige Komplexitätsreduktion. Die Probleme der kapitalistischen Vergesellschaftung lassen sich sicher nicht allein an der Ladenkasse beheben. Die Überproduktion auf dem Kaffeemarkt beispielsweise verlängert sich auch in den fairen Sektor hinein. Die Regulierung der Überproduktion bedürfte staatlichen Handelns, anders geht es derzeit nicht. Und auch das Problem, dass die überflüssigen Güter überflüssige Arbeit produzieren und dies im Kapitalismus den überflüssigen Menschen schafft: Das lässt sich nicht mit Preispolitik beheben. Bis zur Auflösung dieses Paradoxons werden wir allerdings noch einige Tassen Kaffee »fair genießen«. die redaktion

Wir danken dem Agenda 21-Büro Freiburg und der Stiftung umverteilen! für eine, solidarische Welt für die Förderung des Themenschwerpunktes.

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Foto: R.Maro/version-foto.de

Inszenierte Verteilungsgerechtigkeit Zur politischen Ökonomie des Fairen Handels Der Faire Handel hat viele positive Effekte auf die KleinproduzentInnen im globalen Süden, die es hinter seinen Schutzwall geschafft haben. Die Struktur der Wertschöpfungsketten von Süd nach Nord wird davon jedoch kaum berührt. Und auch vor Ort bringt die Teilhabe an Fair Trade nicht allen Beteiligten immer Vorteile. von Hanns Wienold

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men u.a.) finden sich heute neben anderen Fairtrade-Label sind zu einem, wenn auch kleinen, Bestandteil der globalen Warenketten Qualitätsprodukten in den Regalen der Sugeworden. So werden auch die Zertifikate der permärkte. Um ihren Platz in den oberen Fairtrade Labelling OrgaPreissegmenten behaupnisations International ten zu können, müssen (FLO) zu Hebeln der Fairtrade-Produkte den Während der Kaffeekrise »Wertschöpfung«, vervom metropolitanen Han1989 schlug die Stunde gleichbar den anderen del gesetzten Standards des Fairen Handels Zertifikaten der sozialen an Qualität und Warenäsoder ökologischen Nachthetik (Formen, Farben, haltigkeit. Seit 2004 werKonsistenz) genügen. Zertifikate und Label sind einbezogen in die den die Zertifizierungen von der FLO-CERT GmbH vorgenommen. Die als Fairtrade zerKonkurrenz um Anteile in den »Wertschöptifizierten Waren (hauptsächlich Kaffee, aber fungsketten«, gerade auch unter Massenprozunehmend auch Tee, Bananen, Kakao, Bludukten wie Kaffee oder Tee. Jenseits der Stantt

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dardwaren werden durch Qualitätssignale und Herkunftsbezeichnungen Marktnischen eröffnet, etwa für Spezialitäten-Kaffees. Die Produktions- und Wertschöpfungsketten sind bei Lebensmitteln wie Kaffee oder Bananen relativ kurz und wenig komplex. FLO legt dabei den Akzent auf die Erhaltung stofflicher Identität als Merkmal der Produkte. Sie sollen hierdurch als Bindeglieder in den Beziehungen zwischen den ursprünglichen ProduzentInnen und den KonsumentInnen taugen. Wie auch bei anderen Waren werden an das stoffliche Element der Ware Qualitäten geheftet, aus denen »Werte« geschöpft werden.1 Auch das Fairtrade-Label wird zu einem Kennzeichen von Qualität, das nach einem höheren Preis ruft. Diese Differenzierung der Warenqualitäten in den Regalen von Rewe oder Karstadt wirkt ebenfalls differenzierend auf die ProduzentInnen im globalen Süden zurück. Außerdem agieren Marktführer wie Starbucks, Carrefour oder Tesco zunehmend mit eigenen Siegeln, um ihre beherrschende Position in den Produktketten bis hin zu den


Fa i r e r H a n d e l Entstehungsorten etwa der Kaffeebohne zu behaupten.

Garantierte Preise tt In den 1990er Jahren zielte Fairtrade zunächst auf kleinbäuerliche ProduzentInnen 2 vor allem im Kaffeesektor in Lateinamerika. Hauptvoraussetzung für die Teilnahme am zertifizierten Handel ist der Zusammenschluss zu Kooperativen mit demokratischen Strukturen und organisatorischem Potential. Die gleichfalls von FLO zertifizierten HandelspartnerInnen übernehmen unter dem FairtradeLabel deren Schutz vor den Wechselfällen des Marktes. Das geschieht unter anderem durch einen garantierten Mindestpreis, Prämienzahlungen und durch Vorfinanzierung der Ernten in Höhe von bis zu 60 Prozent. Damit werden die in den Kooperativen organisierten ProduzentInnen zunächst den Krallen von Zwischenhändlern und Weiterverarbeitern entrissen, die sich die ständige Geldknappheit von LandwirtInnen zunutze machen. Die Bildung von Kooperativen ist das unmittelbare Mittel zur Aufhebung der Zersplitterung der individuellen bäuerlichen ProduzentInnen, damit diese nicht, wie Sir Malcolm Darling 1927 über die Bauern des Punjab schrieb, von den Launen der Natur und den Wechselfällen des Marktes wie »fallendes Laub« verweht werden. Allein nach Beginn der Kaffeekrise 1989 mussten mehr als 800.000 mexikanische KaffeeproduzentInnen ihre Mini-Betriebe aufgeben. Dagegen beruhen die beobachteten positiven Effekte von Fair Trade für die LandwirtInnen unmittelbar auf der Organisationsmacht der Kooperativen, ihrer nationalen Zusammenschlüsse und der Marktmacht der internationalen Fair TradeOrganisationen, die bestimmte Standards und Preise garantieren können.

Auf dem Kaffee-Markt … Mit der Aufkündigung des Internationalen Kaffeeabkommens (IKA) im Jahr 1989 stürzten die Weltmarktpreise jäh und tief. Bis dahin konnten staatliche Institutionen (z.B. Instituto de Café in Mexiko), die nun neoliberalen Kahlschlägen zum Opfer fielen, große Teile der Ernte aufkaufen und temporär vom Markt nehmen, die Abnahmepreise stabilisieren und die ProduzentInnen beraten. Die Überproduktion, die durch das IKA seit den 1960er Jahren reguliert wurde, trat nun ungemildert zu Tage. Die Weltmarktpreise für exportfähigen »grünen« Kaffee fielen für kleinbäuerliche Betriebe, die neben Plantagen etwa die Hälfte des weltweit vermarkteten Kaffees produzieren, zeitweilig unter die monetären Entstehungskosten. Bei den im Rahmen von Fair Trade gehandelten ehemaligen Kolonialwaren handelt es sich zunächst um Massenwaren, die an der Oberfläche relativ homogen erscheinen. So tt

lange die vielen Millionen KaffeeproduzentInDeutlich wird jedoch, dass die Preisbildung nen für einen fernen Markt produzieren, könfür die 25 Millionen überwiegend kleinen nen sie sich nur als Mengenanpasser verhalten. KaffeeproduzentInnen wesentlich eine Frage Die großen ImporteurInnen aus »dem Norden« der Marktmacht ist. Diese tendiert außerhalb verstärken die Massenhaftigkeit des Produkts, der Kooperativen bei struktureller Überproin dem sie Standards setzen, die Voraussetzung duktion und fehlenden Einkommensalter­ für den Handel an Terminbörsen und damit nativen der häuslichen Arbeitskräfte zeitweise die Bildung der Weltmarktpreise sind. Die gegen Null. Großröstereien erfinden Mischungen mit stanZu den Zeiten, in denen der auch in Folge dardisiertem Geschmack, den sie mit Markenvon Spekulationen äußerst volatile Weltmarktnamen versehen. Damit besitzen die großen preis weit über dem vom Fairen Handel gaHersteller das »Geheimnis« des »guten Kafrantierten Mindestpreis liegt, besteht für fees«, mit dem sie ihre Marktanteile verteidieinzelne ProduzentInnen der Anreiz, sich von gen und die ProduzentInnen der Rohstoffe den Kooperativen und Fair Trade abzuwenden von den KonsumentInnen fern halten. und direkt an internationale AufkäuferInnen zu liefern. Aber auch in diesen Jahren finden Während kapitalistisch geführte Betriebe aus dem Markt gehen und ihr Kapital verlagern sich neue Kooperativen, die sich von Fair­trade können, müssen sich bäuerliche Betriebe in zertifizieren lassen und die zeigen, dass der der Krise durch Diversifizierung von Produkten Faire Handel ihnen mehr zu bieten hat, als und Einkommen über Wasser halten oder die garantierte Mindestpreise und Prämien. Krise gar »unterhungern«. Nach der Aufkündigung des Kaffeeabkommens fiel der Anteil … bei den KleinproduzentInnen … der Erzeugerländer am Kaffee-Endpreis um mehr als 30 Prozent auf unter 10 Prozent. Die tt Wichtiger als die Einkommenseffekte wird unmittelbaren ProduzentInnen selbst erhielten häufig die Bildung von Kooperativen bewerzwischen einem und sechs Prozent des Endtet. Diese sind, bei Wahrung der Selbständigproduktpreises – je nach Qualität und Verkeit der kleinbäuerlichen Haushalte, eine kaufsform. Voraussetzung der Zertifizierung durch FLO. Der Eintritt Vietnams in den gesättigten Die Zusammenschlüsse vermitteln soziale und Kaffeemarkt, gefördert auch durch die Deutökologische Produktionsstandards und sind sche Entwicklungshilfe, aber auch die Produkfür die demokratische Verwaltung der Bonustivitätsfortschritte der großen Plantagen in Zahlungen zuständig. Im Fair Trade werden die ProduzentInnen zudem im Umgang mit Brasilien verstärkten nach 1989 die Kaffee­krise. In diesem Kontext schlug internationalen Organisatioauch die Stunde des Fairen nen geschult. So fordern die Zertifizierungen sind Handels. Fairtrade (FLO) Kooperativen inzwischen den erzielt heute auch im Verihnen gebührenden Platz in Eintrittsbarrieren für gleich mit anderen Nachden Strukturen von FLO ein. die ProduzentInnen haltigkeitszertifikaten (Utz Nach vorliegenden Studien Kapeh, Rainforest Alliance) haben die Forderungen nach deutlich höhere Margen der Kleinproduzendemokratischen Strukturen jedoch bisher tInnen an der gesamten Wertschöpfung. So kaum die Stellung der Frauen verbessert. erreichte im Jahr 2000 in Italien der an tanEine Reihe von Untersuchungen und Evasanianische Kooperativen gezahlte Fair­tradeluationsstudien berichten über deutliche poPreisanteil für organischen Kaffee erstaunliche sitive Einkommenseffekte in den Kooperativen. 21 Prozent des Ladenpreises. Das entspricht In anderen sind die Einkommenseffekte, vor allem bei den Haushalten, weniger sichtbar den Anteilen der Produzenten-Länder wähund konsistent. Längst haben die Kaffeeprorend des IKA-Regimes in den 1970er und 80er Jahren. Benoit Daviron und Stefano Ponte duzentInnen in Mexiko und Mittelamerika resümieren in ihrem Buch The Coffee Paradox: ihre Landwirtschaften für den Eigenkonsum und lokale Märkte ergänzt und ihre Einkom»In diesem Sinne könnte man sagen, dass Fair Trade das Quotensystem als Garant einer faimen mit Lohnarbeit und Arbeitsmigration ren Distribution entlang der Kaffeekette ersetzt diversifiziert. Vielfach leben die Kleinproduhat«.3 Fair Trade schließt in diesem Sinne »auf zentInnen in einer Art Symbiose mit den GroZeit« die vom IKA hinterlassene »Fairnessßen, denen sie als Reservoir von Arbeitskräften Lücke«. Daviron und Ponte beeilen sich allerdienen. Ein selbständiger Bauer, Lohnarbeiter dings hinzuzufügen, dass dies nur für weniger und Händler sind häufig in einer Person verals ein Prozent des weltweit gehandelten eint. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Kaffees gilt. die Preise von Fair Trade einerseits nicht immer Die Bewertung von Wertschöpfungs- und Effekte auch auf das Haushalts- oder Pro-KopfGewinnanteilen entlang der Warenkette (AnEinkommen besitzen; und andererseits für bau, Import, Rösterei, Einzelhandel) steht bei sich allein die kleinbäuerliche Existenz nur Daviron und Ponte allerdings theoretisch auf begrenzt sichern können.4 schwankendem Boden. Es scheint hier so, als Die Überproduktion setzt sich auch in der könnten Anteile in der Bildung des Marktpreizertifizierten Kaffeeproduktion fort. Die Exses einfach hin und her geschoben werden. portkapazität der zertifizierten Betriebe überiz3w • September / Oktober 2013 q 338

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steigt die Nachfrage um ein Vielfaches. Oftgrößer werdender Mengen von Früchten wie mals müssen zertifizierte Kaffeekooperativen Bananen nur durch Plantagen erreicht werden bedeutende Teile ihrer Qualitäts-Produktion können. (bis zu 80 Prozent) an konventionelle InterDie Ausweitung der Zertifizierung auf PlanessentInnen abgeben.5 In größeren Koopetagen entfacht jedoch Konkurrenz zwischen rativen können die höheren Preise aus dem kleinbäuerlichen Kooperativen und GroßproFairen Handel daher auch zur QuersubventiduzentInnen. Dies führt zu einer Senkung der onierung von niedrigen Preisen für Massengarantierten Mindestpreise, wie Studien etwa ware dienen.6 Die ImporteurInnen von Fair zur Produktion von Roibos-Tee in Südafrika Trade Kaffee haben eine große Auswahl und zeigen.9 Um auch für Kaffee Plantagen zertikönnen die Qualität entsprechend hoch halfizieren zu können, hat sich die TransFair in ten. So können auch innerden USA kürzlich von halb des zertifizierten Sektors FLO getrennt.10 Die Preiskonkurrenz randständige Betriebe weiter Zertifizierte Plantagen, marginalisiert werden.7 die den garantierten arbeitet an der Senkung Mindestpreis und die Die Bildung von Markt­ der Standards nischen für spezielle KaffeePrämien als Unternehsorten ist nicht nur eine Stramen erhalten, verpflichtegie der Produktdifferenzierung der großen ten sich, bestimmte Arbeitsnormen und die Unternehmen. Auch die Zertifizierung durch geltenden Arbeitsrechte einzuhalten. Sie dürFair Trade- und Öko-Labels bildet Nischen fen etwa gewerkschaftliche Organisierung aus. Sie stellen einen gewissen Schutz der nicht verhindern oder müssen den Lohnabkleinen ProduzentInnen vor ruinöser Konkurhängigen zumindest den gesetzlichen Minrenz dar – sofern sie hinter ihrem Schutzwall destlohn zahlen. Eine Anhebung der Löhne stehen. Die Zugangsbedingungen zur Zertiauf das Niveau einer angemessenen Lebensfizierung sind zugleich Eintrittsbarrieren, umso haltung (living wage) ist intendiert, aber almehr, wenn neben den organisatorischen, lenfalls in Ansätzen sichtbar. agrarökologischen und ökonomischen Vorleistungen die Kosten der Zertifizierung selbst Fairness oder Gerechtigkeit? den Kooperativen auferlegt werden. Fair Trade hebt die über die Qualitätsanforderungen tt Zur Verwaltung der Prämien soll ein joint vermittelte Konkurrenz unter den Produzenbody aus gewählten VertreterInnen der BetInnen nicht auf. schäftigten und des Managements eingerichSo ist es ein zweischneidiges Schwert, tet werden.11 Nach vorliegenden Studien ist ausgewählte Gruppen zu schützen, den grodie Zusammensetzung dieser Gremien in ßen Rest jedoch der Gnade der Zwischenvielen Fällen undurchsichtig. Aufgrund der händlerInnen und den Wechselfällen der nicht aufgehobenen AbhängigkeitsverhältnisMärkte für Massenware zu überlassen. Sozise, zum Beispiel der Ansiedlung der Arbeiterale und ökonomische Differenzierung unter haushalte auf dem Gelände der Plantagen restriktiven Rahmenbedingungen kann nur oder der »Vererbung« von Arbeitsstellen über in der Selbstausbeutung eines Teils der Promehrere Generationen, ist eine Dominanz des duzentInnen enden, wenn sie ihren Status als Managements kaum zu vermeiden.12 Die ­Prämien sollen für Gemeinschaftsprojekte »Selbständige« verteidigen wollen. Eine von der französischen Fair Trade Plattform (PFCE) ­verwendet werden, etwa für die Wasserverin Auftrag gegebene Studie aus dem Jahre sorgung in den zur Plantage gehörigen Haus2010 zeigt sich daher beunruhigt über die halten. Studien berichten zwar über infrastrukbeobachtete Vertiefung von sozialen und turelle Verbesserungen, sie kommen aber ökonomischen Ungleichheiten im Umfeld der weitgehend nur den betriebseigenen ArbeiterInnen und kaum den vielen Wander- und zertifizierten Kooperativen.8 SaisonarbeiterInnen, zugute. Und auch bei Plantagen scheint die Zertifizierung für Fair … und auf der Plantage Trade kaum zur Stärkung der weiblichen Arbeitskräfte beizutragen. tt Nach der Logik des Fair Trade sollen die drastischen Ungleichheiten auf den WeltmärkDie von Fair Trade geforderte Solidarität ten durch marktkonforme Mittel behoben der KonsumentInnen mit den ProduzentInnen werden. Nachdem zunächst der Akzent des an den Ausgangspunkten der Warenketten Fairen Handels bei KleinproduzentInnen lag, wird durch den Cash-Nexus vermittelt, in dem sollen heute auch die entlohnten ArbeiterInim monetären Gegenstrom zu den exotischen nen auf kapitalistisch betriebenen Plantagen Waren ein Solidarbeitrag transportiert werden einbezogen werden. Die Zertifizierung von soll. Der Solidarpreis ist, der herrschenden Plantagen von Bananen, Tee oder Blumen Betriebsrechnung folgend, als »Kostpreis« (bislang nicht von Kaffee) folgt den Gesetzen konzipiert. Er soll die monetären Kosten eines der Ausweitung von Marktanteilen und der nachhaltigen Produktionsprozesses decken damit verbundenen Produktstandardisierung. und dem Produzentenhaushalt ein an den So wird argumentiert, dass Kontinuität und örtlichen Lebenshaltungskosten orientiertes Einhaltung von Standards bei der Lieferung ausreichendes Auskommen sichern. iz3w • September / Oktober 2013 q 338

Hierin liegt, wie Marx in Bezug auf die industriellen Löhne sagte, ein besonderes »moralisches Moment«, das die Ware Arbeitskraft von den anderen Waren unterscheidet. Der Faire Handel will ein »würdiges Auskommen« über einen fairen Preis absichern. Ob und in welchem Umfang der Garantiepreis (plus Prämie) für die ProduzentInnen jedoch zu einem living wage beiträgt, hängt entscheidend davon ab, welchen Teil ihrer Produktion sie an Fair Trade verkaufen können und welchen Anteil die zertifizierten Produkte am Haushaltseinkommen besitzen. In vielen Bereichen müssen zertifizierte Betriebe ihre Produkte ja weiterhin auch konventionell vermarkten. Statt eines Tausches von »Äquivalenten« nach vom Kapital gesetzten ungleichen Bedingungen wird ein Stück Verteilungsgerechtigkeit inszeniert. Nimmt man das aristotelische Konzept der »Gerechtigkeit«, nach dem jede(r) das erhält, was ihm oder ihr zukommt, dann hat die Tauschgleichung nicht zwei, sondern vier Terme. Auf Seiten der selbständigen bäuerlichen ProduzentInnen soll ein »gerechter Lohn« für eine »gerechte Arbeit« gezahlt werden.13 Auf der Gegenseite spendiert sich der Konsument für einen Aufpreis mit einer Tasse zertifizierten Kaffees bei Starbucks ein gutes Gefühl. Allerdings muss ihm verborgen bleiben, welcher Anteil am Preis des Kaffees der Fairness gegenüber den ProduzentInnen am anderen Ende der Warenkette geschuldet ist. Indem beide Seiten das erhalten, was ihnen auf Grund ihrer »Würde« (Aristoteles) zusteht, bestätigen sie sich gegenseitig in ihrem Status. Dass diese »Ökonomie der Anerkennung« Haushalte vielfach im täglichen Kampf gegen den drohenden Verlust der Existenzgrundlagen unterstützen kann, steht außer Frage. Ob sie die Borniertheit der Verhältnisse aufzulösen vermag, ist jedoch eine andere Sache. Statt sie zu revolutionieren, muss sie sich bei systemischer Marktkonkurrenz und struktureller Überproduktion damit begnügen, sie weiter zu differenzieren. Damit läuft sie Gefahr, bestehende Ungleichheiten zu vertiefen.

Äußere und innere Schranken 2010 umfasste die Zertifizierung von FLO 13 Produkte von KleinproduzentInnen wie Kaffee oder Gold, sowie sechs Produktsorten von Tee bis zu Sportbällen, die von LohnarbeiterInnen in Plantagen und Betrieben hergestellt werden. In den Fairen Handel gelangen damit Produkte von rund 935.000 selbständigen KleinproduzentInnen und zirka 110.000 Lohnarbeitskräften.14 In 50 Ländern betreuten 100 ZertifiziererInnen und KontrolleurInnen etwa 900 zertifizierte Produ­ zentenorganisationen und Plantagen.15 Das Netzwerk aus Siegel- und Handelsorganisationen ist beeindruckend, die Menge an Standards und Regularien überwältigend. tt


Überproduktion mit oder ohne Zertifikat? Arabica-Kaffee in Yirgacheffee/Äthiopien

Der Zugang zu Fair Trade ist trotz Überproduktion prinzipiell offen, sofern die Betriebe die Anforderungen erfüllen. Die Nischen der zertifizierten Produktion werden durch die als Eintrittsbarrieren wirkenden sozialen und materiellen Standards geschützt. Die Aufteilung der Verbrauchermärkte in Massenprodukte und Qualitätsprodukte begrenzt bei stagnierender Nachfrage zugleich den Raum, in dem Fair Trade sich ausbreiten kann. Die Preiskonkurrenz arbeitet dabei an der Senkung der Standards und der Schleifung der Nischen. Fair Trade folgt John Locke, für den Eigentum sich bildet, in dem sich Arbeit und Stoffe (Erde) mischen. So scheinen in der Warenkette identische Stoffe die Beziehung von (Ur) ProduzentIn und KonsumentIn zu begründen. Doch Arbeit mischt sich nicht mit Erde oder Stoffen, sondern mit Arbeit. Entlang der Kaffee- oder Teekette verbinden sich die Arbeit der Feldarbeiterinnen mit der der Packer, die der Lastwagenfahrer mit der der Kantinen­ köchinnen, die der Designerin mit jener der Kassiererin bei Rewe. Sie alle erwarten auch Fairness und kämpfen um sie. Die ursprüngliche Begrenzung von Fair Trade auf kleinbäuerliche Kooperativen scheint den »Marktkräften« nicht standzuhalten und ist schwer zu rechtfertigen. Der Versuch der Herstellung fairer, solidarischer Beziehungen mittels von Waren-Geld-Beziehungen endet an den Zahlungsfähigkeiten. Wie es nach Marx

Foto: R.Maro/version-foto.de

ein Pech ist Arbeiter zu sein, ist es auch ein Pech Kleinbauer zu sein. Statt sich einzurichten gilt es daher, die Verhältnisse umzuwälzen.

Anmerkungen 1 Mit Susanna Freidberg könnte man von einer »doppelten Fetischisierung« der Waren im Fair Trade sprechen. 2 FLO meint damit Betriebe, die überwiegend mit Hilfe von dem Haushalt angehörenden Arbeitskräften produzieren, aber auch LohnarbeiterInnen und Saisonkräfte beschäftigen können. 3 B. Daviron, S.Ponte: The Coffee Paradox. London & New York, 2005, S. 219 4 V.E.Méndez et al.: Effects of Fair Trade and organic certifications on small-scale coffee farmer households in Central America and Mexico, Renewable Agriculture and Food Systems 25 (3), 2010, S. 236 – 251 5 Vgl. D. Murray./L.T.Raynolds/ P.L. Taylor, The Future of Fair Trade coffee: dilemmas facing Latin America´s small-scale producers. Development in Practice, Vol.16 (2006), 179 – 192 6 Vgl. C.M. Bacon, V.E. Méndez, J.A. Fox, Cultivating Sustainable Coffee : Persistent Paradoxes, in : C.M. Bacon et al. (Hg.), Confronting the Coffee Crisis. Fair Trade. Sustainable Livelihoods and Ecosystems in Mexico and Central America, Cambridge – London 2008, S. 337 – 372 7 Vgl. Daviron/Ponte, S. 189 8 I. Vagneron, S. Roquigny: What do we really know about the impact of fair trade? PFCE, Paris, January 2011

9 M. Tech: Kommerzialisierung des Fairen Handels. In: Peripherie 128, 2012, S. 401 10 Zur Debatte D. Jaffee, Weak Coffee: Certification and Co-Optation in the Fair Trade Movement. Social Problems, 59 (1), 2012, S. 94 – 116 11 Vgl. Fairtrade Foundation. Unpeeling the banana trade. February 2009 (www.fairtrade.org.uk) 12 Vgl. R. Makita: Fair Trade Certification. The Case of Tea Plantation Workers in India Development Policy Review, 2012, 30 (1), S. 87 – 107 13 Den Lohnarbeitskräften auf den Plantagen bleibt zunächst nur der gesetzliche Mindestlohn. Zudem gibt es ungezählte SaisonarbeiterInnen, derer sich auch die bäuerliche Kaffeelandwirtschaft bedient. Vgl. E. Holt-Giménez et al: Fair to the Last Drop. Institute for Food and Devlopment Policy, Oakland, Development Report Nr. 17, Nov. 2007 14 Allein im Kaffeesektor gibt es etwa 25 Millionen Betriebe und 14 Millionen Arbeitskräfte auf Plan­ tagen. 15 Alle Zahlen nach FLO bei K. Elliott: Is my Fair Trade Coffee Really Fair? Center for Global Development Policy Paper 017, Dez. 2012

Hanns Wienold ist Autor des Buches »­ Leben und Sterben auf dem Lande. Kleinbauern in Indien und Brasilien« (Westfälisches Dampfboot, Münster 2007). Die Langfassung des Artikels mit einer Literaturliste steht auf www.iz3w.org. tt

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ISSN 1614-0095

t iz3w – informationszentrum 3. welt www.iz3w.org

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Machen Sie mit – Plantagenarbeiter/innen und Kleinbauern brauchen ihre Unterstützung! www.makefruitfair.de Eine Kampagne von BanaFair und Partnerorganisationen in Europa und Übersee


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